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Zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Vertriebenenfrage

2. Grundlagen

2.4. Zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Vertriebenenfrage

Die geschichts- und kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit der „Vertriebenen“- bzw.

„Umsiedlerfrage“ verlief in den Besatzungsregimen und deren Nachfolgestaaten weitgehend analog zum jeweils spezifischen politischen und ideologischen Umgang mit Flucht, Vertreibung und Umsiedlung. In der BRD wurden Flucht, Vertreibung und der Verlauf der Integration der Heimatvertriebenen bereits seit Anfang der 1950er Jahre wissenschaftlich erforscht und – wohl vor allem auch aufgrund des politischen Gewichts der Heimatvertriebenen – durch finanzielle Förderung des Bundes unterstützt.69 Gerade in der westdeutschen Volkskunde konnte sich die Vertriebenenforschung als Forschungszweig etablieren.70 Die „Volkskunde der Heimatverwiesenen“ (Hanika 1949) orientierte sich in ihren Anfangsjahren zunächst stark an den traditionellen volkskundlichen Methoden des Bewahrens, Sammelns und Dokumentierens71 und widmete sich „in überwiegendem Maße der früheren Lebens- und Überlieferungswelt der Vertreibungsgebiete“, so Elisabeth Fendl.72 Viele Arbeiten dieser Zeit kennzeichneten sich zudem weiterhin durch eine „völkische Diktion“, wie es Tobias Weger formulierte.73 Auch die mehr-bändige historische Dokumentation der Vertreibung aus dem Jahr 1956, in deren Reihe auch ein von Theodor Schieder bearbeiteter Band über das „Schicksal der

69 Ackermann, Volker: Der „echte“ Flüchtling. Deutsche Vertriebene und Flüchtlinge aus der DDR 1945–

1961, Osnabrück 1995, 26. Vgl. außerdem Weger, Tobias: Volkskundliche Vertriebenenforschung.

Versuch einer Bilanz und Desiderate, in: Lozoviuk, Petr; Moser, Johannes (Hrsg.): Probleme und Perspektiven der volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Fachgeschichtsschreibung, Bausteine aus dem Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde 7, Dresden 2005, 103–116.

70 Seit 1955 wurde von einer Fachkommission der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde ein Jahrbuch herausgegeben, das zunächst „Jahrbuch zur Volkskunde der Heimatvertriebenen“ (1955–1962), dann

„Jahrbuch für ostdeutsche Volkskunde“ (1962–1994), seit 1994 „Jahrbuch für deutsche und osteuropäische Volkskunde“ heißt. Siehe ebd., 103.

71 Moser, Johannes: Die Gründung des Münchner Instituts für deutsche und vergleichende Volkskunde.

Ein wissenschaftsgeschichtlicher Blick in die 1950er und 1960er Jahre, in: Moser, Johannes; Götz, Irene; Ege, Moritz (Hrsg.): Zur Situation der Volkskunde 1945–1970. Orientierungen einer Wissenschaft zur Zeit des Kalten Krieges, Münchner Beiträge zur Volkskunde 43, Göttingen 2015, 69–

92, hier 84.

72 Fendl, Elisabeth: Von der Heimatvertriebenenvolkskunde zur Migrationsforschung. Volkskundliche Sichtweisen auf die Integration von Heimatvertriebenen und Flüchtlingen, in: Bendel, Rainer; Janker, Stephan M. (Hrsg.): Vertriebene Katholiken – Impulse für Umbrüche in Kirche und Gesellschaft?, Münster 2005, 49–62, hier 53.

73 Weger: Volkskundliche Vertriebenenforschung 2005, 104.

Deutschen in Ungarn“ erschienen ist, blieb in vielen Bereichen linearen und einseitigen Darstellungsmustern verhaftet.74

Die traditionellen Forschungsinhalte der Vertriebenenvolkskunde wurden mit der zunehmenden Integration der Vertriebenen in die bundesdeutsche Gesellschaft mehr und mehr in Frage gestellt und schienen auch fachlich überholt. Seit den 1970er Jahren wurden daher neue Fragestellungen an die Vertriebenenvolkskunde herangetragen.75 Dies ging einher mit einem Generationswechsel. Hermann Bausinger, Herbert Schwedt und andere76 postulierten eine gegenwartsorientierte Volkskunde, die soziale, kulturelle und gesellschaftliche Aspekte der Vertriebenenaufnahme in den Vordergrund ihrer Forschungen stellte. Fragen zur Interethnik und des Kulturtransfers gewannen in der Folge ebenso an Bedeutung wie Regional- und Lokalstudien über den Verlauf des Integrationsprozesses der Heimatvertriebenen in die bundesdeutsche Gesellschaft.77 Seit den 1980er Jahren entstanden vermehrt Studien mit biographischen Quellen und Ego-Dokumenten als Grundlage.78

Die gegenwärtige empirisch-kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Komplex Heimatvertreibung stellt die Formen der Erinnerung, der Vergangenheitsbewältigung und der Traditionsbildung in den Mittelpunkt der Betrachtung.79 Die

74 Vgl. dazu Beer, Mathias: Die Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa (1953–1962). Ein Seismograph bundesdeutscher Erinnerungskultur, in: Gauger, Jörg-Dieter; Kittel, Manfred (Hrsg.): Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten in der Erinnerungskultur, Kolloquium der Konrad-Adenauer-Stiftung und des Instituts für Zeitgeschichte am 25. November 2004 in Berlin, St. Augustin 2005, 17–36. Außerdem Kaltenecker, Krisztina: Solidarität und legalisierte Willkür. Die Darstellung der Vertreibung der Deutschen aus Ungarn in der Bonner Dokumentation, in: Fata, Márta (Hg.): Das Ungarnbild der deutschen Historiographie, Schriftenreihe des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, Stuttgart 2004, 168–191.

75 Röder: Deutsche, Schwaben, Donauschwaben 1998, 15.

76 Als paradigmatisch gilt ein Beitrag von Herbert Schwedt aus dem Jahr 1974, der die Frage aufwarf, ob die Vertriebenenvolkskunde vor dem Hintergrund der Integrationsentwicklung überflüssig geworden sei. Vgl. Schwedt, Herbert: Ist eine Volkskunde der Heimatvertriebenen überflüssig geworden?, in:

Jahrbuch für ostdeutsche Volkskunde 17/1974, 20–26. Vgl. auch Bausinger, Hermann: Das Problem der Flüchtlinge und Vertriebenen in den Forschungen zur Kultur der unteren Schichten, in: Schulze, Rainer; von der Brelie-Lewien, Doris; Grebing, Helga; (Hrsg.): Flüchtlinge und Vertriebene in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte. Bilanzierung der Forschung und Perspektiven für die künftige Forschungsarbeit, Quellen und Untersuchungen zur Geschichte Niedersachsens nach 1945, Hildesheim 1987, 180–195.

77 Weger: Volkskundliche Vertriebenenforschung 2005, 104.

78 Fendl: Von der Heimatvertriebenenvolkskunde zur Migrationsforschung 2005, 57.

79 Ebd., 59.

Volkskunde wurde jetzt meist in den weiteren Zusammenhang der Migrationsforschung gestellt“ und „richtete sich dabei vor allem auf die subjektive Seite der Erfahrung des 'Wegmüssens'“, so Elisabeth Fendl.80 Seit Mitte der 1990er Jahre sind in der BRD einige Kultureinrichtungen entstanden, die sich der Vertriebenenproblematik und der Geschichte der deutschen Bevölkerung Ostmitteleuropas widmen. Nach §96 Bundesvertriebenengesetzes verpflichtet sich die Bundesregierung zur „Pflege des Kulturgutes der Vertriebenen und Flüchtlinge“ und zur „Förderung der wissenschaftlichen Forschung“.81

Anders als in der BRD wurde in der SBZ und der späteren DDR eine wissenschaftliche Beschäftigung mit den Heimatvertriebenen als revisionistisch eingestuft. Eine Vertriebenenvolkskunde, wie sie sich im Westen zu etablieren begann, wurde in der DDR von Beginn an als Bedrohung für eine „demokratische“ Entwicklung des Fachs betrachtet. Die „Volkskunde des Neubeginns" stand – wie auch andere Wissenschaftsbereiche in der neuen Republik – unter leninistisch-marxistischen Vorzeichen.82 Als paradigmatisch für diesen Kurs gilt ein Vortrag, den der Volkskundler Wolfgang Steinitz 1953 vor der Akademie der Wissenschaften in Berlin hielt. In dem Vortrag formulierte Steinitz einige positionelle Bestimmungen einer

„demokratischen“ Volkskunde für die DDR. Die Vertriebenenvolkskunde lehnte als solche strikt ab. Zwar sei es von wissenschaftlicher Relevanz, Mundarten, Brauchtum und Tradition der „Umsiedler“ zu dokumentieren und den „Prozeß ihrer Eingliederung in die neue Umgebung zu beobachten.“83 Gleichzeitig ging Steinitz aber davon aus, dass die Vertriebenen in der SBZ/DDR „als völlig gleichberechtigte Mitbürger in das geordnete soziale und Wirtschaftsleben eingegliedert“ seien und daher eine

80 Ebd., 60.

81 Weger: Volkskundliche Vertriebenenforschung 2005, 103

82 Mohrmann, Ute: Volkskunde in der DDR während der fünfziger und sechziger Jahre, in: Jacobeit, Wolfgang (Hg.): Völkische Wissenschaft. Gestalten und Tendenzen der deutschen und österreichischen Volkskunde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wien/Köln/Weimar 1994, 375–402, hier 376–

377. Siehe auch Dow, James; Lixfeld, Hannjost: Nationalsozialistische Volkskunde und Vergangenheitsbewältigung, in: Jacobeit, Wolfgang (Hg.): Völkische Wissenschaft. Gestalten und Tendenzen der deutschen und österreichischen Volkskunde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wien/Köln/Weimar 1994, 341–367, hier 350.

83 Steinitz, Wolfgang: Die volkskundliche Arbeit in der Deutschen Demokratischen Republik, Vortrag auf der Volkskundetagung der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin vom 4. bis 6. September 1953, Leipzig 1955, 33.

Vertriebenenvolkskunde, wie sie sich im Westen zu etablieren begann, schlichtweg irrelevant sei. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Heimatvertriebenen hetze zum „Revisionismus, d.h. zur Rückeroberung ihrer ehemaligen Heimatgebiete, zum Krieg gegen Polen und die Tschechoslowakei“ auf und missbrauche die „Anhänglichkeit an ihre alte Heimat“.84 Erst im Laufe der 1980er Jahre öffnete sich die DDR der

„Umsiedlerfrage“. Relevante wissenschaftliche Studien über den Eingliederungsprozess der „Umsiedler“ in der SBZ/DDR entstanden aber erst nach der politischen Wende 1989/1990.85 Gruppenspezifische Aspekte der Umsiedlerintegration in der SBZ sind dennoch bislang nur wenig erforscht. Dies betrifft auch die Frage der Eingliederung der deutschen Umsielder aus Ungarn in der SBZ/DDR.86

Eine ähnliche Entwicklung ist für den wissenschaftlichen Diskurs in Ungarn zu beobachten, der ebenso unter sozialistischen Vorzeichen stand. Bis in die 1960er Jahre wurde die Aussiedlung der Deutschen in Ungarn weitgehend tabuisiert.87 Erst ab Mitte der 1970er Jahre entstanden quellenbasierte Abhandlungen zum Thema, die allerdings weiterhin ideologisch überformt waren. Sie beschrieben die Vertreibungen zwar dokumentarisch, blieben dabei aber weitgehend positivistischen Darstellungsmustern verhaftet und arbeiteten linear-ereignishistorisch.88 Als Grund für die Aussiedlung der Deutschen aus Ungarn wurden in erster Linie außenpolitische Umstände herangezogen,

84 Die westdeutsche Volkskunde leiste dabei „objektive Hilfsdienste“, vor allem, weil die „entsetzlichen Schandtaten der Nazis, die ja eben diese für die Betroffenen tragische Aussiedlung hervorriefen, völlig verschwiegen, ja sogar mit einer Rechtfertigungsglorie umwoben werden.“ Steinitz: Die volkskundliche Arbeit in der DDR, 32.

85 Fendl: Von der Heimatvertriebenenvolkskunde zur Migrationsforschung 2005, 60. Auch Amos, Heike:

Die Vertriebenenpolitik der SED 1949 bis 1990, Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, München 2009, 9–11. An dieser Stelle sei auf Arbeiten von Alexander von Plato, Wolfgang Meinicke, Michael Schwartz, Dierk Hoffmann, Damian von Melis, Manfred Wille u.a. hingewiesen. Weitere Angaben hierzu finden sich unter den Autorennamen im Anhang dieser Arbeit.

86 Eine der wenigen Abhandlungen zum Verlauf der Eingliederung der Deutschen aus Ungarn in der SBZ/DDR stammt von Nora Rutsch. Siehe dazu Rutsch, Nóra: Die Vertreibung von Ungarndeutschen und ihre Integration in der sowjetisch besetzten Zone, in: Hausleitner, Mariana (Hrsg.): Vom Faschismus zum Stalinismus. Deutsche und andere Minderheiten in Ostmittel- und Südosteuropa 1941–

1953, München 2008, 121–135.

87 Seewann, Gerhard: Zur ungarischen Geschichtsschreibung über die Vertreibung der Ungarndeutschen 1980–1996, in: Tóth, Ágnes (Hg.): Migrationen in Ungarn 1945–1948. Vertreibung der Ungarndeutschen, Binnenwanderung und slowakisch-ungarischer Bevölkerungsaustausch, München 2001, 7–15, hier 7f.

88 Tóth, Ágnes: Wo sind noch Lücken? Vertreibung der Ungarndeutschen in der heimischen Geschichtsschreibung. Thematische weiße Flecken, methodische Mängel, in: Grosz, András (Hg.):

Jogfosztások Budaörsön 1944–1948 (Entrechtungen in Budaörs), Budaörs 2010, 31–46, hier 37.

wonach die Vertreibungen eine schlichte Folge internationaler Verpflichtungen gewesen seien. Dieser Argumentation folgend hätten die alliierten Abkommen in den Potsdamer Protokollen der ungarischen Regierung keine andere Option gelassen, als die deutsche Bevölkerung des Landes zu verweisen („Potsdam-Legende“). Darüber hinaus wurde die Teilhabe der ungarndeutschen Minderheit am Faschismus und explizit die breite Mitwirkung der deutschen Bevölkerung im Volksbund der Deutschen in Ungarn (VDU) im offiziellen wissenschaftlichen Diskurs in einen kausalen Zusammenhang mit den erfolgten Vertreibungen gestellt.89 Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass die kitelepítés in der ungarischen Geschichtsschreibung und Volkskunde bis in die 1980er Jahre hinein kaum aufgearbeitet werden konnte. Erst nach der politischen Wende 1989, in Folge dessen der Themenkomplex „Flucht und Vertreibung“ Eingang in die politische und gesellschaftliche Debatte gelangte, entwickelte sich auch in Ungarn eine offene wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Ursachen der kitelepítés.90 Seither konnten einige Arbeiten erscheinen, die sich in unterschiedlicher Schwerpunktstellung mit der Vertreibung, den Bevölkerungstransfers, der Binnenmigration in Ungarn auseinandersetzten.91