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Weitere Ausprägungen der Leseforschung

3 Mehrsprachigkeit

4.5 Lesen als Forschungsgegenstand

4.5.4 Weitere Ausprägungen der Leseforschung

Bei der Untersuchung von Teilleistungen des Lesens und deren Bewälti-gung werden in die psychologische, psycholinguistische, pädagogische bzw.

neurologische Forschung überwiegend Sachtexte mit einbezogen. Obwohl beim Lesen von Sachtexten und von literarischen Texten die gleichen Teil-leistungen involviert sind, werden literarische Texte durch eine größere Be-deutungsvielfalt charakterisiert, die von Lesenden mehr Prozesse der Bedeu-tungsgenerierung verlangt. Dadurch ergeben sich Unterschiede in Bezug auf die Intensität und die größere Rolle des Leserfaktors. Mit diesen hierarchie-hohen Teilleistungen beim Lesen literarischer Texte und der Bewertung bzw.

der Interpretation des Gelesenen beschäftigt sich die literaturdidaktische Leseforschung. Die Untersuchungen umfassen ein breites Spektrum von der Rezeptionseinstellung des Lesers über Faktoren wie Genrewissen oder sprachliche Sensibilität bis hin zu den emotionalen Komponenten beim Lesen literarischer Texte (Christmann 2010: 150). Die Leseforschung ist also durch eine Vielfalt von miteinander verknüpften Forschungsbereichen und von un-terschiedlichen Zugängen zum Lesen gekennzeichnet.

Wie aus den Abschnitten 4.5.1 und 4.5.3 ersichtlich, erarbeitet die kogni-tionspsychologische und psycholinguistische Leseforschung Theorien und Modelle in Bezug auf die Erforschung des Leseprozesses und untersucht mit vielfältigen sukzessiven und simultanen Methoden die das Lesen beeinflus-senden Variablen. Demgegenüber werden in der Fremdsprachendidaktik und in der Sprachlehr- und -lernforschung, für die Lesen ebenfalls einen For-schungsgegenstand darstellt, Fragestellungen hinsichtlich des Faktorenkom-plexes fremdsprachlichen Lesens, didaktischer Maßnahmen zur Entwicklung der fremdsprachlichen Lesefertigkeit im institutionellen Fremdsprachen-unterricht, fremdsprachlicher Lesecurricula, der Faktoren des Leseunter-richts, der Lesestrategien, der Metakognition beim Lesen und des Zusam-menhangs fremdsprachlichen Lesenlernens bzw. des Sprachenlernens disku-tiert (Karcher 1988; Ehlers 1998; Schramm 2001: 15f.; Weis 2000; Hurrelmann 2002a; Bimmel 2002; Feld-Knapp 2005: 34ff.; Krumm/Portmann-Tselikas 2009; Lutjeharms 2010a und 2010b). Die Fremdsprachendidaktik und die Sprachlehr- und -lernforschung zum fremdsprachlichen Lesen sind nicht darauf beschränkt, aus psychologischen und linguistischen Theorien didak-tische Empfehlungen abzuleiten und diese mit Tests zu validieren. Vielmehr sind sie „charakterisiert durch die mit dem Vermittlungsbezug gegebene eigenständige Analyse empirischer Daten des Lese(lern)prozesses“ (Schramm 2001: 18). In der Fremdsprachendidaktik wird auch zur Erforschung fremd-sprachlichen Lesens im Hinblick auf Lehren und Lernen ein breites Spektrum an methodischen Herangehensweisen verwendet. Als Orientierungspunkt dient dabei die Klassifizierung der Forschungsmethoden von Grotjahn (1987), der die Methoden aufgrund der Datenerhebung (experimentell vs. quasi-experimentell vs. nicht-quasi-experimentell), der Daten (qualitativ vs. quantitativ) sowie der Analyse (interpretativ vs. statistisch) unterscheidet. In Bezug auf die Datenerhebung ist der überwiegende Einsatz experimenteller oder quasi-experimenteller Designs für fremdsprachendidaktisch angelegte Forschungen zum fremdsprachlichen Lesen charakteristisch. Nicht-experimentelle Ver-fahren, die oft ethnographische Arbeiten sind, werden zur Datenerhebung fremdsprachlichen Lesens seltener eingesetzt, trotzdem finden sich zwei As-pekte ethnographischer Forschungsarbeiten auch immer öfter in der Lese-forschung: einerseits die Untersuchung des Gegenstandes im authentischen Kontext, andererseits die Datenerhebung mittels Beobachtung, Befragung

und Interviews; die zweite Klasse im Forschungsparadigma von Grotjahn bilden die Daten, die qualitativ und quantitativ sein können. Der Klassifizie-rung von Grotjahn (ebd., S. 57) liegt das Verständnis zugrunde, dass quantita-tive Daten nur auf einer Intervallskala gemessene metrische Konzepte sind.

In diesem Sinne sind die Daten in fremdsprachendidaktisch angelegten For-schungen eher qualitativ (quantitative Daten bezüglich des Lesens sind z.B.

Lesezeiten).

Seit den 1980er Jahren hat das Interesse der Fremdsprachendidaktik an introspektiven Methoden, die auch in der Kognitionspsychologie oft verwen-det werden, zugenommen, um „Daten über die beim Lesen ablaufenden men-talen Prozesse zu gewinnen“ (Schramm 2001: 25). Dabei werden Versuchs-personen zur Verbalisierung ihrer Gedanken, Gefühle, Schlussfolgerungen bzw. mentalen Zustände aufgefordert. Bei der Erforschung des fremdsprach-lichen Leseprozesses wird oft das laute Denken eingesetzt. Neben den intro-spektiven Methoden, die sich auf den kognitiven Prozess konzentrieren und simultan damit erfolgen, werden auch retrospektive Verfahren verwendet, die nach dem Prozess zum Einsatz kommen und dabei durch Erinnerungs-leistungen unterstützt werden können (Schramm 2001: 32ff; Aguado/Heine/

Schramm 2013; Settinieri/Riemer et al. 2014).

In den obigen Ausführungen haben wir gesehen, dass beim Lesen in psy-chologischen Forschungen die kognitiven Aspekte erforscht werden. Im Un-terschied dazu betrachten die Sozialpsychologie und die Soziologie Lesen als eine Form sozialen Handelns und gehen der Frage nach, inwiefern Lesen in bestimmten sozialen Segmenten wichtig ist, auf welche Ursachen seine Rele-vanz zurückzuführen ist und welche Konsequenzen sich daraus für die Wis-sensvermittlung und die Teilnahme an der Gesellschaft ergeben. Eine Aus-richtung der empirischen Leseforschung untersucht auch das Medium Buch bzw. (Buch-)Leseverhalten als Forschungsgegenstand. Den theoretischen Perspektiven der empirischen Leseforschung unterliegen sozial- und kommu-nikationswissenschaftliche Ansätze, die sich auf die Untersuchung der Rezep-tion, Nutzung und Lesen von Printmedien konzentrieren. Im engeren Sinne können wir diesbezüglich über Buchleseforschung sprechen. Das Lesever-halten wird aus einer medientechnischen Perspektive der Kommunikations-wissenschaft erforscht. Im Kontext der Leseforschung steht der Umgang mit und die Nutzung von Medientechnologien im Mittelpunkt. Die semiotisch–

zeichentheoretischen Perspektiven der Kultur- und Literaturwissenschaft be-handeln Fragestellungen in Bezug auf den im Leseprozess konstruierten Text-sinn und auf die Bedeutungsebenen. Ein breites Spektrum an theoretischen Perspektiven zur Analyse des Lesens und des Mediums Buch bieten breiter gefasst die Sozialwissenschaften und enger gefasst die Kommunikations- und Medienwissenschaften. Die empirische Leseforschung ist aber zur Erklärung sozial-, kommunikations- und wissenschaftlicher Ansätze nicht genügend theoriebasiert und sollte ihren Gegenstandsbereich unter Berücksichtigung der verstärkten Medienkonvergenz ausweiten (Bonfadelli 2015: 63ff.).

Im Kontext der Leseforschung ist noch die historische Leseforschung zu erwähnen, die sich mit dem geschichtlichen Wandel von Forschungsinter-essen, methodischen Herangehensweisen und theoretischen Ansätzen be-fasst. In der historischen Leseforschung wird Lesen als Kulturtechnik und soziale Praxis im historischen Wandel untersucht:

Dabei werden […] die Entwicklung von Alphabetisierungsraten, das Lesever-halten von sozialen Gruppen oder Schichten sowie deren Bildungsvoraus-setzungen, bevorzugte Texte und Lesemedien sowie die Praktiken der Lektü-re, wie Leseweisen, Lesesituationen und Lesemodi, analysiert. (Rautenberg/

Schneider 2015: 86)

Diese Definition zeigt auch den Forschungsgegenstand der historischen Le-seforschung: die Rekonstruktion des Lesepublikums und der Lesepraktiken vergangener Epochen, deren Erforschung eines differenzierten Umgangs mit dem Leserbegriff bedarf. Der Leser, seine Rolle bzw. seine Konzeptuali-sierungen werden also in dieser Annäherung im historischen Wandel unter-sucht.

Der Überblick über die Disziplinen, in denen Lesen als Forschungsgegen-stand fungiert, gewährt ein umfassendes Bild über die Facetten der Lese-forschung. Für die vorliegende Arbeit und die durchgeführte empirische For-schung (s. Kapitel 6) sind die kognitionspsychologischen Erkenntnisse und Modelle bzw. die fremdsprachendidaktische Annäherung und ihre Methoden von erstrangiger Bedeutung.