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2 Wahlen und Wahlkampf

2.1.5 Wahlverhalten in Österreich

In den 1950er und 60er Jahren war die Bindung an eine Partei in Österreich sehr stabil ausgeprägt: Rund 75 Prozent der Wahlberechtigten war klar einer Partei zurechenbar und die Volatilität war im Gegensatz schwach ausgeprägt. Die damaligen beiden Traditionsparteien - die Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ) und Österreichische Volkspartei (ÖVP) - konzentrierten sich in den jeweiligen Wahlkämpfen, ganz im Sinne der Parteiidentifikation, darauf, ihre jeweilige Kernwählerschichten zu mobilisieren und weniger auf den Wettbewerb zwischen den Parteien. Die Situation änderte sich mit den 1970er Jahren:

Mit dem Aufbrechen der traditionellen Sozialmilieus kam es unter anderem zu einem Durchbrechen der stabilen Parteibindungen und einer erhöhten Mobilität der WählerInnen.

Dieser Wandel der Sozialmilieus wurde ausgelöst durch einen Rückgang der Agrarquote, einer Steigerung der regionalen und beruflichen Mobilität, einer Industrialisierung und Urbanisierung der ländlichen Regionen sowie der Modernisierung der Produktionsstrukturen.

Letzteres führte zu einem Rückgang der Industrie-ArbeiterInnen sowie des Einzelhandels und der Kleingewerbebetriebe. Der Dienstleistungssektor und der öffentliche Sektor wuchsen an, genauso wie die neue Mittelschicht an Angestellten. Das alles veränderte die soziale

Wählerbasis und führte letztendlich zu einer Reduktion der traditionellen Parteiloyalitäten und ehemals stabilen Wähler-Partei-Bindungen (Plasser, Ulram, & Seeber, 2007, S. 168).

Im Anschluss daran ist in den späten siebziger Jahren bis Mitte der achtziger Jahre eine generelle Politikverdrossenheit zu erkennen, die sich nachfolgend in einer Wählerprotestkultur festigt. Zum einen ist der Grund in einer mangelhaften Unterscheidbarkeit der beiden Regierungsparteien der großen Koalition, also ÖVP und SPÖ, zu suchen. Zum anderen im gezielten Verstärken der latenten Protesthaltung der Wählerschaft, vor allem durch die rechtspopulistische Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ).

Diese Oppositionspartei setzt dabei darauf, neue Spannungslinien in der Gesellschaft zu polarisieren und ressentimentgeladene Themen wie Migration oder Kriminalität zu zuspitzen, was auch als strategisches Affekt-Management bezeichnet werden kann. Es kommt damit zu einem fortschreitenden Zerfall der traditionellen Parteibindungen, einer erhöhten Wechselwählerbereitschaft und auch zu einer substantiellen Schwächung der Kernwählerschichten der beiden Traditionsparteien ÖVP und SPÖ. War die Parteiidentifikation bis Ende der 90er Jahre auf 16 Prozent gesunken, steigt sie interessanterweise - ausgelöst durch Polarisierung, Blockbildung und oppositionelle Reflexe - ab 2000 wieder und erreicht bei den Nationalratswahlen 2006 immerhin 26 Prozent.

Diese konzentriert sich vor allem auf parteitreue StammwählerInnen, „während sich die Wechselbereitschaft parteiungebundener Wählerschichten weiter erhöht.“ (Plasser u. a., 2007, S. 169).

Im Gegensatz zur Parteibindung liegt die Parteiidentifikation aktuell bei rund 50 Prozent. Das liegt weniger an der Restabilisierung der Bindung zu den beiden Traditionsparteien ÖVP und SPÖ, sondern mehr an der wahlpolitischen Attraktivität der dritt- und viertstärksten Parteien, also FPÖ und Grüne bzw. der Liberalen Partei. Diese Restabilisierung hat sich nicht automatisch auf das Wahlverhalten übertragen: „Der Prozentanteil der WählerInnen und Wähler, die bei Wahlen ihrer Partei treu bleiben, selbst wenn sie mit einzelnen Positionen oder Personen unzufrieden sind, beträgt nur knapp 30 Prozent.“ (Plasser u. a., 2007, S. 170).

Der Zerfall der traditionellen Parteibindungen ist am stärksten bei den Jung-WählerInnen und unter der Arbeiterschaft festzustellen. Im Gegensatz dazu ist die Bereitschaft zur

gefühlsmäßigen Bindung an eine bestimmte Partei unter Landwirten, Selbstständigen und Angehörigen der älteren Wählergeneration unverändert ausgeprägt. Die „Entstrukturierung der Wählerschaft“ wurde zusätzlich durch den Aufstieg der Massenmedien als Hauptträger der politischen Kommunikation beschleunigt (Plasser u. a., 2007, S. 171).

Was bedeuten diese Erkenntnisse für die Durchführung von Wahlkämpfen? Dem sozialpsychologischen Ansatz der Michigan School entsprechend, nämlich dass Parteiidentifikation stabiler ist als Sachfragen- und Kandidatenorientierung, müssen die der Parteiidentifikation wiedersprechenden Informationen umso schwerwiegender sein, um einen Parteiwechsel zur Folge zu haben. Dies gilt für 30 Prozent der österreichischen WählerInnen, die eben eine starke Parteibindung aufweisen. Im Umkehrschluss sind 70 Prozent der WählerInnen durch Themen oder Personen zu gewinnen.

Eine Folge daraus ist, dass die Bedeutung von Wahlkämpfen in Österreich steigt, denn die Parteien können sich nicht mehr ausschließlich auf die StammwählerInnen verlassen. Sie müssen versuchen, neue Wählerschichten anzusprechen (Plasser & Ulram, 2006, S. 550 ff).

Damit gewinnen Sachthemen und KandidatInnen im Wahlkampf an Bedeutung. Beide Faktoren sind zwar, und damit schließen sich Plasser u. a. (2006, S. 187) den Erkenntnissen aus dem ‚New American Voter‘ an, der Einflussgröße ‚Parteiidentifikation‘ nachgereiht, wenn diese jedoch in der Wählerschaft an Relevanz verliert, gewinnen Sachfragen- und Kandidatenorientierung als nächstgereihte Größe an Einfluss.

„Damit Themenorientierung tatsächlich das Wahlverhalten beeinflussen können, müssen die Wählerinnen und Wähler aktuelle Sach- und Streitfragen (issues) der politischen Auseinandersetzung überhaupt zur Kenntnis nehmen, ihnen eine gewisse Bedeutung zuschreiben und sich für die Sachfragen eine eigene Meinung bilden“. (Plasser u. a., 2007, S.

177). Auch müssen sie die Unterschiede hinsichtlich Leistungs- und Lösungskompetenz und die Positionen bei kontroversen Themen zwischen den konkurrierenden Parteien erkennen und einschätzen können. Das stellt hohe Anforderungen an die WählerInnen dar, die allerdings laut Plasser u. a. (2007, S. 177) von den österreichischen WählerInnen etwa bei der Nationalratswahl 2006 erfüllt wurden.

Die Orientierung an Sachthemen ist einer der Grundpfeiler des Rational Choice-Ansatzes, um das Wahlverhalten zu erklären. Kern des Ansatzes ist es, den Nutzen für den einzelnen Wähler zu maximieren und daher den Aufwand bzw. die Kosten möglichst gering zu halten. Im konkreten Fall der Sachthemen bedeutet dies, dass die Informationsaufwände für die WählerInnen möglichst gering sein sollten. Dies gelingt zum einen dadurch, dass Parteien entlang ihrer Partei-Ideologie operieren und der rationale Wähler im Vertrauen auf die Stringenz bei der Partei-Argumentation, die Themen einschätzen kann. Zum anderen – und das wurde im ursprünglichen theoretischen Rational Choice-Ansatz von Downs (1968) nicht thematisiert – beschaffen sich die WählerInnen im Wahlkampf die Informationen zu bestimmten Sachthemen selbst. Diese müssen, ganz im Sinne der Reduktion von Aufwänden, möglichst zeiteffizient verfügbar sein. Für Parteien heißt das, Themen möglichst so aufzubereiten, dass sie von den WählerInnen rasch im jeweils ausreichenden Detaillierungsgrad erfasst werden können.

Scheint in der empirischen Wahlforschung für Österreich hinsichtlich des Stellenwerts der Themenorientierung beim Wahlverhalten relative Einigkeit zu bestehen (Plasser u. a., 2007, S.

191), so stellt sich das Bild mit Blick auf die Kandidatenorientierung differenzierter dar. „Ob sich der Anteil der Persönlichkeitswähler in den letzten Jahren tatsächlich erhöht und Persönlichkeitseigenschaften der Kandidaten für die Wählerentscheidung an Bedeutung gewonnen haben, wird in der Wahlforschung kontrovers diskutiert.“ (Plasser u. a., 2007, S.

187). Plasser u. a. warnen 2007 noch vor einer Überschätzung der kandidatorientierten Wahlmotive.

Auch Dolezal u. a. (Dolezal, Eberl, Jacobi, & Zeglovits, 2014, S. 85) kommen in ihrer Studie zur Rolle der SpitzenkandidatInnen im Nationalratswahlkampf 2013 zur Erkenntnis, dass sich die WählerInnen wenig an den SpitzenkandidatInnen der wahlkämpfenden Parteien orientierten, denn keine der KandidatInnen verfüge über einen eindeutigen Bonus im Vergleich zur jeweiligen Partei. „Die Werte der hypothetischen Frage zur Direktwahl der Regierungsspitze wiesen insgesamt nur geringe Abweichungen von den Parteipräferenzen auf.“ (Dolezal u. a., 2014, S. 85). Hingegen nehmen die SpitzenkandidatInnen im angesprochenen Nationalratswahlkampf 2013 in der Wahlkampfkommunikation der Parteien - wie auch in der Medienberichterstattung - eine sehr zentrale Rolle ein (Dolezal u. a., 2014, S. 85).

Wenn Schoen und Weins (2014), wie oben ausgeführt (Kapitel 2.1.4) die Möglichkeit einer – zumindest kurzfristig – stärkeren Bedeutung der KandidatInnen bei der Wahlentscheidung in Betracht ziehen, so liefert die österreichische Nationalratswahl 2017 ein Indiz. Die neue ÖVP mit Spitzenkandidat Sebastian Kurz ging aus der Nationalratswahl 2017 mit 31,5 Prozent der Stimmen als klarer Sieger hervor. Für die ÖVP-WählerInnen stand der Spitzenkandidat als Wahlmotiv klar im Vordergrund. So gaben 42 Prozent der Befragten als Hauptgrund für ihre Wahlentscheidung den Spitzenkandiaten an. Im Vergleich dazu waren die inhaltlichen Standpunkte der Partei nur für 15 Prozent wahlentscheidend. Bei allen anderen Parteien lagen die Werte der SpitzenkandidatInnen als Wahlmotiv deutlich darunter (ISA/SORA, 2019). Ob es sich dabei um einen langanhaltenden Trend handelt, bleibt abzuwarten.

Sowohl Sachthemen- als auch Kandidatenorientierung haben vor dem Hintergrund geänderter Wählerstrukturen seit den fünfziger Jahren in Österreich stetig an Bedeutung gewonnen. Damit in engem Zusammenhang steht die Parteienlandschaft in Österreich.

2.1.5.1 Parteienlandschaft

In der österreichischen Parteienlandschaft haben die Parteien neben den typischen Aufgaben wie Interessensartikulation und -vertretung im staatlichen Bereich auch eine „proportionale Aufteilung und Strukturierung der Gesellschaft übernommen“ (Pelinka & Rosenberger, 2003, S. 144). In Österreich sprechen wir von drei weltanschaulichen Lagerparteien:

• Sozialdemokratische Partei Österreichs – SPÖ

• Österreichische Volkspartei – ÖVP

• Freiheitliche Partei Österreichs – FPÖ

Will man die Entwicklung der österreichischen Parteienlandschaft beschreiben, so ist seit den fünfziger und sechziger Jahren eine starke Wandlung festzustellen. Konnte sie bis Mitte der neunziger Jahre als „hinkendes Dreierparteiensystem“ von SPÖ, ÖVP und FPÖ bezeichnet werden, bewegte es sich mit den neuen und neuformierten Akteuren (GRÜNE, FPÖ und LIF) zwischen 1986 und 1999 zu einem „polarisierten Pluralismus“. Wineroither und Kitschelt betrachten diese Entwicklung als einen Übergang von einem „hyperstabilen Parteiensystem mit sozialdemokratischer Hegemonie (1979) zu einem dekonzentrierten Vielparteiensystem“

Die SPÖ verlor mit den großen gesellschaftlichen Umwälzungen in den 1990er Jahren große Teile ihrer Wählerbasis, nämlich die ArbeiterInnen. Der Rückgang der ÖVP-StammwählerInnen hängt mit den sozio-ökonomischen Veränderungen zusammen. Die Gründung der Partei ‚Die Grünen‘ lässt sich mit „einem sozialen und ökonomisch inspirierten Wertewandel“ erklären. „Die nachindustrielle Gesellschaft (…) mit höherem Lebensstandard für breite Bevölkerungsgruppen und steigenden Bildungsniveaus führt zu modifizierten Ansprüchen an gesellschaftliches und politisches Zusammenleben.“ Dabei werden ökologische Fragen sowie Bürgerrechte und Zivilgesellschaft wichtiger (Pelinka &

Rosenberger, 2003, S. 146–147).

Ein tieferer Blick in die gesellschaftlichen Umwälzungen ab den 50er Jahren zeigt, dass bis Ende der 80er Jahre in Österreich eine einfache und stabile Struktur entlang der folgenden drei Cleavages3 galt: Kapital und Arbeit, Kirche und Staat sowie Stadt und Land. Dabei nahmen die beiden Traditionsparteien SPÖ und ÖVP jeweils die gegenteilige Seite ein. Während die SPÖ die Arbeiterklasse sowie die weltlich, städtischen WählerInnen repräsentierte, stand die ÖVP für WählerInnen mit landwirtschaftlichen und unternehmerischen Interessen und wurde von gläubigen (katholischen) meist am Land lebenden WählerInnen gewählt. Der Aufstieg der FPÖ ab dem Jahr 1986 führte vor Augen, dass diese sozialstrukturellen Konfliktlinien an Bedeutung hinsichtlich der Strukturierung des Parteienwettbewerbs eingebüßt haben (Aichholzer, Kritzinger, Wagner, & Zeglovits, 2014, S. 117).

Lange Zeit war unklar, wie die Zustimmungsraten zur FPÖ vor dem Hintergrund dieser traditionellen sozio-strukturellen Einteilung einzuordnen sind. Aichholzer u. a. (Aichholzer, Kritzinger, Wagner, u. a., 2014, S. 130) fanden in ihrer Studie 2014 heraus, dass der Zuspruch zur FPÖ in direktem Zusammenhang mit der Einstellung der WählerInnen zu den neuen politischen Bruchlinien entlang der Themen Immigration, Europäische Integration und der Unzufriedenheit mit dem politischen System ganz generell steht. Bei diesen Issues unterscheiden sich FPÖ-WählerInnen klar von den WählerInnen anderer Parteien. Während für die beiden Traditions-Parteien SPÖ und ÖVP der Wettkampf um WählerInnen immer noch entlang der bekannten sozialen Trennlinien verläuft, kann der Erfolg der FPÖ nicht anhand

3 Erläuterungen zu den Cleavages finden sich in Kapitel 2.1.1

dieser erklärt werden. Eine andere Art der politischen Polarisierung entlang der obenstehend beschriebenen Issues hat sich entwickelt und liefert die Basis für den Wahlerfolg der FPÖ und den Abstieg der beiden Traditionsparteien SPÖ und ÖVP. Diese neuen politischen Überlegungen sind vor allem für die WählerInnen, die vormals die sozial-strukturelle Basis der SPÖ darstellten, von großer Bedeutung. Künftig könnten sich demzufolge Wahlkämpfe zwischen den Traditionsparteien auf der einen Seite und den Parteien, die rund um die neuen politischen Konfliktlinien mobilisieren (wie die FPÖ), auf der anderen Seite, strukturieren (Aichholzer, Kritzinger, Wagner, u. a., 2014, S. 131).

Damit haben die auf Lipset und Rokkan (Lipset & Rokkan, 1967) zurückgehenden Grundsätze (Kapitel 2.1.1.2) zu den Cleavages zwar noch ihre Berechtigung, gleichwohl zeigt sich in Österreich eine massive Verschiebung der politischen Trennlinien.

Diese Verschiebung der Konfliktlinien diagnostizieren auch Pelinka und Rosenberger (2003), indem sie zum Schluss kommen, dass die historischen parteiformierenden Konfliktlinien Klasse, Religion, Region und Nation waren, aktuell liege die Unterscheidung zwischen den Parteien jedoch zwischen den Trennlinien Ökologie und Ökonomie, Materialismus und Postmaterialismus bzw. Inklusion und Exklusion und dies besonders entlang der Staatsbürgerschaft (Pelinka & Rosenberger, 2003, S. 144).

Wie schon eingangs angesprochen, sind es die Parteien, die die RepräsentantInnen der Bevölkerung stellen und demnach von dieser gewählt werden wollen. Das Wahlverhalten insgesamt und in Österreich im Speziellen zu kennen, ist eine wichtige Voraussetzung für die Parteien zur Entwicklung von Wahlkampfstrategien. Geht es um EU-Wahlkampagnen, wie dies in dieser Arbeit der Fall ist, so braucht es einen weiteren Erkenntnisbezug, da es sich hier um eine Wahl der anderen Art handle (Holtz-Bacha, 2016, S. 4). Das Modell der first-and second-order elections-Theorie liefert dazu den nötigen wissenschaftlichen Unterbau.