2.2.2 Phonetische Beschreibung der Vokale
2.2.2.3 Vokaldauer und Gespanntheit
In den bisherigen Erörterungen war nicht von Einzelvokalen, sondern von Vokalklassen, ganz genau von
sieben Vokalklassen
die Rede. Diese Formu-lierung legt offensichtlich nahe, dass zu einer Klassifizierung innerhalb dieser Klassen weitere Parameter notwendig sind. Zur Ermittlung dieser Parameter soll die Auflistung in (16) dienen.15 Es muss allerdings angemerkt werden, dass der Grad der Lippenrundung mit der Zungenhöhe negativ proportional sinkt.
Zungenlage
vordere Vokale zentrale Vokale hintere Vokale
Zungenhöhe
hohe Vokale i-Vokale ü-Vokale - u-Vokale mittlere Vokale e-Vokale ö-Vokale - o-Vokale
tiefe Vokale - - a-Vokale
-Lippenaktivität nichtrund rund nichtrund rund
Tab. 6 Zungenhöhe, Zungenlage und Lippenaktivität im Deutschen
(16) Vokalklassen im Deutschen nach Zungenlage und -höhe sowie Lippenaktivität i-Vokale (hohe vordere nichtrunde Vokale):Zh9\(biete);ZH\(bitte),Zh\(Bitumen) ü-Vokale (hohe vordere runde Vokale):Zx9\(Füße),ZX\(Füssen),Zx\(Physik) u-Vokale (hohe hintere runde Vokale):Zt9\(Studium),ZT\(Stuttgart),Zt\(Student) e-Vokale (mittlere vordere nichtrunde Vokale):Zd9\(Beet),ZD\(Bett),Zd\(Beton) ö-Vokale (mittlere vordere runde Vokale):Z19\(Höhle),Z8\(Hölle),Z1\(Ökonom) o-Vokale (mittlere hintere runde Vokale):Zn9\(Ofen),ZN\(offen),Zn\(Molekül) a-Vokale (niedrige zentrale nichtrunde Vokale):[a:] (Bahn) Z`\(Bann),(banal) Schon auf einen flüchtigen Blick auf (16) fällt auf, dass alle Klassen
je drei Vokale
enthalten ˇbis auf die a-Klasse,die nur aus zwei Vokalen besteht.Eine weitere Untersuchung der Liste ergibt darüber hinaus,dass in allen Vokalklassen ein langer Vokal vorkommt.16 In der Tat wird die relativeVokaldauer
als einweiteres Beschreibungs- und Klassifizierungskriterium für den Vokalismus des Gegenwartsdeutschen verwendet, aufgrund dessen
Lang- und Kurzvokale
unterschieden werden können.
Betrachtet man die Auflistung unter (16), so ergibt sich ebenfalls, dass in den ersten sechs Vokalklassen der jeweils zweite Vokal mit einem anderen IPA-Symbol wiedergegeben wird als der jeweils erste und dritte.Geht man von dem Grundgedanken des IPA-Alphabets aus, dass zwischen den Symbolen und Laut-werten eine eineindeutige Beziehung besteht, kann diese Beobachtung dahinge-hend interpretiert werden kann, dass der jeweils zweite Laut eine
andere Qualität
hat als die anderen beiden Vokale derselben Klasse. Zur Abgrenzung dieser Lautqualität verwendet man gewöhnlich das Kriterium derGespannt-heit
, die sich auf den Spannungsgrad aller an der Artikulation teilnehmenden Muskeln, d. h. eigentlich auf die Intensität der Vokalartikulation bezieht. Der jeweils erste und dritte Vokal in jeder Klasse wird dabei als gespannt bezeich-net, was auf eine intensivere Artikulation hinweist, während der jeweils zweite Vokal in den einzelnen Klassen von (16) ungespannt genannt wird.Hinzugefügt werden soll, dass für diese Unterscheidung neben dem Span-nungsgrad oft auch ein anderer Parameter genannt wird: die
Zentralisiert-heit
. Bei diesem Begriff geht man davon aus, dass sich die Artikulationsorgane16 Vgl. den Doppelpunkt beim ersten Vokal jeder Klasse.
bei der Bildung der ungespannten Vokale weniger von ihrer Ruhelage entfernen als bei der der gespannten Vokale, was mit der weniger intensiven Artikulation der ungespannten Vokale zusammenhängt. Da die Ruhelage des Zungenkörpers mit der mittleren zentralen Stellung gleichgesetzt werden kann, bedeutet dies, dass sich die ungespannten Vokale diesem vertikalen und horizontalen Mittel-punkt nähern, weshalb sie als zentralisiert bezeichnet werden. Für gespannte Vokale gilt dies nicht, daher werden sie auch nichtzentralisiert genannt.
Zusammenfassend kann man bezüglich der Auflistung unter (16) Folgendes feststellen. Bis auf die a-Vokale kann man in jeder Vokalklasse einen
gespann-ten (nichtzentralisiergespann-ten) Langvokal
, einenungespannten (zentrali-sierten)
und einengespannten (nichtzentralisierten) Kurzvokal
finden.Die Klasse der a-Vokale enthält dagegen nur zwei Laute:einen langen und einen kurzen Vokal, die ˇ wie das die Verwendung desselben IPA-Symbols zeigt ˇ identischer Qualität sind.17
Zum Schluss soll der obigen Klassifizierung eine wichtige Anmerkung hinzu-gefügt werden, die die Klasse der gespannten (nicht-zentralierten) Kurzvokale betrifft.Wörter wie Bitumen, Physik, Student, Beton, Ökonom, Molekül können in der Tat mit einem gespannten Kurzvokal in der jeweils ersten Silbe gesprochen werden - jedenfalls ist das die Aussprache, die man von geschulten Sprechern (z.B.von Fernsehmoderatoren) hört und die auch die Aussprachewörterbücher vorschreiben. Doch ist die
Ersetzung
dieses gespannten (nichtzentralisierten) Kurzvokalsdurch den
entsprechendenungespannten (zentralisierten) Vokal
auch möglich, und diese Aussprache ist sogar die, die die normale Um-gangssprache in den meisten Fällen kennzeichnet. Die Beantwortung der Fra-gen, warum diese Ersetzung stattfinden kann und welche Konsequenzen sie für das Vokalsystem hat,würde jedoch den Rahmen der phonetischen Beschreibung sprengen. Das Problem soll in den nächsten Kapiteln besprochen werden.17 Wir haben die Problematik der a-Vokale hier gewissermaßen vereinfacht geschildert.In Wirk-lichkeit lässt sich in der Aussprache mancher deutscher Muttersprachler auch bei diesen Voka-len ein den anderen Vokalklassen ähnlicher Gespanntheitsunterschied beobachten. Bei anderen Sprechern kann man diesen Unterschied dagegen in einer weit weniger ausgeprägten Form fest-stellen. Bei wiederum anderen ist kein Gespanntheitsunterschied vorhanden, während es schließlich auch Muttersprachler gibt, bei denen genau die entgegengesetzte Tendenz zu beob-achten ist. Diese enorme Schwankung macht es eher unwahrscheinlich, dass Gespanntheit bei den a-Vokalen irgendeine linguistische Relevanz hat, deswegen wurde sie hier ausgeklammert.
2.2.2.4 Reduktionsvokale
Aufgrund der Hauptkriterien der Vokalklassifizierung (Zungenlage, Zungenhöhe und Lippenform) kann man über die bisher ermittelten Vokale hinaus zwei wei-tere bestimmen, die im heutigen Deutsch vorkommen und die zusammenfas-send oft als Reduktionsvokale bezeichnet werden: das Schwa und das a-Schwa.
Das
Schwa
Z?\(vgl.Wiese,Aufgabe,schöne,gebeusw.) ist einmittlerer zen-traler ungerundeter
Vokal.Allein diese Beschreibung zeigt, dass sich die Arti-kulationsorgane bei der Bildung des Schwa in ihrerRuhelage
befinden, was die Bezeichnung Reduktionsvokal erklärt: Dieser Vokal wird mit sehr geringer Artikulationsenergie hervorgebracht.18Das a
-Schwa
Z5\ (vgl.Vater, Mutter, Bier,Tür usw.) ist ebenfalls ein ungerun-deter Zentralvokal, für den jedoch im Vergleich zum Schwa einetiefere Zungenstellung
charakteristisch ist. Dass man sich durch die Senkung des Zungenrückens in der zentralen Achse einem a-Vokal nähert, erklärt den Klang dieses Vokals, aber auch die Bezeichnung ‘a-Schwa’. Oft (und vor allem in pho-nologischen Beschreibungen) wird dieser Vokalvokalisiertes oder vokali-sches
r genannt, was zeigt, dass dieser Vokal in einer bestimmten Umgebung tatsächlich einen r-Konsonanten ‘vertritt’ ˇ wie es Wortpaare mit konsonan-tischem und vokalischem r wie Bier Z5\- Biere Z≤\,Tür Z5\ - Türen Z≤\usw. zei-gen. Andererseits bringt uns diese Bezeichnung auch näher an den Charakter der Reduktionsvokale:Die Tatsache,dass anstelle einer Hindernisbildung wie beiZ≤\bloß eine globale Formveränderung des Ansatzrohrs durchgeführt wird, kann ebenfalls als Reduktion gedeutet werden.
Die deutschen Vokale lassen sich demnach wie in Abb. 5 (nächste Seite) zusammenfassen. Diese Abbildung, das sog.
Vokaltrapez
, bietet eine schemati-sche Darstellung des Artikulationsraums, d. h. des durch die beiden Zungen-bewegungsrichtungen bestimmten Raums für die Anordnung der Vokale. (17) enthält zur Veranschaulichung der Abbildung wiederum Beispiele mit phoneti-scher Umschrift.18 Die oben gegebene Kurzcharakteristik erklärt auch die anderen gängigen Schwa-Bezeich-nungen:Murmelvokal, Neutralvokal, Minimalvokal, unbestimmter Vokal, minimale Vokalität.
(17) Zh9\Miete,ZH\Mitte,Zh\Bitumen,Zx9\Füße,ZX\Füssen,Zx\Physik,Zt9\Studium,ZT\
Stuttgart,Zt\Student,Zd9\Beet,ZD\Bett,Zd\Beton,Z19\Höhle,Z8\Hölle,Z1\ Öko-nom,Zn9\Ofen,ZN\offen,Zn\Molekül,Z`9\Bahn,Z`\Bann,Z?\Lehre,Z5\Lehrer