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Funktionen des Dialekts im Wandel

3 Methodische Vorüberlegungen zur Untersuchung der Minderheitensprache

3.2 Funktionen des Dialekts im Wandel

Im Hintergrund der Dynamik in der Minderheitensprache stehen die Sprecher mit ihren spezifischen sprachlichen Dispositionen, eingebettet in ihr soziohistorisches Umfeld. So ist in der Entwicklungsgeschichte dieser Sprachminderheit der Wech-sel von den ursprünglich gebrauchten Ortsdialekten auf andere Varietäten – beson-ders seit den 1950er Jahren des 20. Jahrhunderts im Soge der europaweit erfolgten Industriealisierung und Mobilität – als ein natürlicher Prozess zu sehen. So ein Wandel vollzieht sich nie abrupt: Es existieren eine gewisse Zeit lang Ortsdialekt und andere im Laufe des Assimiliationsprozesses entstandenen kontaktinduzierten Varietäten nebeneinander, sie werden mit unterschiedlicher Gewichtung und alters-abhängig in der täglichen Kommunikation gebraucht.117

Die genannten externen Ursachen (Industriealisierung, Mobilität etc.) kann man in Bezug auf die Minderheitenkonstellation als von grundauf veränderte oder gar neue Bedingungen der Kommunikation dieser Sprachgemeinschaft bezeichnen.

Die veränderten Kommunikationsbedingungen und -umstände induzieren auch eine veränderte Verhaltensweise der Sprecher, die sich den veränderten Umständen anpassen und diese für ihr eigenes Umfeld adaptieren müssen.118 Teil dieses Wan-delprozesses ist jedoch auch, dass sich die Aufgaben und Funktionen der bisher verwendeten Kodes ändern, es kommt zu einem Funktionswandel der Sprache(n)/

Varietäten. So werden unter den neuen Bedingungen und

Kommunikationsum-115 Bezeichnungen in DORIANs Modell (1981) zum Grad der Sprachbeherrschung von Sprechern in einer Abbauphase treffen hier zu, die mit den selbstsprechenden Termini wie “fluent speaker”

(älteste Generation), “younger fluent speaker” (zweite Generation), “semi speaker” (dritte),

“passive bilinguals” (vierte Generation) gekennzeichnet sind. Wohlgemerkt: Der Verlust der linguistischen Kompetenz muss nicht unbedingt mit dem Verschwinden der soziokommunika-tiven Kompetenz einhergehen (MATTHEIER 2003, 22).

116 Vgl. dazu die Synchronisierunsgsakte auf Mikro-, Meso- und Makroebene von SCHMIDT (2005, 18–20).

117 Die Sprachverwendung ist immer an bestimmte redekonstellative Bedingungen gebunden, de-ren Ergebnisse z. B. in einer Diglossie ihde-ren Ausdruck finden.

118 Vgl. dazu den Begriff der erweiterten Sprachkompetenz (Kap. 2.2), in der auch ein Bündel von Handlungskompetenzen integriert ist.

Ein Konzept der Sprechergenerationen

ständen die Varietäten umstrukturiert, weil sie z. B. die gewohnten Funktionen nicht mehr erfüllen. Wandelt sich nun das Funktionsgefüge eines Kodes, so dass gewisse Funktionen überflüssig werden, muss ein anderer Kode diese Funktionen übernehmen, um die grundlegenden Interaktionen in der Sprachgemeinschaft zu gewährleisten.119

HUTTERER konstatierte bereits in den 1960er Jahren die eingeschränkte Rolle der deutschen Dialekte im urbanen Umfeld:

In den Städten ist das Deutsch, das schon um die Jahrhundertwende nur Haus- bzw. Umgangs-sprache war, bereits nur Alters- und ErinnerungsUmgangs-sprache. Ein ähnliches Bild bieten die meisten Streusiedlungen und jene Mundarten der Randzonen der ungarndeutschen Siedlungsräume, wo sich die frühere Parität gerade durch die zunehmende Notwendigkeit der hochsprachli-chen Überdachung immer mehr zugunsten der Sprache der ungarishochsprachli-chen Bevölkerung verschob (HUTTERER 1961).

In der verstrichenen Zeit hat sich die Situation dahingehend geändert, dass die obige Feststellung selbst schon für die früher noch dialektfesten Siedlungen in Südungarn (Schwäbische Türkei) zutrifft.

Der aus den Sozialwissenschaften entlehnte Begriff ‚Funktion‘ bezieht sich auf die Leistung eines Systems, das zum Fortbestehen des Ganzen beitragen muss.

Die Sprachwissenschaft im 20. Jahrhundert hat sich dem schwierigen Thema der Sprachfunktionen nicht besonders zugewandt und es eher eliminiert.120

EHLICH (2007, 252) unterscheidet drei große Funktionsbereiche der Sprache:

(a) den interaktionalen Funktionsbereich, in dem Sprechende ihre Intentionen in der Interaktion verwirklichen wollen,

(b) den erkenntnisbezogenen (gnoseologischen) Funktionsbereich, in dem es vor-rangig um Strukturen im Lexikon geht,

(c) den kommunitären Funktionsbereich, in dem sich die Interaktanten verständi-gen und ihre Gedanken austauschen.

Sprachfunktionen sind keine rein linguistische Frage, sie können – je nach For-schungsinteresse und Untersuchungszweck – genauso eine kommunikationstheo-retische, soziologische, psycholinguistische oder pragmatische Fragestellung sein.

In der Linguistik wurde der strukturell-funktionale Begriff auf die Beschäftigung mit Sprache übernommen, die ein aus Elementen bestehendes System darstellt, das sprachimmanente und externe Funktionen hat. Sprachimmanente Funktionen untersuchen die Entsprechungen von Form und Leistung im Bereich der gramma-tischen Kategorien, die externen Sprachfunktionen fokussieren auf die Interde-pendenz von sprachlichen Strukturen, Erscheinungen und soziokulturellen bzw.

soziopsychischen Dispositionen:

119 Auf ähnliche Weise verlaufen diese Prozesse in Immigrantenkonstellationen, doch vor allem in instabilen Sprachgemeinschaften.

120 Vgl. Ehlich (2007a, 111 und 2007b, 252).

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Sprache ist sowohl individuell wie für die jeweilige Sprechergruppe eine unabdingbare mentale Ressource. Erst die Versprachlichung verleiht Wissen, die Komplexität und Plastizität, die Dauer-haftigkeit und Veränderbarkeit, die menschliches Wissen kennzeichnen. (EHLICH 2007, 252)

Die Existenz und die Entwicklung der Minderheitensprache mitsamt ihren Funkti-onen werden v. a. auch von den Veränderungen ihrer Gebrauchsstruktur bestimmt.

ZÜRRER attestiert bei den Walserdialekten ähnliche Vorgänge beim Verlust der Funk-tion des Ortsdialektes wie es hier bei der ungarndeutschen Sprachminderheit der Fall ist, obwohl hier über keine geografisch isolierte Lage gesprochen werden kann:

Wenn der deutsche Dialekt die Erscheinungswelt des traditionellen Lebens vollständig absteckte, reicht er zur Bezeichnung der modernen Welt nicht mehr aus. In dem Maße, wie die herkömmlichen Formen, Gegenstände und Arbeitsweisen des Alltagslebens aufgegeben wer-den, wird das Sprachinseldeutsch obsolet. (ZÜRRER 2009, 83)

Vor allem sind es die Bezeichnungsfunktionen (auch nominative Funktionen), die von den Ortsdialekten in der modernenen Zeit in der indigenen Sprache nicht mehr geleistet werden können.121 Selbst Gewährspersonen der älteren Generation bekla-gen sich häufig:

(3) …mir kenne des nimmer Deitsch sage. (III-L-F-75-m) (Wir können das nicht mehr Deutsch sagen.)

(4) …wie sagt mr dann des deitsch, … des kann ich nar ungarisch sage.

(III-L-M-78-m)

(Wie sagt man denn das Deutsch, das kann ich nur Ungarisch sagen.)

Diese metasprachlichen Äußerungen signalisieren eine Unsicherheit im Umgang mit der indigenen Sprache, aber auch die bereits aufgetretenen lexikalischen Defi-zite und Sprachfunktionen des Dialektes. GAL122 hat während ihrer empirischen Untersuchungen bei der ungarischen Minderheit im Burgenland nachweisen kön-nen, dass mit dem Verlust von Funktionen der Sprache auch die sprachlichen Struk-turen geschädigt werden, teils ausfallen, defizitär werden, oder wie es die Belege vorliegender Untersuchung beweisen, einem anderen Kode die ausfallenden Funk-tionen zugeschrieben werden. Verliert eine Sprache ihren Leistungsradius, wird das in absehbarer Zeit auch an den sprachlichen Strukturen bemerkbar. Den deut-schen Ortsdialekt kann heute nur mehr die älteste Generation123 im Nähebereich, in vertrauten, häufig in emotionalen Situationen als funktionstüchtiges Kommuni-kationsmittel verwenden. Wenn auch bei dieser Generation die

Darstellungsfunk-121 Auch LANSTYÁK (1994) bestätigt aufgrund seiner Erhebungen bei der ungarischen Minderheit in der Slowakei, dass bei Minderheiten, die einen Dominanzwechsel in ihren Sprachen vollzogen haben, ihre zweite, die später erlernte Sprache – aufgrund ihrer zugeordneten Funktionen – die stärkere, stabilere, kommunikativ und kognitiv wichtigere Sprache wurde. Vgl. auch ähnliche Ergebnisse bei den Oberwarter Ungarn um die Jahrtausendwende in BODÓ (2009, 34–48).

122 Vgl. GAL (1991, 72) und BORBÉLY (2001) bei der rumänischen Minderheit in Ungarn.

123 Eine besondere Situation ergibt sich daraus, dass bei den Ungarndeutschen ein Nord-Süd-Ge-fälle im Sprachgebrauch der Ortsdialekte zu Gunsten des Südens (dialektfeste Schwäbische Türkei, Batschka) zu konstatieren ist.

Funktionen des Dialekts im Wandel

tion etwas angeschlagen ist, kann aufgrund ihrer dialektalen Kompetenz und ihres noch aktiven Sprachgebrauchs der Ortsdialekt als vollständiges Kommunikations-mittel seine Funktionen erfüllen, wohingegen bei den übrigen Generationen dies nicht mehr der Fall ist. Die schwindenden Dialektfunktionen und der generationen-bedingte, fast voll abgeschlossene, Sprachwechsel beeinträchtigen in großem Maße die Darstellungs- und Ausdrucksfunktionen der deutschen Ortsdialekte nachhaltig.

Das hat zur Folge, dass auch die Appellfunktion, die ja das sprachliche Verhalten des Gesprächspartners beeinflussen und aktivieren soll, eine dem Gesprächspart-ner, der Situation und dem vorhandenen Kode entsprechend, meistens in der Mehr-heitssprache gestaltet wird.

Ein Beispiel für eine typische asymmetrische Kommunikationssituation ist fol-gendes Gespräch zwischen einer ungarndeutschen Großmutter und dem Enkel:

(5) Oma: Na, was war haint in der Schul?

(Nun, was war denn heute in der Schule?)

Enkel: Nem volt semmi különös, nem feleltem, nem kaptem jegyet, ... van sok házi.

(Es war nichts besonderes, habe keine Note bekommen, ... habe viel Hausaufgaben.)

Oma: Wann willscht dai házi mache? Jetzt sellscht mir zerscht a bissl helfe.

(Wann willst du denn deine Hausaufgaben machen? Jetzt solltest du mir im Garten etwas helfen.)

Enkel: Majd este 8 után megcsinálom, van időm, ma nem megyek sehova.

(Ich werde die Hausaufgabe am Abend nach 8 machen, ich habe Zeit, heute muss ich nicht weg.)

(Großmutter: II-L-F-73-m, Enkel: II-L-M-16-s)

Ähnliche Gesprächssituationen spielen sich noch häufig unter älteren ungarndeut-schen Sprechern in Südungarn ab, die als prototypische Vertreter dieser Minderheit gelten. Sie führen ihre Gespräche mitunter noch im Dialekt mit ihren Enkeln/

Urenkeln, doch auf diese Varietät erfolgt die Appellfunktion in der Regel nur auf Ungarisch. Dennoch kommt es zwischen den Generationen zu keinem Kommu-nikationskonflikt, denn der gemeinsame Kode, die ungarische Sprache, erfüllt für beide Generationen ihre kognitive, kommunikative und interaktive Funktion.

Jedoch behält die Mundart in der gesamten Situation eine Rolle, sie wird nicht völlig ausgeblendet, lediglich als sekundärer Kode in den Hintergrund gedrängt.

Zu Verstehensproblemen käme es nur dann, wenn der eine Gesprächspartner, hier die Enkelkinder, bestimmte dialektale Textteile oder lexikalische Einheiten gar nicht verstehen würden. Doch dies ist noch nicht der Fall, solange dieser Genera-tion solche InterakGenera-tionsmuster bekannt sind, die sie evtl. noch als passive Zuhö-rer ähnlicher routinemäßigen Gespräche zwischen älteren Sprechern miterlebt haben können. Die in zwei Kodes und seitens der Großmutter in einem bilingu-alen Sprachmodus ablaufende Kommunikation ist typisch für Interaktionen der

57 genannten Generationen.124 Ältere Sprecher können soziolinguistisch gesehen als zweidimensionale Sprecher betrachtet werden, jüngere dagegen nur mehr als ein-dimensionale. Obwohl die kommunikative Reichweite, die Domänen der ungarn-deutschen Dialekte sehr eingeschränkt sind, kann dennoch eine kommunikative Funktion dieser Dialekte – bei Sprechern älteren und mittleren Alters im südlichen Ungarn – konstatiert werden: Die kommunikative Funktion der Dialekte scheint länger anzuhalten und stabiler zu sein als angenommen und des Öfteren prognos-tiziert. Die kommunikative Funktion einer Sprache oder Varietät existiert so lange, so lange es Sprecher gibt, die ihre Sprache noch als funktionstüchtig erachten, auch wenn in der dialektalen Gebrauchsform massenweise Codeschaltungen und Code-mixing sowie hybride Formen auftreten. Ohne jedoch eine Prognose zu wagen, muss festgestellt werden, dass der Wunsch der ältesten Sprecher, ihren Dialekt auf-recht zu erhalten, mangels wichtiger Funktionen125 der Minderheitensprache nicht mehr zu erfüllen ist. Selbst die kognitive Funktion der Dialekte beschränkt sich fast bei allen Generationen der Ungarndeutschen mehr auf die ungarische Sprache.

Eine im Laufe der empirischen Erhebungen bekannte Erscheinung ist, dass bei noch mundartkundigen Sprechern die Ortsdialekte weitere, mindestens parti-elle Funktionen aufzeigen. So lässt sich z. B. die phatische Funktion in spontanen Gesprächen gut beobachten, in denen oft zum bloßen Herstellen einer Interaktion oder zum Kontakthalten mit Gleichaltrigen, zum Ausdruck der Verniedlichung – insgesamt in privaten und affektiven Situationen im Nähebereich – auch in einem einsprachigen ungarischen Sprachmodus spontan der Dialekt gebraucht wird:

(6) Hát ezt nem szabad, mai Klanes, látod ez letörik. (III-L-F-78-m) (Tja, das darf man nicht, mein Kleines, du siehst ja, das bricht ab.)

Durch teilnehmende Beobachtungen in spontanen Gesprächssituationen kann attestiert werden, dass bei älteren Sprechern heute noch kommunikative Formeln, exklamative Äußerungen im Dialekt (s. Kap. 5.4), auch im Umgang mit Haustieren oder als Interjektionen, nicht selten vorkommen.

Grundsätzlich kann die Feststellung gemacht werden, dass die mittlere und ältere Generation – u. a. wegen der bereits erwähnten belasteten historischen Ver-gangenheit – eine Ausgrenzung der Anderssprachigen meidet, indem in Anwesen-heit (z. B. beim Hinzutreten) einer Person nicht-deutscher Muttersprache sofort in die ungarische Sprache gewechselt wird. Für die junge Generation, die – im Ver-gleich zu den älteren Generationen – den Dialekt nicht als stigmatisierend erlebte,

124 Ältere Sprecher können leicht in einen bilingualen Sprachmodus wechseln, sie sind sogar für die sprachlichen Schwierigkeiten ihrer Enkel sensibilisiert. Das Umgekehrte, dass Sprecher der jungen Generation sich auf die Kommunikationssituation der Älteren einstellen würden, ist meistens nicht der Fall.

125 BINDORFFER (2001, 64) nennt hier als Mangel die Schriftlichkeit, die Kodifizierung, den Mangel der Herausbildung einer allgemeinen Verkehrssprache bei den Ungarndeutschen, durch die es nicht möglich ist, die vermehrten Kommunikationsbedürfnisse dieser Gemeinschaft entspre-chend zu befriedigen.

Funktionen des Dialekts im Wandel

hat der Dialekt eher die Funktion einer Kuriosität und kann auch als Ausdruck einer Andersartigkeit gedeutet werden.126

In Anlehnung an das Konzept von HÜLLEN (1992) gibt die folgende Tabelle einen Überblick, wie die deutschen Ortsdialekte in Ungarn in den einzelnen Gene-rationen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihre Funktionen wechselten.

Die drei Kategorien, Kommunikation, Identität und Prestige127 sind besonders bei der Bestimmung der Funktionsverhältnisse der Minderheitensprachen relevant.

Diese Kategorien ändern sich in Abhängigkeit der historisch-sozialen Umstände und der einzelnen Generationen. Damit geht auch einher, dass sich die Einstellung der Sprecher zu ihrer Muttersprache grundsätzlich ändern kann.

bis 1945 50er bis 70er Jahre 80er bis 90er Jahre Kommunikationssprache Ortsmundart Ungarisch

Ortsmundart Ungarisch

Identitätssprache Ortsmundart Ungarisch

Ortsmundart Ungarisch

Prestigesprache Standarddeutsch

Ungarisch Ungarisch Ungarisch

Standarddeutsch Tabelle 2: Prestigelagen im 20. Jahrhundert

Die Ortsdialekte haben bei der Minderheit – selbst bei ihrer vollen Funktionstüch-tigkeit und identitätsstiftenden Rolle – nur bis 1945 ein hohes Prestige genossen.

Die Veränderungen in der Funktion als Kommunikationssprache und Identitätsspra-che zeigen zwar parallele Züge, doch weisen die Forschungen der Gegenwart dar-auf hin, dass die Identität der Sprecher nicht ausschliesslich durch die Sprache als wichtigstes Ausdrucksmittel konstituiert wird,128 auch wenn die Sprache – seit der Nationalstaatenbildung in Europa – eine gemeinschaftsbildende Rolle innehat. In der Repräsentation einer ethnischen Zugehörigkeit einer Sprachminderheit spielt die Muttersprache als ein generierendes und identitätsstiftendes Instrument eine wich-tige, wenn auch nicht eine ausschließliche Rolle.129 Eine Sprachgemeinschaft kann durch ihre Sprache ihre Kommunikationsbeziehungen nach außen und innen schaf-fen, damit auch den Zugang zur eigenen, zur Minderheitenkultur bzw. in diesem Falle auch zur deutschen Kultur der deutschsprachigen Gebiete und Regionen in der Welt vermitteln, worauf v. a. auch die Bikulturalität der Sprachminderheit basiert.

Wir wissen jedoch, dass sprachliche und kulturelle Identität keine statische und eindimensionale, sondern mehrdimensionale und komplexe, veränderliche und sozial eingebettete Größen sind.130 Nach MAX WEBER (1992) ist Sprache die

126 So kommt es vor, dass Jugendliche aus Minderheitengymnasien spontan, zum Ausdruck des Andersseins in peer-group-Situationen Floskeln eines Ortsdialektes oder dialektale Routine-formeln, ergänzt durch die schulischen Deutschkenntnise, gebrauchen, z. B. Na, kemm’r ‘Na, gehen wir!’ oder Viel Spaß, doch ist das nur sporadisch.

127 Vgl. zum Begriff der Identitäts- und Prestigesprache HÜLLEN (1992, 298–317).

128 Vgl. auch SEEWANN (1991) GERNER (2001, 74–94).

129 Vgl. BINDORFFER (2001, 49).

130 Vgl. HAARMANN (1983).

59 Grundlage und Voraussetzung für das Verständnis in einer sozialen Gemeinschaft.

Die Muttersprache ist die Basis des Individuums, von der aus das Erkennen der Welt ausgeht und mittels dieser auch sein Erfahrungshorizont aufgebaut wird. Die Muttersprache kann, wie wir das bei Minderheiten oft sehen können, im Laufe der Geschichte verdrängt, in dessen Folge auch außer Gebrauch kommen, ohne aber die durch die Sprache gewonnene primäre Welterfahrung zu verlieren. Diese bei der Minderheit durch den Dialekt geprägte Welterfahrung, die man durch den pri-mären Sozialisationsprozess gewonnen hatte, wie bei der ältesten Generation der Ungarndeutschen, bleibt erhalten, sie wird mit der Zeit sogar erweitert und auch mit anderssprachigen Erfahrungen bereichert. Die jüngeren Generationen der Ungarn-deutschen, die ihre Welterfahrung bereits in ungarischer Sprache und Kultur erlebt und erworben haben, besitzen eine – auch sprachlich – different erlebte Welterfah-rung.

Diese komplexen sozialpsychischen Dispositionen können bei Sprechern nie direkt abgefragt werden, doch kann man aus zahlreichen Gesprächen mit ihnen und in Interviews zu diesen Schlussfolgerungen gelangen.131 Vor dem Hintergrund die-ser sozialpsychologischen Begebenheiten lässt sich auch die von mehreren Sozio-logen und PolitoSozio-logen132 vertretene Auffassung über eine doppelte und schwebende Identität erklären.

Der öffentliche Bereich des Minderheitendaseins hebt sich einigermaßen vom individuellen ab: Obwohl die seit den 1960er Jahren (teils bereits Ende der 1950er Jahre) ins Leben gerufenen deutschsprachigen Medien im Lande vorhanden waren, übten sie keine große Wirkung hinsichtlich der Wiederbelebung oder Erstärkung der Dialektfunktionen aus. Es fehlte nicht nur in den vom Staat zugelassenen deutschsprachigen Medien – in der Zeit des eisernen Vorhangs – in der Öffentlich-keit der Minderheiten grundsätzlich ein öffentlicher Diskurs wesentlicher Fragen, Begebenheiten, die den Alltag und die Verhaltensweisen dieser Minderheit kon-stituierten. Auch in einem sprachgruppeninternen Diskurs fehlte diese Thematik über Muttersprache, das Verhältnis von Standarddeutsch und Ortsdialekt, Identität, Bikulturalität, Spracherwerb, zweisprachiger Deutschunterricht, etc. völlig.

Die Ursachen für die immer wieder beklagten schwindenden Dialektfunktio-nen sind sowohl im privaten als auch im öffentlichen Bereich vielschichtig und nach Generationen und sozialen Schichten strukturiert.133 Bei der Beurteilung die-ser Frage spielt natürlich auch die Medialität eine wichtige Rolle, denn das Fehlen einer Schriftlichkeit (die sich auf Schule und die spärlichen Medien beschränkt), bedeutet ein großes Defizit bei der Stärkung einer nur oralen Sprachform und deren Funktionen.

131 Z. B. geht aus Fragebogenerhebungen und Interviews eindeutig hervor, dass sich Gewährsper-sonen als Ungarndeutsche bekennen, auch wenn sie keinen deutschen Ortsdialekt mehr beherr-schen.

132 Vgl. BAYER (1993).

133 Selbst die in den 1950/60er Jahren noch durch brieflichen Kontakt aufrecht erhaltene Kommu-nikation mit den ausgesiedelten Verwandten und Familienmitgliedern (in Deutschland, Öster-reich) wurde seit Ende der 1970er Jahren durch das Telefonieren abgelöst.

Funktionen des Dialekts im Wandel

3.3 ASPEKTE DES SPRACHBEWUSSTSEINS IN DER