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5. Die Erzählungen

5.8. Fremdheit und Alterität in der „neuen Heimat“

Der die ungarndeutschen Lebenswelten bestimmende soziale Bezugsrahmen der Dorfgemeinschaft war in Folge der kitelepítés und durch die Streuung der Vertriebenen und „Umsiedler“ in den Aufnahmegebieten aufgebrochen worden. Zwar konnten die engeren familiären Beziehungen in vielen Fällen weiterbestehen. Zudem kam es in Reihen der Vertriebenen trotz ihrer Streuung schon bald zu Formen der Vergemeinschaftung. Dennoch mussten sich die Vertriebenen in dem ihnen fremden sozialen Umfeld neu orientieren. Dabei entstanden auf verschiedenen Ebenen neue soziale Bindungen, Netzwerke und Kontakte. In der Haus- und Wohngemeinschaft, am Arbeitsplatz, in der Schule, in der Kirche usw. kamen die Ankömmlinge nach ihrer Umquartierung in nahen Kontakt mit der heimischen Bevölkerung und damit auch mit dem für sie Fremden.559 Durch die häufig sehr engen Bezugssysteme waren die Vertriebenen und die aufnehmenden Familien mit den kulturellen Differenzen direkt konfrontiert. Andere Ess- und Arbeitsgewohnheiten, eine andere Sprache, ein anderer Dialekt, ein anderer Kleidungsstil, andere konfessionelle Zugehörigkeiten usw. sonderten die Vertriebenen und Umsiedler schon kulturell bedingt von der heimischen Bevölkerung

558 Interview M.B.T., 77/5–77/10.

559 Die Konfrontation der Ausgesiedelten mit der ansässigen Bevölkerung vollzog sich in mehreren Phasen, wie Ulrich Tolksdorf herausstellt. Die erste Phase der Konfrontation war für den Einzelnen durch das Erfahren von Fremdheit und kultureller Andersartigkeit geprägt, es kam zu einem Kulturschock. Im Rahmen der zunehmend auch in vielen lebensweltlichen Bereichen stattfindende Konfrontation entstanden erste Kulturkontakte. In diesem Prozess wurde ihnen kulturelle Unterschiede bewusst. Die sich durch Abweisung, Anfeindung und das Beharren auf eigene kulturelle Werte äußernden Reaktionen kennzeichnet Tolksdorf als Kulturkonflikt. Im Zuge des Integrationsprozesses wurden kam es allmählich zur Verschmelzung der Eigen- und Fremdkultur. Heute unterliegen die als heimisch und traditionell betrachteten Wertvorstellungen lediglich noch einer „punktuellen Bewahrung“. Siehe dazu Tolksdorf, Ulrich: Phasen der kulturellen Integration bei Flüchtlingen und Aussiedlern, in: Bade, Klaus (Hg.): Neue Heimat im Westen. Vertriebene – Flüchtlinge – Aussiedler, Münster 1990, 106–127, hier 110–122. Siehe auch Hammerer, Katharina: Heimatvertreibung – Kollektives Gedächtnis und Identität, Berlin 2014, 59–65. Auch die Soziologin Elisabeth Pfeil, die wohl eine der situationsnächsten Arbeiten zu Flucht und Vertreibung geschrieben hat, arbeitete mehrere Phasen der kulturellen Konfrontation der Vertriebenen mit der deutschen Gesellschaft heraus. Die erste Phase war demnach von Mitleid gekennzeichnet. In einer zweiten Phase begegnete die einheimische Bevölkerung den Neuankömmlingen mit Gleichgültigkeit. Die dritte Phase der Konfrontation war durch Feindseligkeiten geprägt. Siehe dazu Pfeil, Elisabeth: Der Flüchtling. Gestalt einer Zeitenwende, Hamburg 1948, 86–88.

ab und wiesen sie in der neuen Umgebung als Fremde aus.560 Der Kulturkontakt führte nicht selten zu Reibereien und Konflikten zwischen der ansässigen Bevölkerung und den Ankömmlingen. Scheinbar banale Alltagsfragen sorgten dabei immer wieder für Missstimmung. So sind den Befragten die gemeinsame Nutzung von Küche, Bad oder Heizmöglichkeiten als Konfliktmomente in Erinnerung geblieben. Für viele Bereiche des alltäglichen Zusammenlebens muss von einer sozialen Desintegration der Vertriebenen in dem für sie neuen Umfeld ausgegangen werden.561

Deutlich wurde den Betroffenen die kulturelle Diskrepanz zwischen der „neuen“ und der

„alten Heimat“ insbesondere durch die Differenzen in der Sprache.562 Der ungarndeutsche Dialekt und die lokal oft sehr unterschiedlich ausgeprägte schwäbische Mundart, die noch in der Heimat stets Zugehörigkeit vermittelt hatten, wurden in dem neuen Umfeld zu einer sprachlichen Barriere zwischen ihnen und der in den Aufnahmegemeinden ansässigen Bevölkerung. Noch in den Herkunftsgemeinden in Ungarn war die gemeinsame Dialektsprache ein gemeinschaftsstiftendes Element, zumal die Schwaben in Ungarn innerhalb eines multilingualen Umfelds gerade wegen der spezifischen Minderheitensprache ein enges Gemeinschafts- und Zusammengehörigkeitsempfinden entwickelt hatten. In dem Umfeld des Aufnahmeregimes aber wurde die dialektale Eigenart ein offensichtliches Indiz für Andersartigkeit. In den Erinnerungen wird diese Situation als eine prägende Erfahrung beschrieben. So erinnerte sich Herr G.J., der in einer sächsischen Gemeinde zur Schule gegangen war, daran, dass sich schon allein aufgrund der sprachlichen Differenzen der Eingliederungsprozess schwierig gestaltet habe: „Vier Jahre war ich draußen in der Schule. Zuerst war es sehr schlecht. Da hat uns ja erst keiner verstanden in der Mundart, wie wir sie in Szigetbecse reden. In Deutschland, in Sachsen überhaupt, wird ganz anders gesprochen als hier. Die sprechen alles mit 'ich'.

Das war erst sehr schlecht mit der Sprache. Zuhause haben wir immer Schwäbisch gesprochen mit der Mutter. Als wir rausgekommen sind, mussten wir auf einmal normales

560 Beer: „die helfte hir und tie helfte zuhause“ 2004, 61.

561 Rutsch: Die Vertreibung von Ungarndeutschen und ihre Integration in der sowjetisch besetzten Zone 2008, 126.

562 Zur Funktionalität von Sprache im Eingliederungsprozess siehe Esser, Hartmut: Migration, Sprache und Integration, Arbeitsstelle Interkulturelle Konflikte und gesellschaftliche Integration – Forschungsbilanz 4/2006, 11, online abrufbar unter: http://www.bagkjs.de, zuletzt am 20. August 2015.

Deutsch mit den Kindern sprechen.“563 Auch Frau M.B.T., deren Familie im Württembergischen angesiedelt wurde, betonte, dass die ungarndeutsche Mundart im Umfeld der Aufnahmegemeinde ein Gefühl des Fremdseins bewirkte. Dieses Gefühl wurde dadurch verstärkt, dass das Element „Schwäbisch“, das noch in Ungarn ein elementares Merkmal ihrer identitären Selbstzuordnung war, in dem

„schwäbischen“ Umfeld im Südwesten Deutschlands konkurriert wurde: „Die Sprache (gemeint ist die ungarndeutsche Mundart) passte ja auch gar nicht dahin. Wenn wir wenigstens zu den Bayern hingekommen wären, die war viel ähnlicher die bayrische Sprache. Ich versteh das bis heute nicht das Schwäbische. Wir konnten dieses Schwäbisch doch gar nicht. Der schwäbische Dialekt, den man in Stuttgart und drumherum spricht, der ist ja gar nicht wie unsere Sprache. Das war alles so fremd für diese Deutschen dort, zu denen wir nach Deutschland kamen.“564

Zwar wies der ungarndeutsche Dialekt die Sprecher in dem neuen Umfeld als Fremde aus, gleichzeitig aber bewirkte die dialektale Andersartigkeit auch ein Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Ausgesiedelten. Die gemeinsame Dialektsprache war für viele Vertriebene im Umfeld der Aufnahmegesellschaft deshalb nicht allein ein exklusorisches, sondern gleichsam auch ein gemeinschaftsstiftendes Element mit Hilfe dessen sich die soziale Identität der Vertriebenen festigen konnte. Die sprachlichen Barrieren haben so auch das soziale Zugehörigkeitsempfinden zur Gruppe der vertriebenen Deutschen aus Ungarn bzw. zur Gruppe der svábok nach innen gestärkt. So berichtete Frau A.F.: „Das war uns keine Heimat. Wir haben ja auch kein Hochdeutsch gesprochen. Wir waren ja ungarischer Nationalität. Wir haben immer nur unsere Sprache gesprochen.“565

Ein weiteres deutliches Signal für die soziale Zugehörigkeit der Vertriebenen stellte in dem neuen Umfeld das äußere Erscheinungsbild der Ankömmlinge dar.566 Während Trachten für die Ausgesiedelten noch in der Heimat als Repräsentationsobjekt galten,

563 Interview J.G., 87/28–88/1.

564 Interview M.B.T., 78/32–79/3.

565 Interview A.F., 2–5.

566 Siehe dazu Hampe, Henrike: Abschied vom „Juppl“ und „Kittel“. Kleidungswechsel im Integrationsprozess der Flüchtlinge und Vertriebenen, in: Hans-Werner Retterath (Hg.): Ortsbezüge.

Deutsche in und aus dem mittleren Donauraum, Schriftenreihe des Johannes-Künzig-Institutes 5, Freiburg 2001, 223–245, hier 225.

wurden diese von der ansässigen Bevölkerung als befremdend wahrgenommen. Noch im multiethnischen Ungarn war für die Gruppe der Ungarndeutschen Kleidung ein Mittel der Abgrenzung gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen. Kleidung galt als „Zeichen der Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe und der Abgrenzung gegenüber anderen ethnischen Gruppen“, wie Henrike Hampe herausstellt.567 Durch das Tragen der von den Befragten als „baurisch“ bzw. „bäurisch“ bezeichneten Gewänder sonderten sich die Ausgesiedelten schon rein äußerlich von der ansässigen Bevölkerung ab.

„Fremdheitsindizien“ wie Dialekt oder Religionszugehörigkeit ließen sich vordergründig leicht verbergen. Die Trachten aber wiesen die Ausgesiedelten sofort und für jeden ersichtlich als Fremde aus.568 In der gesellschaftlichen Wahrnehmung waren die Betroffenen dadurch häufig Vorurteilen ausgesetzt.569 So erinnerte Frau E.M., dass die ansässige Bevölkerung auch wegen des Kleidungsstils der Ankömmlinge voreingenommen gewesen sei: „Die Oma und die Mama, die haben noch so lange Röcke gehabt. So bäurisch waren die angezogen und deswegen haben die so etwas gesagt. Die, die langen Röcke haben, die sagen alle die Unwahrheit, dachten die.”570

Desintegrativ war nicht zuletzt die Tatsache, dass viele ungarndeutsche Familien, die vorwiegend katholischen Glaubens waren, in der sowjetischen Zone und den Aufnahmeregionen im Südwesten Deutschlands in evangelisch-protestantischen Gemeinden angesiedelt worden waren.571Noch in der ungarischen Heimat besuchte man regelmäßig die katholischen Gottesdienste und beteiligte sich aktiv an den im Jahresverlauf stattfindenden Gedenkfesten und Feiern. Die Ausübung der Religion hatte

567 Ebd., 226. Vgl. auch Röder, Annemarie: Zur Funktionalität der donauschwäbischen Trachten, in:

Jahrbuch für deutsche und osteuropäische Volkskunde 39/1996, 256–281.

568 Hampe, Kleidungswechsel im Integrationsprozess 2001, 237.

569 Die Tracht wurde von vielen Vertriebenen in den Aufnahmegebieten schon bald abgelegt. Die Bereitschaft dies zu tun, betraf allerdings nicht nur die Gruppe der Ungarndeutschen und wird deshalb in der Flüchtlingsforschung nicht als isoliertes Ereignis betrachtet. Anders als frühe volkskundliche Untersuchungen annahmen, war das Ablegen der Tracht kein Effekt, der auf die Bereitschaft der Vertriebenen zur Assimilation oder Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft zurückzuführen ist.

Vielmehr war es der allgemeine Modernisierungsdruck der die Vertriebenen allmählich dazu bewegte, die Tracht abzulegen. Siehe dazu Jacobi: „Wir gehören jetzt schon hierher“ 1996, 118.

570 Interview E.M., 13/29–14/2.

571 Beer: Deutsche aus Ungarn in West- und Ostdeutschland 1997, 144.

im Umfeld der „alten Heimat“ eine zentrale kulturelle und soziale Bedeutung.572 In den Aufnahmeregionen waren die Möglichkeiten der Ausübung des katholischen Glaubens aber vielerorts kaum gegeben, da die Aufnahmegemeinden in Sachsen und in Württemberg vorwiegend protestantisch waren. So waren die grundsätzlichen Strukturen und Möglichkeiten für die Ausübung des katholischen Glaubens vielerorts schlichtweg nicht vorhanden.573 Frau B.P. aus Nagynyárád, die in der Nähe von Pirna in einer vorwiegend protestantischen Gemeinde untergekommen war, berichtete, dass ihre Familie weite Wege auf sich nahm, um den katholischen Gottesdienst in einer Nachbargemeinde zu besuchen. Wie sie erinnerte, war der sonntägliche Gottesdienst auch eine Gelegenheit mit anderen aus der Heimat vertriebenen Deutschen zusammenzukommen. Die wöchentlichen Messen boten somit auch eine Möglichkeit des Beisammenseins, des Kontakthaltens und des Austauschs mit anderen Vertriebenen aus den Heimatgemeinden. Neben dem religiösen Aspekt waren für die Vertriebenen insbesondere der soziale und kulturelle Aspekt der Gottesdienste von Bedeutung. Diese Diasporasituation hat somit letztlich stark zur Vergemeinschaftung und zur sekundären Minderheitenbildung beigetragen:574 „Weil wir sind katholisch gewesen, und dort wo wir waren, da waren hát viele Evangelische, die deutsche Kirch'. Für uns, die katholische (Kirche), war so weit draußen. Und wir sind gerne in die Kirche in die Mess' gegangen und so viele Leute sind in die Kirche gegangen.“575

Auch Frau M.B.T. berichtete, wie in den Aufnahmegebieten schon aus konfessioneller Sicht Diasporagemeinden entstanden waren. Ihre Familie kam nach ihrer Vertreibung aus

572 Religion diente in den ungarndeutschen Gemeinden als „Überlebensstrategie der Gruppe, die die Selbsterhaltung ermöglichte“. Siehe Bindorfer, Györgyi: Glaubensleben und Religion der Ungarndeutschen. Verbindender und trennender Katholizismus, in: Acta Ethnographica Hungarica 49/2004, 141–150, 149.

573 Insbesondere in den westlichen Zonen und der BRD dienten Vertriebenenwallfahrten als Mittel der Vergemeinschaftung. Neben der religiösen Komponente der Wallfahrtszusammenkünfte war für die Teilnehmenden der kulturelle Aspekt der Wallfahrtstreffen von besonderer Bedeutung. Dabei fanden die kulturellen Muster und Praktiken der „alten Heimat“ zum Teil auch Eingang in die rituelle Praxis der Vertriebenenwallfahrten. Siehe dazu Prosser-Schell, Michael: Wallfahrten als Ereignisse der kulturellen Selbstbehauptung von Flüchtlingen und Vertriebenen in Baden und Württemberg (1946–

1952), in: Alzheimer, Heidrun; Rausch, Fred G.; Reder, Klaus; Selheim, Claudia (Hrsg.): Bilder – Sachen – Mentalitäten. Arbeitsfelder historischer Kulturwissenschaften. Wolfgang Brückner zum 80.

Geburtstag, Regensburg 2010, 165–172, hier 167.

574 Siehe auch Tóth: Rückkehr nach Ungarn 2012, 152–153.

575 Interview B.P., 104/28–104/2.

Budaörs in das württembergische Creglingen. Hier lebten viele Protestanten. Die katholische Gemeinde vor Ort rekrutierte sich allein aus Heimatvertriebenen und Flüchtlingen, wie sie berichtete: „In Creglingen hat man in der ersten Zeit, da waren ja so viele Flüchtlinge und die waren alle katholisch, für die hat man in der Turnhalle eine Kirche gemacht. Dann kam ein katholischer Pfarrer. Der kam aus Oberschlesien oder aus solchen Gebieten. Der hat dann dort so lang gebettelt, so haben meine Eltern gesagt, Spenden gesammelt, bis man da eine katholische Kirche bauen konnte. Die haben sehr schnell eine Kirche dort gebaut in Creglingen. Die steht bis heute diese katholische Kirche. Dort bin ich auch zur Erstkommunion gegangen und meine Schwester auch. Weil diese Flüchtlinge – in der DDR war es auch so – das war ja eine evangelische Gegend geworden durch die Reformation. Dadurch, dass man dort viele Deutsche angesiedelt hat, war dort eine Art Diaspora entstanden. In Creglingen gibt es bis heute diese katholische Kirche. Man hat dann eine Siedlung dort angelegt.“576

Die Erfahrung einer Minderheitensituation war für die Betroffenen grundsätzlich neu und bedeutete für sie eine immense psychisch-mentale Belastung. Zwar waren die Schwaben in der Heimat als Deutsche in Ungarn eine nationale Minderheit, aber diese Situation wurde von ihnen in ihrer alltäglichen Lebenswelt kaum als solche erfahren. Im Zusammenleben mit der ansässigen Bevölkerung wurde ihnen das kulturell Eigene – ihre spezifisch schwäbische Kultur sowie die vaterländische Verbindung zu Ungarn – zunehmend bewusst.