• Nem Talált Eredményt

Lebensgeschichtliche Erinnerung als Quellenbasis kulturwissenschaftlicher Forschung 51

3. Mittler und Methode

3.1. Lebensgeschichtliche Erinnerung als Quellenbasis kulturwissenschaftlicher Forschung 51

Zentrales Anliegen der vorliegenden Untersuchung ist, die Formen und Ausprägungen personaler Identität im Prozess einer mehrfachen Migration zu untersuchen.

Dementsprechend stand nicht die Rekonstruktion von faktisch Geschehenem im Vordergrund der Erhebung, sondern vielmehr die Frage, wie die jeweils individuell erfahrene Migrationsgeschichte in ihrer gegenwärtigen Wirklichkeit von den Betroffenen subjektiv „gedacht“ und wahrgenommen wird.127 Wie Gabriele Rosenthal in „Erlebte und Erzählte Lebensgeschichte“ herausstellt, eignen sich für die Untersuchung dieser subjektiven Empfindungen vor allem lebensgeschichtliche Quellen, denn in „der 'biographischen Selbstpräsentation' finden wir nicht nur Zugang zum lebensgeschichtlichen Prozeß der Internalisierung der sozialen Welt im Laufe der Sozialisation, sondern auch zur Einordnung der biographischen Erfahrung in den Wissensvorrat und damit zur Konstitution von Erfahrungsmustern, die zur gegenwärtigen und zukünftigen Orientierung in der Sozialwelt dienen.“128

Die Lebensgeschichte konstituiert sich nach einer Definition Albrecht Lehmanns aus der

„Summe unserer Erfahrungen“.129 Auf der Vermittlungsebene bilden sich in der

127 „Für unser Erkenntnisinteresse einer Rekonstruktion narrativer Identität geht es (–) nicht darum, ob die vom Erzähler angeführten Argumente tatsächlich kollektiv gelten oder 'objektiv' wahr sind.

Entscheidend ist vielmehr, welche Argumente der Erzähler selbst als gültig veranschlagt, auf welche allgemeinen Deutungsmuster (Selbst- und Wertverständnisse) sie verweisen und welchen sozialen Gruppen und Positionsvertretern der Erzähler welche argumentativen Positionen zurechnet.“ Siehe Lucius-Hoene, Gabriele: Rekonstruktion narrativer Identität. Ein Arbeitsbuch zur Analyse narrativer Interviews, Wiesbaden 2002, 165. Außerdem Krämer, Sybille: Zum Paradoxon von Zeugenschaft im Spannungsfeld von Personalität und Depersonalisierung. Ein Kommentar über Authentizität in fünf Thesen in: Michael, Rössner; Uhl, Heidemarie (Hrsg.): Renaissance der Authentizität? Über die neue Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, Bielefeld 2012, 15–26, hier 21 ff.

128 Siehe Rosenthal: Erlebte und erzählte Lebensgeschichte 1995, 12–13.

129 Lehmann: Reden über Erfahrung 2007, 11. Zur „Erzählforschung als Bewußtseinsforschung“ siehe auch Brednich, Rolf Wilhelm: Methoden der Erzählforschung. Bedeutung und Stellung der Erzählforschung im Wissensgefüge der Volkskunde, in: Göttsch, Silke; Lehmann, Albrecht (Hrsg.):

Methoden der Volkskunde. Positionen, Quellen, Arbeitsweisen der Europäischen Ethnologie, Berlin 2007, 57–78, hier 72–74. Zur Kritik am Begriff „Lebensgeschichte“ und zur lebensgeschichtlichen Rekonstruktion als „biographische Illusion“ siehe Bourdieu, Pierre: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt am Main 1998, 75 ff.

Lebensgeschichte die von einem Einzelnen als bedeutend erachteten Erfahrungen und Erinnerungen eines Lebens ab. Jede Form „biographischer Selbstpräsentation“130 ist deshalb eine nach einem subjektiven Muster geschaffene Rekonstruktion und so gleichzeitig auch eine inhaltliche Reduktion von in der Vergangenheit Erlebtem, Erfahrenem oder Gedachtem.131 Gleichzeitig findet die Vermittlung der Lebensgeschichte immer aus der Perspektive der Gegenwart statt, wie der Soziologe Hans Paul Bahrdt herausstellt. Die in einer biographischen Erzählung kommunizierten Ereignisse, Erfahrungen und Erlebnisse können deshalb keineswegs deckungsgleich mit dem tatsächlich Geschehenen sein: „Die historische Situation, in der ein Erzähler eine zurückliegende Erfahrung zur Veranschaulichung für seine Gesprächspartner rekonstruiert, ist seine Gegenwart. Er vergegenwärtigt sich einer zurückliegenden Situation, die stets unter dem Eindruck lebensgeschichtlicher Erfahrung und historischer Deutungen zu einer anderen geworden ist.“132

Die autobiographische Erinnerung steht nicht für sich alleine, sondern ist stets auch das Produkt eines sozial vollzogenen Aushandlungsprozesses.133 Die subjektive Interpretation von Geschehenem und Erlebtem in der Vergangenheit ist stets in einen überindividuellen Diskurs eingebunden und an kulturelle, normative und politische Vorstellungen und Werte, an das „kulturelle Gedächtnis“, gekoppelt. Gerade historisches Geschehen und dessen Bewertung ist in der Erinnerung gesellschaftlich tradiert.134 Darüber hinaus hat

130 Rosenthal verwendet hier den Begriff „biographische Selbstpräsentation“, um zu unterstreichen, dass mit Lebensgeschichte nicht allein die rein biographische Erinnerungserzählung gemeint ist, sondern sich die Lebensgeschichte auch in dinglichen Erinnerungen (Tagebüchern, Dokumenten, Fotografien usw.) spiegelt. Siehe Rosenthal: Erlebte und erzählte Lebensgeschichte 1995, 12–13.

131 Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, 134 ff. Vgl. auch Bruner, Jerome S.: Vergangenheit und Gegenwart als narrative Konstruktion, in: Straub, Jürgen (Hg.): Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte, Erinnerung, Geschichte, Identität 1, Frankurt am Main 1998, 46–80.

132 Bahrdt, Hans Paul: Grundformen sozialer Situationen, München 1996, 52f. Hier zit.n. Lehmann: Reden über Erfahrung 2007, 12. Siehe zudem Rosenthal: Erlebte und erzählte Lebensgeschichte 1995, 21.

133 Die „biographische Gesamtsicht“ ist nach Rosenthal „sozial konstituiert“, „vollzieht sich in der Interaktion mit anderen und orientiert sich an sozialen Vorgaben, an 'Rezepten' dafür, 'wie was wo' einzuordnen ist.“. Siehe dazu Rosenthal: Erlebte und erzählte Lebensgeschichte 1995, 12.

134 Jan Assmann prägte in Anlehnung an die von Maurice Halbwachs bereits in den 1920er Jahren getroffene Unterscheidung zwischen „kollektivem“ und „individuellem“ Gedächtnis den Begriff

„kulturelles Gedächtnis“. Siehe Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in:

Assmann, Jan; Hölscher, Tonio (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt 1988, 9–19, hier 10–11. Vgl.

auch die Alltagskommunikation Einfluss auf die Formen und Inhalte von Erinnerung.

Durch die „Gemeinsamkeiten des sozialen Erlebens“ – in der Familie, mit Freunden oder innerhalb eines Dorfes – entstehen „Erzählgemeinschaften“, in denen bestimmte Vorstellungswelten diskursiv ausgehandelt und verfestigt werden.135 Dieses

„kommunikative Gedächtnis“ beschreibt nach Jan Assmann alle Formen von Erinnerung, die mündlich überliefert werden und sich in einem zeitlichen Rahmen von drei bis vier Generationen wiederfinden lassen. Sobald die Möglichkeiten der mündlichen Überlieferung historischer Erfahrungen nicht weiter von der Erlebnisgeneration selbst bzw. deren unmittelbaren Nachfolgegenerationen gewährleistet ist, geht das

„kommunikative“ in das „kulturelle Gedächtnis“ über.136 Gegenwärtig betrifft dies die Erinnerung an den Komplex „Flucht und Vertreibung“ 137 und so auch die Erinnerung an die hier zu beschreibenden Rückkehrprozesse.

Das autobiographische Erinnern ist ein Prozess, der in vielerlei Hinsicht unvollständig und fragmentarisch ist, denn in der subjektiven lebensgeschichtlichen Wahrnehmung – im „individuellen Gedächtnis“ – werden Erfahrungen gefiltert, vorsortiert und strukturiert. Auch das Vergessen ist ein elementarer Bestandteil des Erinnerns. Während von den Akteuren manche, im Laufe eines Lebens gemachten Erfahrungen als erinnerungswürdig gehalten und so unter Umständen auch weitervermittelt werden, erscheinen andere schlichtweg nicht erinnernswert oder werden durch andere Lebenserinnerungen überlagert. Gerade mental belastende und krisenhafte Erfahrungen

außerdem Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2006.

135 Lehmann: Reden über Erfahrung 2007, 49. Ders.: Homo narrans – Individuelle und kollektive Dimension des Erzählens, in: Brednich, Rolf Wilhelm (Hg.): Erzählkultur. Beiträge zur kulturwissenschaftlichen Erzählforschung. Hans-Jörg Uther zum 65. Geburtstag, Berlin/New York 2009, 59–70, hier 65–66.

136 Assmann, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität 1988, 10–11. Siehe von Plato, Alexander:

Zeitzeugen und die historische Zunft. Erinnerung, kommunikative Tradierung und kollektives Gedächtnis in der qualitativen Geschichtswissenschaft – ein Problemaufriss, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 13/2000 I, 5–29, hier 9. Außerdem Lenz, Claudia; Welzer, Harald: Zweiter Weltkrieg, Holocaust und Kollaboration im Europäischen Gedächtnis. Ein Werkstattbericht aus einer vergleichenden Studie zu Tradierung von Geschichtsbewusstsein, in: Handlung, Kultur, Interpretationen, Zeitschrift für Kultur- und Sozialwissenschaften 2/2005, 1–24, hier 6.

137 Bedingt durch die Altersstruktur der Erlebnisgeneration, geht die Erinnerung an Flucht und Vertreibung allmählich vom „kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis“ über. In dieser gegenwärtigen Übergangsphase wird das Thema in der Öffentlichkeit zunehmend präsent und wird medial aufgearbeitet. Siehe dazu Weger: Volkskundliche Vertriebenenforschung 2005, 103.

sind Erinnerungsmomente, die häufig nicht artikuliert und von den Betroffenen unter Umständen verdrängt oder verschwiegen werden.138 Zudem können Erinnerungen auch verklärt werden. So bewegt sich die Erinnerungskultur von Vertriebenen häufig zwischen der positiven Erinnerung an eine intakte Heimat, mit funktionierenden Strukturen und Beziehungsräumen, und dem „punktuellen Bruch“ des Heimatverlustes, der die lebensweltliche Gültigkeit Heimat zerstörte.139 Nicht zuletzt der zeitliche Abstand zu bestimmten Lebensereignissen hat Einfluss auf das Erinnern. Was weit zurückliegt, wird eher Vergessen als zeitlich nahe Ereignisse, Empfindungen und Erfahrungen. Dieser Aspekt des Erinnerns muss auch in dieser Studie berücksichtigt werden, denn die hier fokussiert behandelten Lebensereignisse Vertreibung und Heimkehr liegen mehr als ein halbes Jahrhundert in der Vergangenheit. Die individuellen Erinnerungen an diese Lebenserfahrungen sind eventuell verblasst oder wurden im Laufe der Zeit schlichtweg vergessen.140 Der lebensgeschichtliche Ansatz kann auch deshalb nicht zum Ziel haben, faktische Wirklichkeiten zu erforschen oder zu rekonstruieren, sondern hinterfragt vielmehr, nach welchen Mustern und Modellen die Erinnerung auf das Gedächtnis zugreift und wie sich die Aufbereitung von Gedächtnisinhalten in biographischen Erzählungen widerspiegelt. Aufbauend auf den hier dargestellten theoretischen Annahmen galt es deshalb das Erzählte im Kontext möglicher sozialer und kultureller Erfahrungen zu interpretieren.

3.2. Das narrative Interview

Ziel dieser Erhebung ist, biographische Handlungsmuster zu bestimmen und subjektive Empfindungen und Wirklichkeiten zu erfassen. Als geeignete methodische Herangehensweise zur Erhebung untersuchungsrelevanter Informationen wurde deshalb

138 Es kann zwischen aktiven und passiven Formen des Vergessens unterschieden werden. Siehe dazu Hinderk, Emrich M.: Trauer in der Psychoanalyse, in: Liebsch, Burkhard; Rüsen, Jörn (Hrsg.): Trauer und Geschichte, Köln/Weimar/Wien, 147–159, hier 154–156.

139 Messerschmidt, Rolf: Erinnerungskultur und gelungene Eingliederung – ein unlösbares Spannungsverhältnis? Regionalhistorische Integrationsbilanzen für Hessen und Rheinland-Pfalz, in:

Krauss, Marita (Hg.): Integrationen. Vertriebene in den deutschen Ländern nach 1945, Göttingen 2008, 48–69, hier 64.

140 Siehe dazu auch Welzer, Harald: Das Interview als Artefakt: zur Kritik der Zeitzeugenforschung, in:

BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 13/2000 I, 51–

63, hier 51–52. Vgl. auch von Plato: Zeitzeugen und die historische Zunft 2000.

das autobiographisch-narrative Interview betrachtet, denn dieses Verfahren ermöglicht, bestimmte Lebenszusammenhänge und -inhalte 'von innen heraus' zu bestimmen.141 Fritz Schütze hat diese Form der Gesprächsführung in den 1970er und 1980er Jahren in die sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung eingeführt. Kennzeichnend für die Methode „narratives Interview“ ist, dass den Gesprächspartnern im Erhebungsprozess keine bzw. nur wenige inhaltliche und thematische Vorgaben gemacht werden.

Dementsprechend verfolgt diese Form der Interviewführung kein starr standardisiertes Konzept im Sinne eines einfachen Frage-Antwort-Spiels, sondern zielt auf eine offene Gesprächsführung ab. Die Gesprächspartner sollen diejenigen Themen, Erlebnisse, Geschichten, Anekdoten, Lebensereignisse und Inhalte kommunizieren, die sie selbst für wesentlich in ihrer Biographie halten.142

Schütze entwickelte das methodische Verfahren des narrativen Interviews aufbauend auf der grundlagentheoretischen Annahme, dass die „Gesellschaft von Individuen in symbolischen Interaktionen hervorgebracht und verändert wird“.143 Verständigung, Interaktion und Austausch werden im symbolischen Interaktionismus als konstitutive Elemente von Gemeinschaft betrachtet. Schütze plädierte deshalb dafür, dass sich auch die soziologische Forschung und ihre Methodik selbst „kommunikativer Verfahren“ bedienen müsse.144 Der Erhebungsprozess wird im narrative Interview deshalb als soziale Situation begriffen, in der Forscher und Erforschter interaktionistisch miteinander kommunizieren.145

141 Küsters, Ivonne: Narrative Interviews. Grundlagen und Anwendungen, Hagner Studientexte zur Soziologie, Wiesbaden 2009, 19. Siehe auch Flick, Uwe; von Kardorff, Ernst; Steinke, Inke: Was ist qualitative Forschung. Einleitung und Überblick, in: dies. (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Hamburg 2000, 13–29, hier 14.

142 Mayring: Qualitative Sozialforschung 2002, 72–76.

143 Siehe Przyborski, Aglaja; Wohlrab-Sahr, Monika: Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch, München 2014, 79.

144 Ebd., 79.

145 Grundlegend für die theoretischen Annahmen Fritz Schützes ist, dass Kommunikation stets bestimmten Regeln folgt, den sogenannten „Basisregeln“ (Reziprozität, Einheit, Handlungsfigur). Jede Form der Verständigung beruhe zunächst auf Reziprozität, d.h. auf der Gegen- und Wechselseitigkeit und hat dieser Annahme folgend immer eine soziale Dimension. Weiterhin konstituiere sich Kommunikation stets durch die Bildung bestimmter Einheiten, die sich auf Vermittlungsebene in der Herstellung bestimmter Kohärenzen und Identitätsmuster widerspiegeln. Nicht zuletzt beinhalte jede Form der Kommunikation eine vorherbestimmte Ordnung, indem von dem Vermittelnden subjektive Handlungsfiguren festgelegt werden. Ebd., 79–87.

Autobiographische Informationen und Erinnerungen werden im narrativen Interview in Form der Erzählung vermittelt. Diese folgt nach Schütze stets bestimmten Mustern, die Einfluss auf die Art und Weise sowie die Inhalte des Erzählens haben. Schütze bestimmte hierzu die sogenannten „Zugzwänge“ bzw. „Strukturierungszwänge“ des Erzählens:

„-Um eine überschaubare Darstellung zu zustande zu bringen, muß angesichts der theoretischen unendlichen Menge der kontingenten Phänomene vieles weggelassen und anderes global zusammengefaßt werden (Kondensierungszwang);

- um die intendierte Sachverhaltsstruktur erkennbar zu machen, müssen die konstitutiven Elemente und ihre Beziehungen zueinander manifestiert werden – mit anderen Worten die Darstellung muß so weit ins Einzelne gehen wie notwendig (Detaillierungszwang) - und der intendierte Sachverhalt muß gegen andere Sachverhalte abgegrenzt und in sich geschlossen werden (Gestaltschließungszwang)“146

Insbesondere in jüngeren erzähl-theoretischen Arbeiten wird betont, dass die Inhalte von Erzählungen auch durch die momentane soziale Situation während eines Gesprächs beeinflusst werden.147 Wer ein Erlebnis, ein Lebensereignis oder eine Erfahrung schildert, spricht so, wie der Gesprächspartner es von ihm erwartet. Der Sprecher antizipiert somit die Reaktionen des Zuhörers unterbewusst. Der Interviewer ist deshalb zwangsläufig selbst Teil des Interviews.148 Durch sein Verhalten, seine Mimik und Gestik sowie durch seine Offenheit beeinflusst der Interviewer, wenn auch nicht gewollt, zwangsläufig die Gesprächssituation und so auch die Inhalte der Erzählung.149 Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass in der sozialen Situation des Gesprächs Atmosphäre, Emotionalität, Sympathie und Stimmungen eine große Rolle spielen.150 Die Wiedergabe exakter oder

„echter Erinnerung“ ist auch vor diesem Hintergrund nie gegeben. Deswegen ist das

146 Küsters: Narrative Interviews 2000, 27. Zit. n. Kallmeyer, Werner; Schütze, Fritz: Zur Konstitution von Kommunikationsschemata der Sachverhaltsdarstellung, in: Wegner, Dirk (Hg.): Gesprächsanalysen, Hamburg 1977, 159–274, hier 162.

147 Welzer: Das Interview als Artefakt 2000, 61.

148 Ebd., 52–53.

149 Lehmann: Reden über Erfahrung 2007, 84.

150 Ebd., 69–71.

Interview zwar als Quelle zu verstehen, die vermitteln kann, wie etwas erinnert wird, aber es ist keinesfalls ein Zeugnis dafür, was faktisch geschehen oder gewesen ist.151

Durch die Methode „narratives Interview“ erreicht der Forschende einen Zugang zu den Lebenswelten der Erzählenden, der durch standardisierte Formen der Erhebung und Interviewführung nicht zu erreichen wäre. Das „autobiographische narrative Interview erzeugt Datentexte, welche die Ereignisverstrickungen und die lebensgeschichtliche Erfahrungsaufschichtung des Biographieträgers so lückenlos reproduzieren, wie das im Rahmen systematischer sozialwissenschaftlicher Forschung überhaupt nur möglich ist.

(-) Das Ergebnis ist ein Erzähltext, der den sozialen Prozeß der Entwicklung und Wandlung einer biographischen Identität kontinuierlich, d.h. ohne exmanente, aus dem Methodenzugriff oder den theoretischen Voraussetzungen des Forschers motivierte Interventionen und Ausblendungen, darstellt und expliziert.“152