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Lesen: Definition, Abgrenzung

3 Mehrsprachigkeit

4.1 Lesen: Definition, Abgrenzung

Viele Jahre lang wurde die Methodik der Leseforschung durch das Konzept des schlechten und guten Lesers geprägt. Das resultierte aus der Auffassung, die Lesen als eine komplexe Fertigkeit definierte, die in weitere unterscheid-bare Fertigkeiten zu zerlegen und effektiv zu schulen ist. In diesem Sinne macht den profizienten Leser die Beherrschung dieser Fertigkeiten aus (West-hoff 1997: 5; Ehlers 1998: 16; Gósy 2005: 373f.; Neuland/Peschel 2013; Csépe 2014).

In der audiolingualen Methode und in der ersten Phase der kommunika-tiven Didaktik wurde Lesen als Fertigkeit als eine Kommunikationstechnik konzeptualisiert und für ihre Förderung das Konzept des Fertigkeitstrainings erarbeitet (Feld-Knapp 2016; Thonhauser 2008; Westhoff 1997). Lesen als Fer-tigkeit wurde an und für sich betrachtet und im Fremdsprachenunterricht isoliert gefördert. Der Gemeinsame europäische Referenzrahmen hat im Jah-re 2001 eine andeJah-re Auffassung in Bezug auf kommunikative sprachliche Kompetenzen mit sich gebracht: Statt eines linearen Fertigkeitstrainings wur-den die sprachlichen Kompetenzen im GeR in ihrer Bedeutung für kommu-nikative Grundfunktionen und kommukommu-nikative Sprachaktivitäten beschrie-ben und Fertigkeiten wurden als sprachliche Handlungen definiert (Feld-Knapp 2016; Europarat 2001; Fandrych/Thonhauser 2008).

Bis in die 1960er Jahre verstand man unter Lesen primär die Dekodierung von Wörtern, Buchstaben und syntaktischen Strukturen: „Dekodieren galt als die Fähigkeit, geschriebene Symbole in Laute umzuwandeln und gespro-chenen Wörtern Bedeutungen zuzuordnen“ (Ehlers 1998: 16). Lesen bedeutet in diesem Sinne die Transformation der geschriebenen Wörter in gesprochene Wörter. Lesen ist ein vom Geschriebenen geleitetes Denken. Dementspre-chend wird der Leseprozess in zwei Teile gegliedert: Den ersten Teil bildet die Dekodierung, d.h. die Entschlüsselung der Buchstaben, die Identifizierung der Buchstaben als Sprachlaute und die Segmentierung der Wörter; im zwei-ten Teil erfolgt die Bedeutungserschließung, d.h. die morphologische Struk-tur des segmentierten Wortes wird erkannt und die Bedeutung wird erschlos-sen (Perfetti 1986; Gósy 2008, 2005: 362; Adamikné 2006; Csépe 2006).

Der Leser galt in diesem Prozess als Dekodierer und hatte eine passive Rolle. Die Aufgabe des Lesers bestand darin, den dem Text inhärenten Sinn herauszulesen. Diese Auffassung des Lesens ist eher datengesteuert (bottom-up). In datengesteuerten Modellen werden die Ebenen des Leseprozesses se-riell nacheinander von unten nach oben durchlaufen. Die Teilprozesse sind dabei autonom und arbeiten unabhängig voneinander: höhere Teilprozesse setzen also erst nach dem Abschluss der Verarbeitung auf den niedrigeren Ebenen ein (Christmann/Groeben 1999; Christmann 2010: 149; Neuland / Peschel 2013).

Die Vertreter dieser lesetheoretischen Position waren Mackworth (1972), Gough (1972) und Laberge/Samuels (1974), die Lesen als einen Prozess

auf-fassten, „der vom Text und seinen Daten ausgeht, linear verläuft und nach-einander Bedeutungen einer Reihe dekodierter Wörter mitnach-einander ver-kettet“ (Ehlers 1998: 16). Auf der ersten Stufe der Dekodierung erfolgt die Analyse der visuellen Signale, die als Datenbasis für die phonemische Analyse gelten, die dann zum semantischen System führt. Die intuitive und heute als naiv bezeichnete Vorstellung vom Lesen als eine eher passive Rezeption der im Text enthaltenen Bedeutung, Information oder Botschaft liegt früheren Kommunikationsmodellen aus der behavioristischen Psychologie zugrunde:

Autoren eines Textes enkodieren beim Schreiben die Bedeutungen, die dann beim Lesen von den Rezipienten zu dekodieren sind. Damit liegt ein de-terministisches Kommunikationsmodell vor, in dem Rezipienten die vom Autor enkodierten Bedeutungen beim Lesen dekodieren müssen. Lesen er-schöpft sich in diesem Sinne in der passiven Bedeutungsdekodierung, die vom geschriebenen Text determiniert wird (Christmann/Groeben 1999: 145;

Ehlers 1998).

Die Lesepraxis wurde also durch lange Jahre durch die Position bestimmt, die vom buchstabenweisen bzw. Wort-für-Wort-Lesen ausging und Lesen als einen Dekodierprozess konzeptualisierte. An dem linearen und stufenweisen Modell des Lesens wurde kritisiert, dass die Interpretation des Lesens ver-einfacht bzw. der Gebrauch übergeordneter Strukturen nicht berücksichtigt wurde. Im Leseprozess kam der Interpretation der sprachlichen Strukturen eine große Bedeutung zu. Mit der Entfernung von der Auffassung über das Lesen als Dekodieren hat sich der kognitive Ansatz in der Leseforschung im-mer mehr verbreitet (Ehlers 1998; Csépe 2014).

Mit dem kognitiven Ansatz nahmen also die Rolle des Lesers, seines Vor- und Weltwissens und die Wichtigkeit textexterner Merkmale zu. Kognitions-psychologische Forschungen konzentrierten sich nicht mehr nur auf den Text, seine Merkmale und die Rekonstruktion der Schreibintention des Produzen-ten, sondern vielmehr auf den Leser und seine Rezeptionsleistung (Neuland / Peschel 2013: 159). Der Schwerpunkt verschob sich auf erwartungs-, wissens- bzw. konzeptgeleitete Prozesse, in denen Lesen als ein Prozess der höher-stufigen Verarbeitung gesehen wird, bei dem Prozesse auf übergeordneten Ebenen auf die unteren überleiten. In diesem Prozess kommt dem Leser die Rolle des Raters zu. Das Lesen wurde als ein psycholinguistisches Ratespiel (psycholinguistic guessing game) des Lesers zwischen den im Text enthaltenen

sichtbaren sprachlichen Informationen und seinem Weltwissen gedeutet. In diesem Prozess stellt der konzeptualisierte gute Leser im Leseprozess aktiv Hypothesen auf und überprüft diese am Gelesenen bzw. gegebenenfalls revidiert er sie. Vertreter des wissens- und erwartungsgeleiteten Lesemodells gehen davon aus, dass sich der gute Leser beim Antizipieren von Wörtern auf den Kontext stützt und visuelle Informationen nur selten benutzt. Außerdem beeinflussen übergeordnete Prozesse direkt den Fluss von Informationen auf den unteren Ebenen. Lesen als ein von oben geleiteter Verarbeitungsprozess vollzieht sich in Zyklen von Stichprobenentnahme, Hypothesenbildung, Testen, Bestätigen bzw. Korrigieren und der Integration von Bedeutungen (Goodman 1967; Ehlers 1998: 17ff.; Gósy 2005; Neuland /Peschel 2013).

Wissensgeleitete Modelle gehen folglich davon aus, dass höhere kognitive Teilsysteme, wie das Weltwissen bzw. das Vor- und Kontextwissen, die Ver-arbeitung auf allen Ebenen kontrollieren und beeinflussen. Daher wird Lesen als ein Prozess des Hypothesentestens aufgefasst, „bei dem auf der Grundlage der anfänglich aufgenommenen visuellen Information Erwartungen über die nachfolgende Information aufgebaut und überprüft werden“ (Christmann 2010: 149).

Der kognitive Ansatz, der der Kognitionspsychologie zugrunde liegt, fasst Lesen als einen mentalen Prozess der Informationsverarbeitung und der Sinnentnahme auf. In diesem Sinne ist es ein wesentlicher Unterschied im Vergleich zu früheren Zeiten in Bezug auf das Lesen, dass es nicht mehr als ein primär visueller Wahrnehmungsprozess und eine passive, vom Text deter-minierte Bedeutungsdekodierung betrachtet wird, sondern als die „Fähigkeit, visuelle Informationen aus graphischen Zeichenfolgen zu entnehmen und de-ren Bedeutung zu verstehen“ (Christmann 2015: 22). Diese Definition deutet einen komplexen kognitiven Vorgang an, an dem mehrere Systeme beteiligt sind und der sich in hierarchisch strukturierte Teilprozesse untergliedern lässt. Unter dem Einfluss kognitiver Wissenschaften wurde eine andere Sicht-weise auf das Lesen eingenommen: Es ist kein passiver Vorgang bzw. keine passive Fertigkeit mehr, sondern eine Aktivität bzw. Handlung, ein aktiv–

konstruktiver Prozess der Bedeutungsentnahme, bei dem Lesende das Gele-sene und ihr Vor- und Weltwissen miteinander verbinden und mit dem Text in Interaktion treten. Beim Lesen als Tätigkeit müssen Lesende den Text-anforderungen entsprechend verschiedene Aktivitäten durchführen. Diese

Aktivitäten umfassen u.a. die Wahrnehmung von Sinneinheiten, die Erfas-sung der Funktion der Sinneinheiten, die ErfasErfas-sung des Globalthemas, die Ableitung der Gesamtintention des Textes und die Wahrnehmung verschie-dener Bedeutungsaspekte eines Textes und ihre Einordnung in Zusammen-hänge (Ehlers 1992 und 1998: 11ff.; Christmann 2010: 148).