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5. Die Erzählungen

5.7. Zur Lebenssituation in den Aufnahmegebieten

Die allgemeine Lebenssituation in den Aufnahmegebieten wird in den Erinnerungen als schlecht und die Versorgungslage als unzureichend erinnert. In diesem Zusammenhang werden von den Betroffenen häufig – oft auch wiederholend – verallgemeinernde Aussagen herangezogen wie etwa: „Das war so schlecht“537, „Da war nichts zu leben“538 oder „Wir hatten nichts“539. Insgesamt wird der Aufenthalt im besetzten Deutschland von den Betroffenen als „eine schlimme Zeit“540 in Erinnerung behalten, was sich insbesondere auf die existenzielle Angst bezieht, die die Gesprächspartner in dieser Form oftmals erst im besetzten Deutschland kennengelernt hatten. Auf die Frage, wann Frau E.Z. aus Vémend sich überlegt habe, wieder nach Ungarn zurückzukehren, antwortete sie: „Da gab’s keinen Zeitpunkt. Wir hatten nichts zu Essen – nur Elend und Not – und dann sind wir gegangen.“541

Ein gängiges Bild, das von den Betroffenen in den Erinnerungserzählungen vermittelt wird ist, dass alle von ihnen als lebensnotwendig erachteten Faktoren – ausreichend Lebensmittel, Kleidung oder angemessener Wohnraum – im besetzten Deutschland

536 Interview S.T., 98/31–99/5.

537 Interview H.F., 136/31.

538 Interview F.A., 42/15–42/16.

539 Interview G.J., 192/25.

540 Interview E.M., 26/7.

541 Interview E.Z., 30/6–30/7.

schlichtweg nicht in dem ihnen aus ihrer Heimat bekannten Maß vorhanden waren.

Gerade in der existenziellen Krise, die man nun in den Aufnahmegebieten erfahren hatte, offenbarte sich für sie die Alterität zwischen Heimat und Exil.542 In den Erinnerungserzählungen wurden in diesem Zusammenhang immer wieder Vergleiche zu den Lebensverhältnissen in Ungarn vor der Aussiedlung herangezogen: „In Ungarn war doch alles besser“.543 So sagte Frau E.M. über die Situation im sächsischen Ebersdorf:

„Ich weiß nicht mehr, wie viel Gramm Brot wir täglich bekommen haben. Kartoffeln, das hat’s gegeben. (–) Nur Kartoffeln mit nichts, das waren wir nicht gewohnt. Wir haben Schweine geschlachtet. Jedes Jahr so viel wie die Familie gebraucht hat. Dort gab es nichts.“544 Auch Herr F.A. berichtete, dass er die Lebensverhältnisse in Ungarn zur selben Zeit als besser befunden habe. Er betonte in seinen Ausführungen, dass durch die Einwirkungen des Krieges das Umfeld der Aufnahmeregion von Grund auf zerstört war.

Gleichzeitig war ihm bewusst, dass in der Heimat in Ungarn die „alten“ Strukturen weiterhin Bestand hatten. Erst später habe sich die Situation in Ungarn verschlechtert, wie er berichtete: „Das war eine große Armut in Deutschland, das war eine große Armut.

Ich bin mehrmals nach Dresden gefahren. Also, wie das Dresden ausgeschaut hat, das kann man sich nicht vorstellen. Das war ja so verhauen mit Bomben. Das haben sie doch in zwei Stunden hingemacht. Das war eine große Armut. Und hier in Ungarn war es zur selben Zeit schon sehr gut. Später ist es hier in Ungarn immer schlechter geworden.“545 Und auch Frau F.H. berichtete über die Lebensbedingungen und die Versorgungssituation in Aufnahmegemeinde: „Überall war eine große Armut und nichts zu Essen. Das war es.

Und wir Leute, wir hatten es doch hier. Wir haben uns das (an)gebaut, was wir hatten“, berichtete Frau F.H.546

542 Siehe Schröder: Topoi des autobiographischen Erzählens 2005, 29–33.

543 In remigrationstheoretischen Arbeiten wird in diesem Zusammenhang von relativer Deprivation gesprochen: „Die relative Unzufriedenheit (relative Deprivation) entsteht aufgrund eines individuellen Vergleichs eines reellen Einkommens einer Person im Herkunftsland mit einem möglichen Einkommen, das die vergleichbaren Berufsgruppen sowohl im Herkunfts- als auch im Einwanderungsland erzielen können.“ 19

544 Interview E.M., 13/32–14/6.

545 Interview F.A., 43/5–43/10.

546 Interview F.H., 184/1–184/2.

Noch in der ungarischen Heimat besaßen viele ausgesiedelte Deutschen eigene Höfe und gut funktionierende landwirtschaftliche Betriebe. Die auf diesen Ländereien erwirtschafteten Erträge machten sie weitestgehend unabhängig von der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung. In den Aufnahmegemeinden sahen sich die Ausgesiedelten nun in Abhängigkeit von den dort ansässigen Bauern, von staatlichen Auftragsarbeiten, von Arbeit in der industriellen Produktion, im Bergbau oder in der Demontage von Industrieanlagen.

Die Gegenüberstellung der in den Aufnahmegebieten erfahrenen Lebenssituation mit der zuvor in der Heimat erfahrenen Lebenssituation dient in den Erinnerungserzählungen als Rechtfertigung für die Heimkehr. Aus Sicht der Befragten war der Entschluss zur Rückkehr nach Ungarn auch eine Reaktion darauf, dass die Lebensbedingungen in Deutschland aus existenzieller Sicht als ungleich schlechter empfunden wurden als die in Ungarn vor der Aussiedlung vorgefundenen Verhältnisse. Auf meine Nachfrage, warum sich Herr F.A. zu einer Rückkehr nach Villány entschieden habe, obwohl er davon ausgehen musste, dass er in Ungarn nichts mehr besitzen würde, antwortete er: „Wir hatten da draußen in Deutschland ja auch nichts. Soviel wie halt in ein Paket reinpasst.

Jeder hatte zwei Pakete, mit denen sind wir zurückgekommen. Zur selben Zeit – das war 1947 als wir ausgeliefert wurden, 48 im Sommer sind wir zurückgekommen – schon 47 war es so gut hier in Ungarn. In Ungarn war es im Allgemeinen schon viel besser. In Deutschland aber, da war nichts zu leben. Das war sehr schlecht in Deutschland damals.

Und hier in Ungarn war schon alles in Hülle und Fülle. Und dann sind wir zurückgekommen.“547 Auch Herr J.E. betonte, dass die Entscheidung zur Rückkehr für ihn auch aus rein existenziellem Interesse zustande gekommen war: „Ich wusste ja, dass es hier in Ungarn besser ist. Hier war zu Essen und alles andere war auch noch da. Wir haben doch hier gewohnt in Ungarn. Wo wir weggefahren sind, da haben wir drei Schweine geschlachtet – große Schweine. Da gab’s Wurst und Schinken und Speck. Wir tun heute noch drei Schweine schlachten jedes Jahr. Wir müssen nicht in den Laden. Wir machen das alles selber.“548 Im weiteren Verlauf des Gesprächs sagte er: „Da draußen

547 Interview F.A., 42/12–42/17.

548 Interview J.E., 66/16–66/20.

hatten wir so einen schlechten Stand gehabt. Das hat man gar nicht aushalten können.

Immer Hunger und nichts zu essen hatten wir. Das hat auch nach Hause getrieben.“549 In den Erzählungen wird die in den Aufnahmegebieten erfahrene existentiellen Krise oft ausführlich besprochen. Zwar wird darauf hingewiesen, dass Armut, Mittellosigkeit und Hunger nicht im Speziellen die Gruppe der Vertriebenen und „Umsiedler“ betraf, sondern in gleichem Maße auch die ansässige Bevölkerung. Gleichzeitig aber wird betont, dass sie als Vertriebene bezüglich der Verteilung der begrenzten Ressourcen in der Aufnahmebevölkerung als zusätzliche Bürde und Konkurrenten galten und ihnen aufgrund dessen nur wenig Solidarität entgegengekommen sei. Die prekären Verhältnisse haben aus ihrer Sicht letztlich auch der sozialen Desintegration in den Aufnahmeregionen Vorschub geleistet. Deutlich wird dies auch in den Erinnerungen von Herrn J.R., der zusammen mit seiner Familie in der Nähe von Meißen angesiedelt worden war: „Und in das Dorf, wo wir sind hingekommen dort, hat die Frau, die in dem Haus geholfen hat, die was da gewohnt hat, die die Wirtschaft bearbeitet hat, da hab ich einmal Kartoffeln gestohlen. Da war so ein großer Kessel, vier oder fünf Krumpli hab ich rausgenommen.

Die brauchen wir für die Säu', hat sie gesagt. Für die Schweine brauchen wir die Kartoffeln.“550

Bestimmte Erinnerungsbilder tauchen in den Erzählungen zur Erfahrung von Armut in den Besatzungszonen gehäuft auf. So ist das „Hamstern“ ein wiederkehrendes Motiv in der Erinnerung an die in den Aufnahmeregionen erfahrenen existentiellen Not. Die schlechte Versorgungslage zwang viele Menschen, insbesondere jene die in den Städten lebten, dazu, auch abseits der Erntezeiten die Felder und Obstwiesen nach Essbarem zu durchforsten. In den Erzählungen wird dieses Erinnerungsbild immer wieder verwendet, um die Ausnahmeerfahrung einer existenziellen Notlage zu unterstreichen. So berichtete Herr J.E., der nahe Zwickau untergekommen war: „Wenn sie gesehen hätten, wie im Herbst die Bauern die Kartoffeln rausgemacht haben dort. Aus der Stadt sind die Menschen gekommen und haben so kleine Hacken mitgebracht und haben dann winzige Kartoffeln zusammengelesen. Die Menschen, die in der Stadt gewohnt haben, die hatten alle einen Rucksack an und haben vielleicht drei Kilo Kartoffeln zusammenlesen können.

549 Interview J.E., 69/6–69/8.

550 Interview J.R., 165/4–165/7.

Vielerorts war’s so, da hat der Bauer draußen seinen Hund angebunden und wenn die Leute gekommen sind, die rausgekommen sind, um Kartoffeln zu lesen, die mussten weggehen.“551 Auch Frau E.M., deren Familie in der sächsischen Gemeinde Ebersdorf angesiedelt worden war, bezog sich in ihren Erinnerungen auf das „Hamstern“: „Man konnte keinen Faden, keine Nadel, kein gar nichts konnte man kaufen in dem Ort. Die sind nicht umsonst verrückt geworden. Die waren doch dann immer neidisch, weil es im Westen was gab und bei ihnen gar nichts. Die waren deswegen sehr, sehr böse. (–) Das musste man mitmachen, dass man das verstehen kann. (–) Die waren sehr böse über uns auch, weil wir ihre kleine Armut noch aufessen halfen. Der Bauer, der hat Kartoffel geerntet und der hatte ein kleines Grundstück, aber da waren schon fünfzig oder hundert Leute gewesen (–) Wie der Bauer dann aufgehört hat, da haben sie noch mit der Hacke noch gesucht, dass sie vielleicht zwei oder drei Kartoffeln finden in dem Boden. So eine schlimme Zeit war das.“552

In den Erinnerungen wird in diesem Zusammenhang auch häufig vom System der Rationierung von Lebensmitteln und anderen lebensnotwendigen Gütern durch die Vergabe von Versorgungs-Karten berichtet. Lebensmittel, Heizmaterialien, Kleidung und Ähnliches wurden nach bestimmten Kriterien an Bedürftige ausgegeben.553 Aufgrund der allgemeinen Notlage und des Geldwertverfalls waren die Ankömmlinge aus Ungarn auf die Annahme von Lebensmittelkarten angewiesen. Die Diskrepanz zwischen

„alter“ und jetzt „neuer Heimat“ offenbarte sich hierin besonders deutlich. Die Betroffenen standen im Umfeld der „neuen Heimat“ in einem Abhängigkeitsverhältnis, das ihnen in dieser Form aus der ungarischen Heimat bis dato nicht bekannt war. In den Erzählungen wird der Hinweis auf das System der Lebensmittelrationierung deshalb häufig dazu herangezogen, die schlechte Versorgungslage in den Aufnahmegebieten zu unterstreichen. So berichtete Herr A.St., dessen Familie aus Györköny im Komitat Tolna ausgesiedelt worden war: „Damals haben wir nicht viele Sachen gehabt. Ein bisschen Brot haben wir bekommen. Essensmarken haben wir bekommen. Fleisch gab’s überhaupt

551 Interview J.E., 66/29–67/4.

552 Interview E.M., 27/3–27/7.

553 Siehe hierzu Punkt 4.6. „Ankunft und Aufnahme“.

nicht. In einem Monat vielleicht einmal. Das war nicht so toll.“554 Und auch Herr L.H. aus Elek, der in die amerikanische Zone ausgewiesen worden war, bezog sich in seinen Erinnerungen auf System der Rationierung: „Und da war kein zu Essen. Karten waren in Deutschland, Esskarten. Schwerarbeiter und so. (–) Und wenn du keine Schwerarbeit gemacht hast, dann weniger Brot. Das war vorgeschrieben wie viel Brot und alles... so war das.“555 In den Erinnerungen von Frau A.E. aus Nagynyárád wurde die Lebensmittelrationierung direkt mit dem Rückkehrwunsch verknüpft: „Wir hatten Lebensmittel auf Karten. Hunger hatten wir – kein Obst, kein nix. Das hat auch viel damit zu tun, warum wir dann zurück sind.“556 Es zeigte sich deutlich, dass Armut und Hunger in den Aufnahmegebieten zu einer alltäglichen Erfahrung wurden. Für die Betroffenen war diese Situation gänzlich neu und konträr zu den lebensweltlichen Realitäten der

„alten“ Heimat. Der Wunsch nach Rückkehr in die Herkunftsgemeinden wurde hierdurch bestärkt.

In der Hoffnung auf die Möglichkeit bald wieder in den Heimatort zurückkehren zu können, richteten viele Vertriebene sich nur provisorisch ein.557 Zudem versuchten sie sich während ihrer Zeit in Deutschland finanziell, wie materiell nicht zu belasten. So lehnten die Befragten nach eigenen Angaben die staatlichen Hilfsangebote grundsätzlich ab, bzw. versuchten sie diese so wenig als möglich auszuschöpfen. Mit dem Argument, dass man ohnehin kein richtiger Deutscher sei und sich deswegen nicht am deutschen Staat bereichern dürfe, verweigerten die Heimgekehrten jedwede Form staatlicher Hilfe.

So lehnte auch die im württembergischen angesiedelte Familie von Frau M.B.T. die Lastenausgleichszahlungen prinzipiell ab, die in Westdeutschland ab 1952 an

„Neubürger“ ausgezahlt wurden: „Wir haben gesagt, wir sind eine ungarische Familie und deswegen haben wir keinen Lastenausgleich in Anspruch genommen. Das hat man ja in Deutschland so geregelt. Weil meine Großeltern haben immer gesagt, dass wir kein

554 Interview A.St., 70/18–70/20.

555 Interview L.H., 194/13–194/15.

556 Interview A.E., 50/10–50/11.

557 Siehe Hampe, Henrike: Flüchtlinge und Vertriebene aus Südosteuropa im Nachkriegsdeutschland, in:

Hampe, Henrike (Hg.): Heimat im Koffer. Flüchtlinge und Vertriebene aus Südosteuropa im Nachkriegsdeutschland. Begleitheft zur Ausstellung im Donauschwäbischen Zentralmuseum Ulm, Ulm 2008, 31–61, hier 46.

Recht haben etwas vom deutschen Staat zu bekommen, unser Vermögen sei hier in Ungarn.“ 558