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4. Kontexte

4.2. Kollektivschuldthese, Bodenreform und Aussiedlungspläne

Ungarn hatte schwer an den Folgen des Krieges zu leiden. Infrastrukturen, Wohnraum, die Industrie und die Landwirtschaft waren zum großen Teil zerstört. Hinzu kam, dass sich nach Kriegsende viele Flüchtlinge in Ungarn aufhielten. In den unmittelbaren Jahren nach dem Krieg kamen rund 125.000 ethnisch ungarische Flüchtlinge aus Rumänien, bis zu 120.000 aus der damaligen Tschechoslowakei, 45.000 aus Jugoslawien, und weitere 25.000 Flüchtlinge aus der UdSSR ins Land.239 Die Unterbringung und Versorgung stellte die ungarischen Behörden und gleichsam auch die ungarische Gesellschaft vor große Probleme. Wohl auch als Reaktion auf die sozialen Missstände der Nachkriegsjahre setzte sich landesweit eine anti-deutsche Stimmung durch. Zunehmend war die deutsche Bevölkerung Ungarns Repressionen, Hetzkampagnen und Anfeindungen ausgesetzt.240 In weiten Kreisen der ungarischen Öffentlichkeit wurde den Deutschen in einem pauschalen Urteil Schuld und Verantwortung an dem verlorenen Krieg, den Zerstörungen und Kriegsverbrechen zugesprochen. Diese kollektive Schuldzuweisung basierte in Ungarn – wie in allen mittel- und osteuropäischen Staaten, in denen nach 1945 Vertreibungen durchgeführt wurden – auf den völkisch ausgerichteten Vorstellungen der Vorkriegsjahre und der schlichten Gleichsetzung von Deutschtum und Nationalsozialismus.241

Das Engagement vieler svábok im VDU und in der SS galt als wesentliches Indiz ihrer Täterschaft. Die Auffassung, dass sich die im Land lebenden Deutschen als „fünfte

238 Siehe dazu Gonda: Ungarndeutsche Geschichte auf Mikroebene 2013, 171.

239 Gyarmati, György: Aussiedlung der Deutschen aus Ungarn 1945–1947, In: Brandes, Detlef;

Ivaničková, Edita; Pešek, Jirí (Hrsg.): Erzwungene Trennung. Vertreibung und Aussiedlung in und aus der Tschechoslowakei 1938–1947 im Vergleich mit Polen, Ungarn und Jugoslawien, Essen 1999, 271–

275, hier 271–273.

240 Gonda: Ungarndeutsche Geschichte auf Mikroebene 2013, 172.

241 Swanson: The Second World War and Its Aftermath 2008, 358.

Kolonne“ Hitlers kollektiv und vorsätzlich schuldig gemacht hätten, kulminierte letztlich in der Forderung nach Enteignung und Aussiedlung der Deutschen aus Ungarn.242

Die Vorboten dieser Entwicklung markiert ein Gesetz zur „Umverteilung von Grund und Boden“, das im Frühjahr 1945 verabschiedet worden war. Vorsätzlich, um dem allgemeinen Mangel an Unterbringungsmöglichkeiten entgegenzuwirken, wurde im März 1945 die Verordnung 600/1945 M.E. durchgesetzt. Das Gesetz wurde sowohl von der Tschechoslowakei als auch von der SU politisch unterstützt243 und von Ministerpräsident Béla Miklós gezeichnet.244 Insbesondere die Magyar Kommunista Párt (MKP) hatte das Vorhaben der Durchsetzung einer Bodenreform im Vorfeld der Verabschiedung des Gesetzes – vor allem aus machtpolitischem Interesse – propagiert.

Im Zuge der Reform wurden Großgrundbesitzer mit einem Landbesitz über 52 Hektar enteignet und insgesamt rund 3,2 Millionen Hektar Land umverteilt. Viele Flüchtlinge aus den Nachbarländern meldeten sich im Rahmen des Gesetzes zur Ansiedlung in Ungarn. Neben der Enteignung von Großgrundbesitzern sah das Gesetz auch die Enteignung ehemals Angehöriger faschistischer Organisationen und Mitgliedern des VDU vor.245 Laut Beschluss sollten zudem all diejenigen Deutschen enteignet werden, die die Magyarisierung ihres Namens rückgängig gemacht hatten. Vor diesem Hintergrund kann die Bodenreform nicht als eine rein pragmatische politische Maßnahme verstanden werden, mit Hilfe derer die Unterbringung der Flüchtlingsmassen und der volksungarischen Vertriebenen gewährleistet werden sollte, sondern sie muss auch als eine Art vorgeschobene Strafaktion gelten, die die Lebensgrundlage der deutschstämmigen Minderheitenbevölkerung einschränken sollte.246

Zudem wurden im Zuge des Bodenreformgesetztes in vielen, vor allem südungarischen Gemeinden, Deutsche in Lagern zusammengetrieben und dort festgehalten. In der

242 Gyarmati: Aussiedlung der Deutschen aus Ungarn 1999, 271–273. Außerdem Swanson: The Second World War and Its Aftermath 2008, 355–356.

243 Frey: Völkerrechtliche Quellen der Zwangsmigration 2013, 151.

244 Verordnung Nr. 600/1945 M. E. der Provisorischen Nationalregierung über die Auflösung des Großgrundbesitzes und über die Neuverteilung des Bodens an die Landbevölkerung, in: Herder-Institut (Hrsg.): Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte. Themenmodul „Deutsche in Ungarn“, bearb. von Gerhard Seewann, online abrufbar unter: http://www.herder-institut.de/resolve/qid/469.html, zuletzt am 4. August 2015.

245 Tóth: Migrationen in Ungarn 2001, 48–51. Dies.: Lage des Ungarndeutschtums 2007, 257.

246 Frey: Völkerrechtliche Quellen der Zwangsmigration 2013, 151.

ungarndeutschen Erinnerungskultur sind insbesondere die von dem Mitglied des ungarischen Bauernverbandes György Bodor durchgeführten Aktionen im Kreis Bonyhád präsent. Bodor wurde im April 1945 von Komitatsebene mit der Ansiedlung von ungarischen Flüchtlingen aus dem Szekler-Land betraut. In einer beispiellosen Aktion ließ Bodor mehrere ungarndeutsche Gemeinden räumen und internierte deren Bewohner.247

Bereits wenige Monate nach dem Waffenstillstandsabkommen mit Moskau im Januar 1945248 fand die Forderung nach Aussiedlung der Deutschen aus Ungarn Eingang in die politischen Debatten. Die Regierungsparteien der im Dezember 1945 in Debrecen gebildeten provisorischen ungarischen Nationalregierung drängten schon im Frühjahr und Sommer 1945 auf die Aussiedlung der deutschstämmigen Bevölkerung Ungarns.249 Insbesondere die bürgerliche Kleinlandwirtepartei und die Kommunistische Partei sprachen einen Kurs aus, der entschieden gegen die deutsche Minderheit wetterte.250 So verkündete etwa Innenminister Ferenc Erdei während eines Beratungsgesprächs der Koalitionsparteien am 14. Mai 1945, dass „die Aussiedlung der faschistischen Deutschen als politische Forderung in der ungarischen öffentlichen Meinung (–) allgemein und dringend“ sei. Der ebenfalls in der Kleinlandwirtepartei engagierte Schriftsteller Imre Kovács, forderte im Sommer 1945: „Raus mit der schwäbischen Minderheit!“. Und auch

247 Siehe dazu Dövény, Zoltán; Szalai, Gábor: Die Auswirkungen der dem Zweiten Weltkrieg folgenden Migrationen auf die lokalen Gemeinschaften Süd-Transdanubiens, in: Gerner, Zsuzsana; Kupa, László:

Minderheitendasein in Mittel- und Osteuropa – interdisziplinär betrachtet, Schriftenreihe Socialia 113, Hamburg 2011, 205–219, hier 207.

248 Am 20. Januar 1945 schloss Budapest mit Moskau ein Waffenstillstandsabkommen. Für Ungarn galten fortan erneut die Grenzen von 1938. Die territoriale Situation Ungarns vor den Wiener Schiedssprüchen wurde so wiederhergestellt. Im Zuge dessen wurde zudem eine Alliierte Kontrollkommission eingesetzt, die maßgeblich in die Regierungsarbeit eingebunden war. Die Kommission unterstützte insbesondere die linke Fraktion. Siehe Tóth: Migrationen in Ungarn 2002, 39.

249 Siehe Spannenberger, Norbert: Assimilation oder Ausweisung? Optionen für eine nationale Sozialreform in Ungarn nach 1945, in: Beer, Mathias; Beyrau, Dietrich; Rauh, Cornelia (Hrsg.):

Deutschsein als Grenzerfahrung. Minderheitenpolitik in Europa zwischen 1914 und 1950, Essen 2009, 305–323, hier 306. Außerdem Tóth: Lage des Ungarndeutschtums 2007, 255.

250 Die Provisorische Nationalregierung hatte einige rechtsradikale und nationalkonservative Parteien verboten. Die Kleinlandwirtepartei wurde im Zuge dessen zur Anlaufstelle für all jene, die gegen die Errichtung einer kommunistischen Diktatur in Ungarn waren. Im Sommer 1945 wurde die Kleinlandwirtepartei mit 900.000 Mitgliedern zur stärksten politischen Fraktion in Ungarn. Die Kommunistische Partei konnte ihre Machtbasis erst ab Herbst 1945 allmählich ausbauen. Nach der Zerschlagung der Kleinlandwirtepartei hatte die kommunistische Partei ab 1947 eine parlamentarische Mehrheit. In der zweiten Jahreshälfte 1948 konnte sich die Kommunistische Partei als zentrale politische Kraft etablieren. Siehe Tóth: Migrationen in Ungarn 2001, 55–56.

József Révai, einer der führenden Parteiideologen der kommunistischen Partei, erklärte im August 1945: „Unser Standpunkt zur Schwabenfrage lässt sich in zwei Worten ausdrücken: Raus mit ihnen.“251

Die ungarische Öffentlichkeit stand nicht geschlossen hinter der Forderung der Aussiedlung der deutschen Bevölkerung. In den ebenfalls an der Regierung beteiligten Fraktionen der Sozialdemokratischen Partei Ungarns (MSP) und in der Bürgerlich-Demokratischen Partei wurden die Forderungen nach einer planmäßigen Aussiedlung der deutschen Minderheit abgelehnt, zumindest aber nicht öffentlich artikuliert.252 So stellte sich etwa István Bibó gegen die Aussiedlungspläne. In einer „Denkschrift über die Situation, die durch die Aussiedlung der Ungarndeutschen entsteht“ vom 15. Dezember 1945 – also schon nach Billigung der 'ordnungsgemäßen Überführung' durch die Alliierten in den Potsdamer Beschlüssen kurz vor dem faktischen Beginn der Aussiedlungen –, schrieb Bibó: „Der gegenwärtige Stand der Pläne zur Vertreibung der Ungarndeutschen gibt in höchstem Maße Anlass zur Sorge, und zwar in der Hinsicht, dass die ganze Aktion in ihren Details – trotz aller entgegengesetzten Absichten – in eine Aktion, die an die Judendeportationen des vorangegangenen Jahres erinnert, ausarten wird.“253 Auch die Kirchen widersetzten sich den Aussiedlungsplänen und verurteilten die Vertreibungen. Einer ihrer prominentesten Gegner war Kardinal József Mindszenty. In mehreren öffentlichen Stellungnahmen trat Mindszenty gegen die Pläne zur Aussiedlung der Deutschen aus Ungarn ein. Die Tatsache, dass sich Mindszenty und andere Geistliche der Deportation der ungarischen Juden zuvor kaum entgegenstellt hatten, ist eine mehr als nur berechtigte Kritik.254

Trotz des Widerstandes war die provisorische ungarische Regierung im Laufe des 1945 immer wieder an den Rat der Alliierten Kontrollkommission mit Umsiedlungsplänen herangetreten. Bereits im Mai 1945 hatte das ungarische Kabinett in einer Verbalnote an

251 Siehe dazu Gyarmati: Aussiedlung der Deutschen aus Ungarn 1999, 271–273.

252 Kittel, Manfred; Möller, Horst: Die Benes-Dekrete und die Vertreibung der Deutschen im europäischen Vergleich, in Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 54 (2006), 541–581, hier 571 f.

253 Bibó, István: Denkschrift über die Situation, die durch die Aussiedlung der Ungarndeutschen entsteht, in: Herder-Institut (Hrsg.): Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte.

Themenmodul „Deutsche in Ungarn“, bearb. von Gerhard Seewann, online abrufbar unter:

https://www.herder-institut.de/resolve/qid/468.html, zuletzt am 9. Februar 2015.

254 Siehe etwa Douglas, Ray M.: 'Ordnungsgemäße Überführung'. Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, München 2012, 264–265.

die Regierung der SU gebeten, 200.000 bis 250.000 in Ungarn ansässige Deutsche aus Ungarn aussiedeln zu dürfen. Im Juli 1945 begann Ungarn schließlich auch mit der Feststellung des für eine Ausweisung vorgesehenen Personenkreises im Rahmen einer

„Überprüfung des politischen Verhaltens der Ungarndeutschen“ (Regierungsverordnung 3820/1945 ME). Im Zuge dieser Verordnung wurde die Sanktionierung und Bestrafung von ehemals national gesinnten Ungarndeutschen beschlossen. Die zu überprüfenden Personen sollten auf Grundlage dieser Anordnung in vier Kategorien aufgeteilt werden:

„Führer“, „Mitglieder“, „Unterstützer des Volksbundes“ und „Außenstehende“. Die unterschiedlichen Einordnungen sollten verschiedene Sanktionen zur Folge haben. Wer als „Volksbundführer“ eingestuft wurde, musste mit einer sofortigen Enteignung rechnen.255 Zwar weckte die Anordnung zur Untersuchung der „nationalen Treue“ bei vielen Deutschen in Ungarn die Hoffnung, dass die pauschale Verurteilung der Deutschen als Kriegsverbrecher politisch nun nicht weiterverfolgt und Sanktionen fortan nur nach eingehender Prüfung des Einzelfalls verhängt würden. Aber spätestens in der Praxis der Vertreibungen ab 1946 wurde deutlich, dass die Sanktionen der gesamten deutschen Bevölkerung gelten sollten.256