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Flore in der Unterwelt Eine Spekulation

In document Auf Schmuggelpfaden (Pldal 78-96)

A lfred E b en b au er

(W ien)

„Im M ohrenland gefangen w ar ein M ädel hübsch und fein singt Pedrillo in M ozarts Singspiel D ie E ntführung aus dem Serail' von 1782 und gibt m it dieser R om anze (Nr. 18) das Z eichen zur verabredeten Flucht aus der türkischen G efangen­

schaft. G em einsam m it seiner H errin K onstanze und deren Z ofe B londe ist Pedrillo von Seeräubern entführt und in den O rient an den B assa Selim verkauft w orden. D er B assa versucht die L iebe seiner schönen christlichen G efangenen zu gew innen, doch K onstanze w ill ihrem fernen G eliebten, dem Spanier B elm onte, treu bleiben. D er ist aufgebrochen, um die V erschollene zu suchen und zu befreien. Nun hat er sie im

„M ohrenland“ gefunden. E r schleicht sich in den Palast ein, die E ntführung w ird org an isiert - und durch den bösen A ufseher O sm in en tdeckt und vereitelt. N un sind K onstanze und B elm onte (und ihre D iener) in der H and des m uslim ischen H err­

schers und erw arten den gem einsam en Tod. D ieser Tod bedeutet ihnen freilich W on­

ne und E ntzücken:

Mit dem Geliebten/der Geliebten sterben Ist seliges Entzücken!

Mit wonnevollen Blicken Verläßt man da die Welt. (Nr. 20)

A ls das Paar vor den B assa gebracht wird, m öchte K onstanze für ihren B elm onte ster­

ben: „O laß m ich sterben! G ern, gern will ich den Tod erdulden! A ber schone nur sein L eb en “ (3. A ufzug, 6. A uftritt), und im D uett Nr. 20 w ollen beide Liebenden jew eils die S chuld am Tod des anderen au f sich nehm en:

Belmonte. Meinetwegen sollst du sterben!

Konstanze. Belmont! Du stirbst meinetwegen!

D och der B assa ist großm ütig und entläßt die Liebenden (und ihre D iener) in die H eim at und die F reiheit, denn es sei „ein w eit größer Vergnügen, eine erlittene U ngerechtigkeit durch W ohltaten zu vergelten, als L aster m it L aster tilgen“ . D ie bei­

den freigelassenen P aare preisen den B assa im Finale (3. A ufzug, L etzter Auftritt):

Nichts ist so häßlich wie die Rache;

Hingegen menschlich, gütig sein

1 Mo zart, W. A .: Die Entführung aus dem Serail. Hg. v. Wilh e lm Ze n t n e r. Stuttgart: Reclam, 1949 (= Reclams Universal-Bibüothek, 2667), Nachdr. 2000.

88 Alfred Ebenbauer Und ohne Eigennutz verzeiht, Ist nur der großen Seele Sache!

D as L ibretto von M ozarts O per stam m t von Johann G ottlieb Stephanie d.J. (1741- 1800) und ist eine freie B earbeitung des Stückes B elm ont und C onstanze oder D ie E ntführung aus dem Serail von C hristoph Friedrich B retzner (1746-1807) aus dem Jahre 1781.3 Bei B retzner besteht die Schlußpointe der G eschichte allerdings darin, daß B elm onte sich als unehelicher Sohn des B assa herausstellt, die B egnadigung da­

her eine „natürliche“ Sache ist. D as haben Stephanie (und M ozart) geändert: B elm on­

te ist der Sohn des Todfeindes des B assa, die großm ütige V ergebung w ird dadurch zur großen ethischen G este gegenüber dem Feind und N ebenbuhler.

F ast sechs Jahrhunderte vor M ozarts Singspiel entstand (in F rankreich?) eine G e­

schichte, die ganz ähnlich strukturiert ist. A uch sie erzählt von einer schönen C hristin, die im „M ohrenland“ in einem „S erail“ gefangen ist, von einem orientalischen H err­

scher, der die L iebe der G efangenen begehrt, von einem G eliebten, der die Verlorene sucht und findet, von einem entdeckten B efreiungsversuch und von der B egnadigung und F reilassung des L iebespaares durch den G roßm ut des „h eidnischen“ H errn. Es ist die E rzählung von Flore und Blanscheflur, die in zahlreichen G estaltungen vom 12.

bis ins 16. Jahrhundert in ganz E uropa verbreitet ist.3

In d er Fassung K onrad F lecks,4 die m an gem einhin um 1220 ansetzt,5 liest sich der entsprechende Teil d er G eschichte so: B lanscheflur befindet sich in der H and des A m irals von B abilon und soll ihn heiraten. Sie beabsichtigt allerdings, sich am fest­

gesetzten Tag der H ochzeit das L eben zu nehm en (5734ff.) - so w ie M ozarts K onstanze lieber M artern a ller A rten (Nr. 11) und den Tod erdulden als den ungeliebten B assa Selim erhören will. Flore ist es gelungen, in den Turm einzudrin­

gen, in dem seine geliebte B lanscheflur gefangengehalten wird. D azu hat e r sich als B aum eister ausgegeben, der den Turm verm essen will, um ihn in seiner H eim at nachzubauen (4620ff.) - so w ie auch M ozarts Singspiel den H elden B elm onte „als einen geschickten B aum eister“ (1. Aufzug, 4. A uftritt u.ö.) in den Palast einführt.

A ber anders als in M ozarts Oper, wo d er H arem sw ächter die L iebenden au f der Flucht

2 Das Stück gehört zu den damals sehr beliebten „Türkenopem“, zu denen auch Christoph Willibald Glucks La rencontre imprévue (Die Pilgrime von Mekka) von 1764 und Joseph Haydns L ’incontro improviso von 1775 gehören; vgl Zentner (wie Anm. 1), S. 6f.

3 Zur Übersicht vgl.: Flore und Blancheflur. - In: Kindlers Literaturlexikon beim Deutschen Taschenbuch Verlag, Bd. 5, 1986, S. 3572ff. Vgl. Le f e v r e, Yv e s; La g e, Gu y Ra y n a u dd e; An d e r s o n, Ro b e r t: Autres romans du XIV siècle. - In: Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters. Hg. v. Han s U . Gu m b r e c h t

u. Ul r ic h Mö l k; begr. v. Ha n s Ro b e r t Ja u ssu. Er ic h Kö h l e r. Heidelberg, 1972ff., Bd. IV: Le roman jusq'à la fin du XII' siècle, Teilbd. 1: Partie historique, 1978, S. 266f.

4 Go l th e r, Wo l fg a n g(Hg.): Tristan und Isolde, Flore und Blanscheflur. Bd. 2 (= Deutsche National-Literatur.

Hg. v. J. Kürschner. 164 Bde. Berlin; Stuttgart, 1892-1901, 3. Abt., 1V/2), Neudr. Tübingen; Tokyo, 1974, S. 235-470.

! Vgl. Ga n z, Pe t e r: Fleck, Konrad. - In: Die deutsche Literatur des Mittelalters: Verfasserlexikon. Begr. v.

Wo l fg a n g St a m m l e r; fortgef. v. Ka rl La n g o s c h. 2., völlig neu bearb. Aufl. unter Mitarb. zahlreicher Fachge­

lehrter hg. v. Ku rt Ru h zusammen mit Gu n d o l f Ke il [u.a.]. Berlin; New York: de Gruyter, 1978ff., Bd. 2 (1980), S p. 744ff.

Flore in der Unterwelt 89 ertappt, w erden F lo re und B lanscheflur von einem K äm m erer entdeckt, als sie im T urm (des „S erail“) - keusch - im B ett liegen:6

sie häten wange ze wangen, mund gegen munde gekeret, als ez liep ze rehte leret,

des ir beider herze pflac. (6332ff.)

D er K äm m erer holt den A m iral, der die Liebenden zunächst im S ch laf erschlagen w ill, sie dann aber doch gefesselt vorführen und einkerkern läßt.

A ngesichts des bevorstehenden Todes finden Flore und B lanscheflur T rost in ihrer Liebe:

iedoch den kumber, den sie liten und noch liden miiezen, den kundens wol gesüezen, daz er in vil cleine war;

wan er was gemeine gar durch gemeine minne.

sie duht in dem sinne

der tot erliten als ein wint. (6526ff.)

F ü r sie ist das gem einsam e Sterben - wie für K onstanze und B elm onte - kein Schm erz.

U nd w ie die beiden O pernhelden M ozarts jew eils für den anderen sterben m öchten, so w ill vor dem G ericht des A m irals Flore für B lanscheflur und B lanscheflur für F lore in den Tod gehen; beide haben nur eine Sorge, das Leid des anderen. D er Zauberring Flores, der im stande ist, das Leben zu retten, wird buchstäblich zum Stein des A nsto­

ßes, als die Liebenden in Streit geraten, w er von ihnen nun zuerst sterben soll:

Sus huop sich durch des tödes nit ein wortwehselicher strit under in beiden

und moht sich niht gescheiden, wem das vingerlin belibe (6765ff.)

- bis B lanscheflur den R ing w egw irft (6780f.). B eim G ericht bekom m en alle A nw esenden M itleid m it dem ju n g en L iebespaar, nur der A m iral bleibt - län g er als M ozarts B assa Selim - hart:

dö was der amiral versteinet an sime herzen harte (6978f.)

E r fällt das Todesurteil und läßt einen Scheiterhaufen errichten. D och au f Bitten eines H erzogs w erden die L iebenden erneut vorgeführt. D er A m iral fragt, w oher F lore denn kom m e; der antw ortet, er sei aus Spanien, und e r sei ausgezogen, seine G eliebte zu finden und zu befreien. N un bittet er für B lanscheflur um G nade, er selbst w olle gerne sterben. D as w ill nun B lanscheflur nicht, m an solle Flore begnadigen. A ls sich der A m iral das S chw ert reichen läßt, um beide zu töten, streckt ihm B lanscheflur den

6 Zur Liebeskonzeption vgl. Ja c k so n, Tim o t h y: Religion and Love in „Flore und Blanscheflur". - In: Oxford German Studies 4 (1969), S. 12ff.

90 Alfred Ebenbauer

H als hin, aber Flore tritt dazw ischen, er m öchte - als M ann - zuerst sterben. D ann drängt sich w ieder B lanscheflur vor:

si zöch her und er hin

beidiu gegen dem swerte. (7190f.)

D ie Z usehenden erfaßt M itleid, und endlich läßt sich auch der A m iral erw eichen:

doch wart sin ungemüete

zu jungest senfte und weich. (7206f.)

E r verzeiht den L iebenden und gibt - großm ütig w ie M ozarts B assa Selim - Flore die G eliebte zur G em ahlin (7488ff.). N ach den H ochzeitsfeierlichkeiten kehren Flore und B lanscheflur in ihre spanische H eim at zurück.

D ie Ü bereinstim m ungen zw ischen M ozarts Singspiel und der m ittelalterlichen E rzäh ­ lung sind so frappierend, daß es sich lohnen w ürde, stoffgeschichtlichen Z usam m en­

hängen nachzuspüren. D och das ist nicht das Z iel m einer folgenden Spekulationen.

M ozarts bekannte O per sollte nur als „F olie“ dienen, um einige B esonderheiten der F lore-B lanscheflur-G eschichte deutlich zu m achen.

So w ie in M ozarts O per läßt sich eine „E ntführung aus dem S erail“ - oder aus B abi- lon - darstellen. So funktioniert eine sentim entale L iebes- und T rennungsgeschichte, die durch die große G este eines „edlen H eiden“ auch noch eine ethisch-m oralische D im ension gew innt.

D ie G eschichte von Flore und Blanscheflur bietet aber einiges mehr: In M ozarts Sing­

spiel erfährt m an nur, daß K onstanze bei einem Seesturm in Piratenhände gelangte und dann an den B assa verkauft w urde; die H andlung w ird - w ie in vielen T rennungsge­

schichten - durch ein (M eeres-)U nglück in B ew egung gesetzt, das Stück beginnt erst, als B elm onte (durch B riefe Pedrillos herbeigerufen) die gefangene G eliebte bereits im O rient gefunden hat (1. A ufzug, 4. A uftritt). W ie er aus Spanien dorthin gelangt ist, w ird nicht behandelt und braucht auch nicht behandelt zu w erden.

Im F lore-R om an ist das anders. N icht ein Sturm trennt das L iebespaar, sondern Flores E ltern w ollen die M esalliance ihres Sohnes m it der christlichen S klaventochter B lanscheflur nicht zulassen. D er spanische K önig will B lanscheflur zunächst erschla­

gen lassen (879), doch a u f Intervention der K önigin w ird Flore w eggeschickt (857ff.), dam it er B lanscheflur vergesse. Als das nichts hilft, denkt der K önig erneut an eine H inrichtung des M ädchens (1454); diesm al rät die K önigin, B lanscheflur in den O rient zu verkaufen (1501 ff.).7 F ür einen w ertvollen Pokal, dessen G eschichte und dessen A ussehen ausführlich geschildert w erden (1557-1972),8 gelangt das M ädchen in die H ände von K aufleuten, die sie an den babilonischen A m iral verkaufen, der sie in einem Turm besliezen läßt (1690f.).

D as ist eine (gegenüber M ozarts Singspiel) andere und ausführlichere B egründung

7 Zum Thema der ‘Käuflichkeit’ in den Floris-Romanen vgl. Schmid, Elisabeth: Über Liebe und Geld. Zu den Floris-Romanen. - ln: B o v e n s c h e n , Silvia [u.a.] (Hg.): Der fremdgewordene Text. Festschrift für Helmut Brackert zum 65. Geburtstag. Berlin; New York, 1997, S. 42ff.

* Dazu Kasten, Ingrid: Der Pokal in „Flore und Blanscheflur". - ln: Haferland, Harald; Mecklenburg, Michael (Hg.): Erzählungen in Erzählungen: Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit.

München, 1996, S. 189ff.; vgl. auch Schmid (wie Anm. 7), S. 46f.

Flore in der Unterwelt 91 für die G efangenschaft der H eldin in einem orientalischen H arem . D ieser erste Teil der E rzählung gibt dem T ext auch eine andere - ich w ürde sagen - „m ythische“

Q ualität o d er zum indest eine zw eite Sinnebene. D as m öchte ich zeigen.

B lanscheflurs L eben ist in Gefahr, sie ist Todeskandidatin; zw eim al soll sie nach dem W illen des spanischen K önigs um gebracht w erden. D azu kom m t es nicht, sie w ird in die Frem de verkauft. D ieser V erkauf in den O rient substituiert sozusagen die H inrichtung B lanscheflurs.9 F ü r den heim kehrenden Flore aber ist die G eliebte tat­

sächlich gestorben. A ls er w ieder an den H o f kom m t, findet er nicht B lanscheflur, sondern ih r (von K onrad Fleck ausführlich beschriebenes: 1947-2117) G rabm al, und e r erfährt von B lanscheflurs M utter:

ez ist gevam als got gebot,

Blanscheflur ist nü lange tot. (2157f.)

D en (verm eintlichen) Tod Flores hat dessen M utter inszeniert: M an sollte ein G rabm al bauen und F lore bei der H eim kehr sagen, „daz B lanscheflür tot si“ (1938).

D ie K önigin fürchtet näm lich, daß Flore „im selben tuo den grim m en tot vor leide“

(1918f.), w enn er von B lanscheflurs V erkauf erfahre - als ob der (augenscheinliche) Tod der G eliebten ein geringerer Schm erz sei als ihr (tatsächlicher) V erkauf in den O rient. A u f dem G rabm al steht jedenfalls geschrieben:

hie lit Blanscheflür diu guote, die Flore minte in sinem muote, und si in ze gelicher wis. (211 lff.)

Flore w ird vo r S chm erz im m er w ieder ohnm ächtig (2166ff.; 2227ff.), er w eint, ja m ­ m ert und m acht dem Tod bittere V orwürfe (2191 ff.); er hadert m it G ott (2 2 4 lff.) und beklagt in einem großen M onolog die U ngerechtigkeit des — personifizierten - Todes:

owe Tot, dir was ze gäch.

du kanst wol unbescheiden sin, daz du mir nxm minfriundin, diu mir zer werlde wart gegeben.

si sollte ewecliche leben.

du solltest si hän verborn und mähtest iemen hän erkom, der din vor alter küme erbite;

wan daz diz ist din alter site, den du hie wol erzeiget hast, daz dü so manegen leben last, der lange siech von alter ist.

dü fliuhest, dem dü liep bist, din gewalt muoz schinen anderswä;

bistü leit, dü kumest sä.

daz ist ein verfluochet art.

owe daz dir ie geben wart

an Blanscheflür dehein gewalt! (2301 ff.)

9 Sc h m id, S. 45, formuliert das so: „Der Tod, das irreversible Faktum, die unengeltliche Qualität schlechthin, wird ermäßigt zum Verkauf, eine Tat, die sich zwar nicht ungeschehen, ein Akt jedoch, der sich - möglicher­

weise - rückgängig machen läßt.“

92 Alfred Ebenbauer

Von S chm erz überw ältigt, m öchte Flore m it seinem Schreibgriffel Selbstm ord bege­

hen, d er G eliebten nachsterben. D och die M utter hält ihn zurück:

sterben ist niht so guot, daz dich dunket süeze, swer sterben sol, ern miieze liden sölhe swxre,

möht ez werden wandelbxre, swenn er des tödes bekort, daz er al der werlde hört niht für die gedinge nxme, daz er wider in die werlt ka:me nackent, blöz, an allen rät, und lebete baz in swacher wät kume und ermecliche,

dan er sturbe lobeliche ... (2402ff.)

D er frühe, unerw artete Tod der G eliebten und der W unsch F lores, ihr nachzusterben - das ist das T hem a dieses A bschnitts der ‘F lo re ’-Erzählung.

M ich erin n ert das an den p lö tzlich en Tod E urydices, die in O vids M eta m o rp h o sen (X 3ff.)'° ju n g und unerw artet stirbt, „in die Ferse vom Z ahn einer S chlange gebissen“

(X 10). O rpheus m öchte m it der geliebten Gattin sterben, w enn der Fürst, „w elcher die düsteren Reiche der Schatten beherrscht“ (X 16), ihm Eurydice nicht zurückgeben sollte.

Wehrt das Geschick für die Frau mir die Gnade, so kehr ich entschlossen Nimmer zurück: ihr mögt euch am Tod von beiden erfreuen. (X 38f.) D ie A usgangssituation - so „allgem ein“ sie sein m ag - ist identisch. D och dam it scheint die B eziehung d er F lore-G eschichte zum O rpheus-M ythos auch schon w ieder am E nde zu sein.

O rpheus will zunächst sein L eid ertragen, doch „A m or w ar stärker“ (X 26), und so m acht er sich auf, die tote G attin aus dem Totenreich zurückzuholen:

Lange beweint sie der Sänger am Rhodopeberge auf dieser

Erd. Dann steigt er er will’s auch im Reiche der Schatten versuchen -Mutig hinab durch das Taenarontor zum stygischen Strome. (X 11 ff.) D as ist für Flore so nicht m öglich, denn B lanscheflur ist — anders als die G attin des O rpheus - nicht gestorben, sie w urde „nur“ in die Frem de verschachert. Flores M utter sieht sich angesichts d er Selbstm ordabsichten des Sohnes gezw ungen, ihm die W ahrheit zu sagen:

si lebet noch, swä si si,

entweder verre oder hie bi. (2501 f.)

D as prächtige G rab ist leer, ist T äuschung. So m acht sich Flore au f den W eg, eine L ebende zu suchen und sie aus dem „H eidenland“ heim zuholen. E r braucht nicht ins T otenreich hinabzusteigen w ie O rpheus. O der doch?

10 P u b u u s O v id iu s N a s o : Metamorphosen. Übers, u. hg. v. Hermann Breitenbach. Mit einer Einleitung von L. P. Wilkinson. Stuttgart: Reclam, 1988 (= Reclams Universal-Bibliothek, 356).

Flore in der Unterwelt 93 W er und w as aber ist dieser babilonische A m iral? Wo und bei w em ist das M ädchen gefangen? Ist sie „nur“ - w ie M ozarts Konstanze - im „M ohrenland“ festgehalten?

B la n sc h e flu rs G e fä n g n is ist ein p rä c h tig e r T urm in B a b ilo n (a u sfü h rlic h e B eschreibung 4170ff.), d er nach Elisabeth Schm id als „ein W underw erk der A rchi­

tek tu r“ m it B lanscheflurs G rabm al „korrespondiert“.1' In diesem Turm w ird sie m it zahlreichen anderen schönen M ädchen festgehalten; aber sie ist von jeg lich er K om m unikation abgeschnitten und

[...] in so starker huote, daz mit ir weder wtp noch man ze rede niemer komen kann, weder cristen noch beiden.

daz will ich iu bescheiden. (4146ff.)

D er T urm ist fü r B lan sch eflu r ein O rt des S chw eigens od er zu m in d est ein O rt der v ö llig en K o n ta k tlo sig k e it m it der A u ß en w elt, ein O rt d er A b g e sc h ie d e n h e it und des T o d e s.12

D er Tod ist in diesem Turm B lanscheflurs unausw eichliches Schicksal. E s ist aber nicht der (von ihr angekündigte) Tod von eigener H and, um der L iebe des A m irals zu entgehen, auch nicht d er heroische M artertod d er K onstanze, sondern d er unaus­

w eichliche Tod, der ihr gerade als der zukünftigen G eliebten und G em ahlin des A m irals droht. D er A m iral hat näm lich einen sehr seltsam en B rauch: Jedes Jah r w ählt e r eine G eliebte, die m it ihm ein Jahr lang die K rone trägt. D er Preis dafür ist das Leben der E rw ählten, denn:

so muoz si leider die ere koufen harte tiure:

er heizet si in eime fiure oder sus Verliesen, also muoz st kiesen den tot zuo ir järgezit durch daz er es hxte nit, soll iemer dekein man kein wip, die er ie gewan, nach im gewinnen. (4374ff.)

D er A m iral will also nicht, daß jem an d nach ihm seine Frau besitzen solle. D as m ag eine einleuchtende B egründung für die Tötung der „E xfrauen“ sein. W arum aber w echselt der H err des Turm es jäh rlich seine G attin?13

Jedes Jahr, w enn der A m iral eine neue G eliebte braucht, ruft er alle Fürsten in seinem B aum garten zusam m en, dam it sie sehen können, w ie er unter den M ädchen, die im Turm sind, „sin äm ie“ ausw ähle (4390ff.). D er O rt der B rautw ahl, der B aum garten,

" Sc h m id(wie Anm. 7), S. 54, Anm. 10. Schmid schreibt irrtümlich „Flores Grabmal“.

12 Im Verlauf der Handlung erweist sich diese Behauptung allerdings als unrichtig, denn Blanscheflur hat mit ihrer Freundin Claris und anderen Personen durchaus Kontakt.

15 Ka ste n (wie Anm. 8), S. 192, Anm. 16, weist darauf hin, daß auch der Sultan der Rahmengeschichte von Tausendundeine Nacht jeden Tag eine neue Ehefrau zu heiraten und die Vorgängerin zu töten pflegt, ein Schicksal, das auch Sheherazade droht. Vgl. dazu Gr o t z fe l d, He in z und So p h ia: Die Erzählungen aus 'Tausendundeine Nacht'. Darmstadt, 1984 (= Erträge der Forschung, 207), S. 50ff.

94 Alfred Ebenbauer

ist ein locus am oenus und kennt w eder Som m er noch W inter; der V ogelgesang m acht jed erm an n fröhlich und heiter, der D uft von W urzeln bringt „hochgem üete“ (4125), die B äum e sind voll von O bst; er ist von einer M auer um geben, um die d er Eufrätes m it edlen G esteinen fließt, dessen W asser

daz ist so tief und also breit, daz sie jehent mit wärheit, daz niht lebendes, ez enfliiege, in den garten kumen müge. (4445ff.)

In diesem G arten, in den also (außer V ögel) nichts L ebendiges kom m en kann, findet nun die A usw ahl d er G attin des A m irals für das jew eils nächste Jah r so statt (4449ff.):

In der M itte des G artens steht ein B aum , der „ist über jä r b ebluot / von röten bluom en als ein bluot“ (4452f.); darauf singt Tag und N acht die Nachtigall, und im Som m er und im W inter behält der Baum seine Blätter. Jahres- und Tageszeiten sind außer Kraft gesetzt, es gibt nur Dauer, keine Veränderung, keinen W echsel, keine Zeit. U nter dem Baum entspringt ein kristallklarer Quell, über den die M ädchen steigen müssen.

ist deheiniu danne under in, diu man hat gewunnen, so wirt von dem brunnen der runs ze stunt rehte rot.

swer diu ist, diu muoz den tot kiesen in kurzer frist. (4472ff.)

Bei Ju n g frau en hin g eg en b le ib t das W asser glasklar. D ie M ädchen, die die K euschheitsprobe des B runnens bestanden haben, m üssen sich nun u nter dem B aum im K reis aufstellen.

da ist ir gedinge trüric unde swsere;

wan daz ist unwandelbare, diu da ze frouwen wirt erkorn, si müeze sin verlom

wan daz ist unwandelbare, diu da ze frouwen wirt erkorn, si müeze sin verlom

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