• Nem Talált Eredményt

Die Verkehrssprache der Ungarndeutschen, das sog. „noble Deitsch“

5 Empirische Befunde: Veränderungen auf der Ebene des Wortschatzes

5.2 Aufbau und Organisiertheit des Wortschatzes

5.2.3 Die vertikale Schichtung des Wortschatzes

5.2.3.2 Die Verkehrssprache der Ungarndeutschen, das sog. „noble Deitsch“

Sprachen und Varietäten haben zwar nicht nur in Mehrheitsgesellschaften, aber insbesondere bei Sprachminderheiten einen sozialsymbolischen Wert: Als Iden-titätsmarker können sie eine Gruppenzugehörigkeit symbolisieren, einer bloßen Modeerscheinung folgen, als Machtinstrumente eingesetzt werden, Kommunikati-onspartner ausgrenzen oder einbeziehen, Höflichkeit signalisieren oder einfach nur die kommunikative Praxis erleichtern. In Anbetracht der bereits erwähnten externen Faktoren, die sprachliche Veränderungen bei Minderheiten anzeigen, können sich Funktionsfeld und Einsetzbarkeit der Sprachen und Varietäten ziemlich oft ändern.

Im Laufe des Sprachinseldaseins entwickelte sich bei diesen lokalen Gemein-schaften verständlicherweise eine über den Ortsdialekten stehende Sprachlage, die zwar eine Funktion als Verkehrsmundart inne hatte, doch ihr Verbreitungsradius bei

396 Die befragten Normautoritäten (im Jahr 1999) waren 84 Deutschlehrer im Alter zwischen 25 und 50 an Minderheitenschulen und Gymnasien in Südungarn, von denen 67 Mundartsprecher waren. Aufgrund eines Fragebogens erhielt ich eine Einstufung der Sprechweise der Ungarn-deutschen, die sie als Mischsprache bezeichnet haben: „...ein Gemisch zwischen Mundart und Ungarisch, das kein richtiges Deutsch ist“.

397 Diese höhere referentielle Effizienz wurde aus den Antworten auf die im Fragebogen gestellten Fragen herausgefiltert, wonach die meisten Befragten als wichtigste Begründung zum überaus häufigen Gebrauch dieser (von ihnen Mischsprache genannten) Sprachform nennen, dass man die Dinge und Verhältnisse des Alltags „besser“ in ungarischer Sprache zum Ausdruck bringen kann als in der Mundart.

147 weitem nicht so ausgedehnt war, wie der der Ortsmundarten. Sie entstand auch in den von Deutschen bewohnten Ortschaften aus bestimmten Kommunikationsbe-dürfnissen bei Anlässen wie Markt, Dienerschaft in anderen Ortschaften oder durch den beachtlichen Einfluss des österreichischen Deutsch in Ungarn, eine Sprach-lage,398 die sich von den Ortsdialekten eindeutig abhob.

Die von den Sprechern heute als ‚nobles Deitsch‘ oder ‚herrisch reden‘ bezeich-nete Sprachlage weist auf eine von der Basismundart abweichende Sprachform und Sprachgebrauchsform hin, die dem Substandard-Bereich angehört, in der Elemente der Basismundart sowie des Hochdeutschen in einer Sprachlage subsumiert wer-den. Der räumliche Gültigkeitsbereich dieser sprachlichen Formen ist hier weniger deutlich, da die Sprecher selbst anstreben, sich sprachlich nicht als ‚Mundart-sprecher‘ kenntlich zu machen.399 Sprecher, die sich dieser Sprachlage bedienen, sind vor allem bewusste Sprecher aus zweierlei Gründen: 1) sie können selbst die Differenzierung zwischen den Sprachlagen (Basismundart und höher gelegene Sprachform) vornehmen, 2) sie wechseln die Sprachlage, um sich mit der Spra-che von der Bauernschicht abzusondern, sich gleichzeitig einer höheren Schicht zuzuordnen und sie nutzen ihre wie auch immer geartetete höhere Sprachlage als soziales Symbol in der Sprachgemeinschaft. Auf der Systemebene erscheint diese höhere Sprachlage als Umgangssprache, denn um sich „besser“ und „nobler“ als in mundartlichen Formen auszudrücken, werden saliente dialektale Merkmale gemie-den, komplexere Satzbaumuster produziert und lexikalisch „gehobenere“ Wörter gebraucht. Auch wird eine höchstmögliche Anpassung an die umgangs- oder stan-dardsprachliche Aussprache und morphologische Form angestrebt. Letztendlich haben wir eine Varietät vor uns, in der es um eine Mischung von Mundartelementen mit „angenommenen“ standard- und umgangssprachlichen Elementen geht:400

‚Nobles Deutsch‘:

(59) Ja, un dann hab’m uns a Haus gebaut, un sche eingericht un die Kinder hab’m alle a guti Arweit, uns geht’s gut, kann m’r sagn. (III-S-M-82-s) (Ja, und dann haben wir uns ein Haus gebaut und schön eingerichtet und die Kinder haben alle eine gute Arbeit, uns geht es gut, kann man sagen.) Basismundart:

(60) Ja, uno hem’r uns a Haus gebaut un sche aigricht un die Kiner hen alli a guti Arweit, uns gehts gut, kamm’r sage. (I-L-M-78-m)

(Ja, und dann haben wir uns ein Haus gebaut und schön eingerichtet und die Kinder haben alle gute Arbeit, uns geht es gut, kann man sagen.)

398 Vgl. WILD (2003b, 56).

399 Diese Verhaltensweise, der bewusste Wechsel der Sprachform hängt eng mit der früheren ‚Stig-matisierung‘ der deutschen Mundarten in Ungarn zusammen (vgl. Kap. 3.3).

400 Gewährspersonen entscheiden selbst die Situationen, in denen sie diese Sprachlage anwenden:

im Laufe der Aufnahme, wenn Gäste aus Deutschland kommen, im Gespräch mit fremden, deutsch sprechenden Menschen etc.

Aufbau und Organisiertheit des Wortschatzes

Das sog. ‚noble Deutsch‘ ist auch auf das Medium der Mündlichkeit beschränkt, eigentlich entstehen in dieser Sprachlage ganz wenig bis keine medial schriftlichen Produkte. Einige Ausnahmen bilden z. B. jene Wunschkarten, die an das deutsch-sprachige Rundfunkprogramm von Radio Pécs mit verschiedenen Wünschen ge-schickt werden. Ein Beispiel von einer Wunschkarte:

(61) Mit einem bunden blumen strausz möchten wir die aller schönste glück wüncse auf... für die Frau K.M. zum 60. geburtctag alles gute fihl glick und Gottes segen guthe gesuntheit noch fihl söne jahren im greisze ihre Familie wüncsen, gegrüszt von.

(Mit einem bunten Blumenstrauß möchten wir die allerschönsten Glück-wünsche auf (Ort) für die Frau K.M. zum 60. Geburtstag alles Gute, viel Glück und Gottes Segen, gute Gesundheit, noch viele schöne Jahre im Kreise ihrer Familie wünschen, gegrüßt von.)

Der Text ist medial wie konzeptionell mündlich, wahrscheinlich von einem Spre-cher/Sprecherin der älteren Generation verfasst.401 Anzeichen einer gehobeneren, von der Basismundart abweichenden Sprachlage sind die Verbformen möchten und wüncsen sowie die vielen aufgrund der pragmatischen Indikatoren (Wunsch-karte) erforderlichen kommunikativen Formeln alles Gute, bunter Blumenstrauß oder noch viele schöne Jahre im Kreise der Familie. Die Orthografie spiegelt eine Mischung von deutschen und ungarischen Schreibweisen wider, mehrheitlich jedoch keine Norm (Schreiben nach dem Hören). Auf jeden Fall ist dies ein eindeu-tiger medial schriftlicher Beweis für eine gehobenere Sprachlage. In dieser konzep-tionell gesprochenen Sprachlage gebrauchen die Sprecher weniger Reduzierungen und Abschleifungen als im Ortsdialekt. Die Ursachen dafür sind, dass durch die Wortwahl und die weniger morphosyntaktischen Reduzierungen eine Differen-zierung zwischen der Basismundart und der etwas höheren Sprachlage angedeu-tet werden. Man ist sichtlich bemüht, „nach der Schrift“ zu sprechen,402 wobei die Gesprächssituationen gar nicht offiziell oder öffentlich sein müssen, denn selbst in heimischer Umgebung mit nicht ortsansässigem Gesprächspartner wechseln kom-petente Mundartsprecher auf die Umgangssprache. Das Switchen ist augenfällig, man will in bestimmten Situationen nicht nur einfach Deutsch sprechen, sondern in einer bestimmten Situation, zu einem bestimmten Zeitpunkt, mit bestimm-ten Gesprächspartnern über ein bestimmtes Thema eine bestimmte Varietät, ein bestimmtes Register, ein anderes als die Ortsmundart, wählen. Das verlangt eine Koordination und Anpassung der verfügbaren sprachlichen Mittel des Sprechers an die gegebenen Parameter, aufgrund dessen sich der Sprecher für die ihm als meist angemessen erscheinende Sprachlage, hier für das ‚noble Deitsch‘ entscheidet.

401 Anzunehmen ist dies wegen der orthografischen Probleme im Text, weil die vor 1929 geborene Generation kein Deutsch an der Schule hatte.

402 Da die Nachkommen der Ungarndeutschen nicht mehr im Ortsdialekt sozialisiert werden und dank des gut ausgebauten Netzes des Deutschunterrichts der letzten Jahrzehnte hat jeder Min-derheitenangehörige die Möglichkeit, eine deutschsprachige Sozialisation auf gesteuertem Wege zu erreichen. So sprechen Mundartsprecher mit Journalisten, mit Gästen aus Deutschland und mit Exploratoren diese gehobenere Varietät.

149 Berufs- und Fachsprachen

Zur gehobeneren Sprachlage gehören auch die noch in Resten vorhandenen Berufs- und Fachsprachen der Ungarndeutschen, die in der Gegenwart nicht mehr als aktive Schicht des Minderheitenwortschatzes betrachtet werden können.

Die soziale Schicht der Handwerker und der verschiedenen fachlichen Berufs-gruppen unter den Ungarndeutschen hatte schon immer eine über der bäuerlichen Schicht stehende anerkannte soziale Stellung, obgleich zu den sachorientierten Berufs- und Fachsprachen dieser Sprachgemeinschaft eine eher spärliche linguis-tische, doch reichhaltige ethnografische403 Fachliteratur zu finden ist. Im aktuellen Wortschatzrepertoire ist diese Schicht des Wortschatzes nicht mehr aktiv, dennoch muss über ihre Rolle in der Vergangenheit gesprochen werden. Es geht um eine medial wie konzeptionell mündliche Sprachform, die unter Sprechern in einem Fachzusammenhang (Beruf, Handwerk) in Form einer fachlichen Umgangsspra-che, auch WerkstattspraUmgangsspra-che, gebraucht wurde. Heute gehört sie evtl. zum passiven Wortschatz einiger älterer nicht mehr aktiven Handwerker, die den Produktions-prozess als auch die Vermarktung ihrer Ware mithilfe dieses Wortschatzes noch versprachlichen könnten. Die fachliche Umgangssprache selbst ist heterogen, in der neben fachsprachlichen Ausdrücken, Gegenstands- und Handlungsbezeichnun-gen404 auch die nähesprachlichen Ausdrucksformen ihren Platz haben. In Südun-garn konnte noch bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts eine Differenzierung in der Sprache der Handwerker und Bauern sowohl auf der System- als auch auf der Gebrauchsebene getroffen werden: „Handwerker fühlten sich aufgrund ihrer Bildung, sozialen Mobilität und ihrer Sprachkenntnisse dem städtischen Bürgertum näher, d. h. den Bauern gegenüber sozial höherstehend“ (WILD 2003b, 55). Es wird sogar bestätigt, dass in den größeren Handwerkerzentren der Schwäbischen Türkei (z. B. Bóly, Mohács) die Handwerker sich nicht nur in ihrer fachsprachlichen, son-dern auch in ihrer alltagssprachlichen Varietät (auf phonetischer, morphologischer und lexikalischer Ebene) von der Sprache der Bauernschicht abgesondert haben.

Das bedeutete, dass diese Sprecherschicht im Besitz von zwei Varietäten war und diese situationsangemessen gebrauchen konnte, was jedoch zu manchen Spannun-gen in der Sprachgemeinschaft führen konnte.405

Durch die Nutzung der vielfältigen Möglichkeiten zur Bezeichnung der ein-zelnen Geräte, Handlungen und Produkte bezieht sich der Fachwortschatz der ungarndeutschen Handwerker auf die onomasiologische Ebene, weniger auf die phonologische oder syntaktische Ebene.406 Eine rezente lexikologische Arbeit wurde von MÜLLER (2011) zu den „Lexisch-semantischen Merkmalen der

mundart-403 Vgl. MANHERZ (1975) die Aufsätze in den Beiträgen zur Volkskunde der Ungarndeutschen z. B.

BOROSS (1984), HAMBUCH (1981), MIRK (1985), KLUG (1998).

404 Mit dem unverkennbaren Einfluss der in Österreich auf Wanderschaft erlernten lexikalischen Einheiten, die teils auch in die Verkehrssprache eingedrungen sind (z. B. Fachsprache der Töp-fer in Óbánya).

405 Vgl. „das herrisch Reden der Handwerker“ (WILD 2003b, 57).

406 MANHERZ (1986, 23) bestätigt, dass die phonologischen Merkmale der Handwerkersprache mit denen der allgemeinen Dorfmundart übereinstimmen.

Aufbau und Organisiertheit des Wortschatzes

lichen Fachwortschätze in Pilisvörösvár“ erstellt,407 in der der Wortschatz von zwölf Handwerksberufen (Bäcker, Drechsler, Böttcher, Fleischer, Maurer, Möbeltischler, Schlosser, Schmied, Schneider, Steinmetz, Tapezierer, Zimmermann) eines Ortes lexikologisch erfasst und beschrieben wurde. Aus dieser Arbeit geht hervor, dass dieses Wortschatzsegment der Ungarndeutschen – wie angenommen – leider nicht mehr als aktiv betrachtet werden kann,408 so dass heutzutage nur noch die schrift-lichen Dokumente der Ethnografen als die reichsten Quellen dieser Fachwort-schätze gelten. Ein intensiver Kontakt zwischen den fachsprachlichen Bereichen der ungarndeutschen Handwerker und der Landessprache ist auch aus der anderen Richtung nachzuweisen.409