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5. Die Erzählungen

5.1. Erinnerungen an die „alte Heimat“

Die im Rahmen der Untersuchung durchgeführten Interviews waren lebensgeschichtlich angelegt. Die Erinnerungserzählungen sollten nicht allein die persönlichen Erfahrungen der Heimkehr, sondern den gesamten Lebensweg der Gewährspersonen erfassen. Eine zentrale Rolle in den Lebensgeschichten spielte deshalb auch die Erinnerung an die „alte Heimat“. Unter diesem Begriff, der das raum-zeitliche Selbstverständnis vieler Vertriebener umschreibt,397 wurden für die abschließende Analyse der Gespräche all jene Erzählinhalte zusammengefasst, die die Erinnerung an das Leben vor der Aussiedlung aus Ungarn behandelten.398 Mit Blick auf die Altersstruktur der Interviewpartner, die in den 1920er und 1930er Jahren in Ungarn geboren worden waren, handelt es sich bei den Erinnerungen an die „alte Heimat“ somit um Kindheits- und Jugenderfahrungen sowie um Erinnerungen an das frühe Erwachsenenalter. Da die frühe Sozialisation im Lebensverlauf identitätsprägend ist, haben diese Erinnerungen in den Lebensgeschichten einen hohen persönlich-emotionalen Stellenwert und sind grundsätzlich positiv konnotiert. Der Duktus der Erzählung über die Jahre vor der Aussiedlung ist deshalb meist durch das Bild einer „intakten Heimat“ bestimmt. Die „alte Heimat“ wird in den Erinnerungen als Ort selbstverständlicher, beinahe natürlicher Strukturen und Ordnungen verstanden, die erst durch das erzwungene Verlassen der Heimat im Zuge der Vertreibungen aus Ungarn radikal aufgebrochen wurden. Gleichsam konnte die dauerhafte Rückkehr in die „alte Heimat“ die dort zuvor erfahrene Lebenswelt nicht wiederherstellen. Das Motiv einer „intakten Heimat“ ist mit Blick auf die Migrationsgeschichte der Betroffenen somit stets in Beziehung zu einer „zerstörten“ oder

397 Die Gegenüberstellung von zweierlei Heimaten – einer „alten“ und einer „neuen“ Heimat – ist ein gängiger Topos in vielen Vertriebenenbiographien. Siehe Fendl, Elisabeth: Zwischen zuhause und daheim. Zum Heimatbegriff von Heimatvertriebenen, in: Haus der Heimat des Landes Baden-Württemberg (Hrsg.): Heimat – Annäherungsversuche, Stuttgart 2007, 21–27, hier 24.

398 Die Unterscheidung in eine „alte Heimat“, bezogen auf die Herkunftsregion der Vertriebenen, und eine

„neue Heimat“, bezogen auf die Aufnahmegesellschaft, wurde nicht nur von den Vertriebenen selbst internalisiert, sondern fand – zumindest in der BRD – auch Eingang in den politischen Diskurs. Siehe dazu das Kapitel „Eingliederung in die neue Heimat“ in: Böke, Karin; Liedtke, Frank; Wengeler, Martin: Politische Leitvokabeln in der Adenauer-Ära, Sprache, Politik, Öffentlichkeit 8, Berlin 1996, 192–195.

„verlorenen“ Heimat zu setzen.399 Diese „Vorher-Nachher“-Erzählweise ist ein charakteristisches Moment in all den hier untersuchten Lebenserinnerungen.400

In den lebensgeschichtlichen Erzählungen erscheint das Bild der „intakten Heimat“ in verschiedensten Erzählweisen, insbesondere in Alltagsschilderungen. Die lebensweltlichen Erfahrungen des Alltags in der „alten Heimat“, so das in den Narrativen vermittelte Bild, waren durch klare soziale Regeln, Normen, Rollen und Wertvorstellungen sowie durch Regelmäßigkeit und Sicherheit bestimmt. Beispielhaft sei hier ein Ausschnitt aus dem Gespräch mit Frau E.M. angeführt, die in ihren Erinnerungen über das Leben in der Gemeinde Nemesnádudvar vor der Aussiedlung berichtete. Ihre Familie besaß einen eigenen Hof und war stets landwirtschaftlich tätig. Noch vor den Vertreibungen lebten viele der hazatértek in Mehrgenerationenhaushalten zusammen mit den Eltern, Großeltern und Kindern.401 Die mittlere Generation kümmerte sich um die Versorgung der Kinder und der Elterngeneration sowie um die Instandhaltung von Haus und Hof.402 Wie Frau E.M. berichtete, bestimmten die Jahreszeiten die Aufgaben im Jahresverlauf. Die Aufgaben und sozialen Rollen waren klar verteilt. Während Männer sich im Winter um die Viehwirtschaft kümmerten, waren Frauen stets für Arbeiten rund um die Instandhaltung des Hofes und den Haushalt zuständig: „Vom Frühjahr bis in den Herbst hat man auf dem Feld gearbeitet und dann als der Winter gekommen ist, die Frauen haben dann gesponnen oder gestrickt und die Männer haben das Viech versorgt und sind dann aufs Feld gefahren, wieder was heimholen, dass sie was zu füttern haben für die Kühe und die Pferde.“403 Ähnlich gelagerte Narrative fanden sich in den Erzählungen wiederholt. Dabei wurde deutlich, dass das Leben in der Gemeinde für die Befragten bedeutete, Teil eines funktionierenden „nachbarschaftlichen und dörflichen sozialen Systems“ gewesen zu sein. Das Gemeindeleben bot den Mitgliedern „Geborgenheit und Vertrautheit, Orientierungssicherheit und damit die fraglose Identität des Selbst- und

399 Vgl. Fendl: Zwischen zuhause und daheim 2007, 24–26.

400 Nach Lehmann, Albrecht: Homo narrans – Individuelle und kollektive Dimension des Erzählens, in:

Brednich, Rolf Wilhelm (Hg.): Erzählkultur. Beiträge zur kulturwissenschaftlichen Erzählforschung.

Hans-Jörg Uther zum 65. Geburtstag, Berlin/New York 2009, 59–70, hier 67.

401 Tóth: Hazatértek 2008, 161.

402 Niem: Alt sein in Nadwar 1990, 192.

403 Interview E.M., 27/20–27/24.

Fremdbildes im Alltag“, wie auch Christina Niem in ihrer Lokalstudie zur Frage des Alt-Seins in der Gemeinde Nadwar herausstellte.404

Die Dorfgemeinschaft erscheint in den Erinnerungen neben der Familie als wesentlicher sozialer Bezugsrahmen der „alten Heimat“. Familiäre und freundschaftliche Beziehungen bestanden insbesondere im Umfeld der Gemeinde und gleichsam innerhalb der lokalen Gemeinschaft der svábok, die in vielen südungarischen Gemeinden die Mehrheit der lokalen Bevölkerung stellte und in sich ein weitgehend selbstständiges soziales System bildete. Das Gemeinschaftsempfinden beruhte dabei insbesondere auf der gemeinsamen Sprache. Deutsch mit den lokal unterschiedlich ausgeprägten Mundarten waren die Alltagssprache der svábok. Ungarisch wurde von vielen Schwaben kaum, häufig gar nicht gesprochen. In den engen sozialen Strukturen der „alten Heimat“ war das Beherrschen der ungarischen Sprache für den Alltagsgebrauch schlichtweg nicht notwendig, wie in den Erinnerungen immer wieder betont wird. Frau B.P. aus der Nahe Mohaćs gelegenen Gemeinde Nagynyárád verwies auf diese Gegebenheit in unserem Gespräch. Während sie selbst im Umfeld der Schule Ungarisch gelernt hatte, konnten ältere Verwandte offenbar nur dann ungarisch sprechen, wenn es für ihre Tätigkeiten einen funktionalisierbaren Nutzen hatte, etwa um auf dem regionalen Markt landwirtschaftliche Produkte zu verkaufen: „Und meine Urgroßmutter, die konnte gar kein Ungarisch, gar nichts, nichts. Die konnte nicht mal guten Tag sagen auf Ungarisch. Die hat zwei Brüder, (–) die mussten immer, wenn sie was zu machen hatten in Mohács, (–) da hatten sie Ungarisch reden können. Hier (in Nagynyárád) war es nicht wichtig.“405 Ähnliche Äußerungen finden sich in den Interviews wiederholt, so etwa in den Erinnerungserzählungen von Frau G.J. aus der Gemeinde Vémend, die als Mädchen aus Ungarn vertrieben worden war. Auf Nachfrage betonte sie, dass sie bis zu ihrer Rückkehr kein Wort Ungarisch gesprochen habe. In den Monaten bevor sie in Ungarn in die zweite Klasse eingeschult wurde, unterstützte sie eine Verwandte beim Lernen der ungarischen Sprache: „Ja, wir haben ja zu Hause nur Deutsch geredet.“406 Auch Herr A.St., dessen Familie vor der Aussiedlung in Györköny im Komitat Tolna lebte, verwies darauf, dass

404 Niem: Alt sein in Nadwar 1990, 210.

405 Interview B.P., 107/8–117/13.

406 Interview G.J., 192/18.

im Umfeld von Familie und Gemeinde allein die deutsche Sprache bzw. die schwäbische Dialektsprache verwendet wurde. Erst im Zuge seiner Einschulung in den frühen 1940er Jahren lernte er Ungarisch: „Mit sieben Jahren konnte ich noch gar kein Ungarisch. Meine Mutter hat nie Ungarisch gekonnt. Mein Vater hat schon Ungarisch gesprochen.“407 Viele Heimgekehrte, insbesondere dann, wenn sie zum Zeitpunkt der Aussiedlung die Schule noch nicht besucht hatten, beherrschten kein oder nur sehr schlecht Ungarisch, da im familiären und freundschaftlichen Umfeld die deutsche Sprache vorherrschte und es im Umfeld der Dorfgemeinden schlichtweg nicht nötig war, Ungarisch zu beherrschen.

Ungarisch musste von ihnen nach ihrer Rückkehr erst neu erlernt werden.408

Wenngleich davon auszugehen ist, dass in vielen Gemeinden Südungarns die deutsch-ungarischen Lebenswelten weitgehend geschlossen existierten und die Heimatorte als Orte relativer Homogenität gelten können, bestanden auch auf lokaler Ebene Kontakte zur ungarisch-sprechenden Bevölkerung und zu anderen minderheitensprachlichen Gruppen.409 Auch diese interkulturellen Beziehungen der „alten Heimat“ werden in den Interviews als intakt und von gegenseitigem Verständnis geprägt beschrieben. So beschrieb Herr J.E. die Situation des Zusammenlebens in der Gemeinde Lippó an der ungarisch-kroatischen Grenze, wo auch einige serbische Familien lebten, als selbstverständlich gut. Zwischen der als unproblematisch erfahrenen Interkulturalität in den Gemeinden und der später aus ethnisch-kulturellen Gründen herbeigeführten Aussiedlung der Deutschen aus Ungarn, offenbarte sich ihm ein krasser Widerspruch:

„Früher haben hier auch fünfundzwanzig serbische Familien gewohnt. Da war kein Streit untereinander. Mein Vater, der hat Ungarisch, Deutsch und Serbisch gesprochen. Perfekt, muss man sagen. Meine Großmutter, die konnte nur Deutsch und Serbisch. Viele Nachbarn waren Serben. Die haben da gewohnt. Die haben nur Serbisch gesprochen miteinander. Das war ganz egal, dass das Serben sind. Da hat es keinen Streit gegeben.

Und nachher auch nicht. Wir sind ja junge Kerle gewesen. Nachher auch nicht.“410

407 Interview A.St., 72/27–72/28.

408 Siehe hierzu auch Punkt 4.8. „Lebensgeschichtliche und soziographische Merkmale der Heimkehr“.

409 Vgl. Bindorffer: Wir Schwaben waren immer gute Ungarn 2005, 83 ff.

410 Interview J.E., 68/30–69/3.

Auffällig scheint, dass der kulturelle Rahmen der „alten Heimat“ in den Erinnerungserzählungen kaum Erwähnung findet. Das spezifisch ungarndeutsche Brauchtum und die ungarndeutschen Feste im Jahresverlauf (etwa Fasching, das Kirchweihfest, das Christkind-Fest, der Namenstag oder das in vielen Gemeinden jährlich stattfindende Schlachtfest) kamen in den Erinnerungserzählungen kaum zur Sprache, wenngleich davon auszugehen ist, dass diese Feste bestimmende Elemente des Alltags in der „alten Heimat“ waren. Zum einen kann angenommen werden, dass sich die Erinnerung an diese soziale Praxis schlichtweg nicht gefestigt hat, da diese im sozialistischen Ungarn schrittweise fallengelassen werden musste und kaum noch ungarndeutsches Brauchtum praktiziert werden konnte. Zum anderen wurden in vielen Regionen Elemente ungarndeutscher Kultur in das ungarische Brauchtum übernommen (etwa das Bethlehemsingen und das Neujahrswünschen), so dass die Verbindung zum kulturellen Deutschtum häufig nicht hergestellt wird und deshalb unter Umständen nicht erwähnenswert erscheint.411 Seit den 1990er Jahren kommt es im postsozialistischen Ungarn vielerorts zu einem Wiederaufleben ungarndeutschen Brauchtums. Die damit einhergehende Revitalisierung ungarndeutscher Identität konstruiert sich häufig nach dem Prinzip „Invention of Tradition“.412