2.2.2 Phonetische Beschreibung der Vokale
2.2.2.5 Problematische Vokale
Außer den bisher behandelten Vokalen kommen im Deutschen weitere vor, die jedoch v. a. für den Phonologen Probleme bereiten.
An erster Stelle soll der
Vokal
ZD9\(vgl.Käse, gäbe, spät usw.) genannt wer-den, der ˇwie ein einfacher Vergleich dieses Symbols mit Abb.5 bzw.dem oben Gesagten ergibt ˇeinenungespannten (zentralisierten) Langvokal
dar-stellt.Damit stört er nicht nur die Systemhaftigkeit des deutschen Vokalsystems, indem er der einzige ungespannte Langvokal des Deutschen ist. Es steht für die Phonologen auch zur Diskussion, ob er überhaupt einen
standarddeutschen Vokal
darstellt. Eins steht nämlich fest: In dennorddeutschen
Dialektenkommt dieser Laut so gut wie nicht vor, an seiner Stelle wird ein mittlerer vor-derer nichtrunder gespannter Langvokal, d. h.Zd9\gesprochen. In den anderen Mundarten ist der Laut jedoch präsent, er zeigt sogar auch eine gewisse
pho-Abb. 5 Die Vokale des Deutschen im Vokaltrapez (die zentralisierten Vokale sind eingekreist)
nologische Relevanz. Daher muss die phonologische Beschreibung des stan-darddeutschen Vokalismus irgendwelche Vorschläge in der Hand haben,wie man diesen Vokal in das Vokalsystem des heutigen Deutsch einfügen kann,sofern von seiner Relevanz ausgegangen wird. Eine Möglichkeit dazu geht von folgender Bemerkung aus.Vergleicht man die Artikulation von Vokalpaaren wie [i:] vs.ZH\
und Zd9\vs.ZD\, so wird deutlich, dass bei der Bildung eines kurzen ungespann-ten ZH\der Zungenrücken fast auf derselben Höhe ist wie bei der Bildung eines langen Zd9\. Ähnliches trifft für die hinteren Vokale ZT\und Zn9\ zu. Somit kann man feststellen, dass ein ungespannter Kurzvokal qualitativ fast identisch ist mit einem gespannten Langvokal, der allerdings um eine Stufe niedriger artikuliert wird. Damit könnte man in ZD9\eigentlich einen
tiefen vorderen Langvokal
erblicken, der fast auf derselben Höhe gesprochen wird wie der eine Stufe höher gebildete ungespannte Kurzvokal ZD\. Mit dieser Interpretation könnte man diesen Vokal ähnlich wie die anderen Langvokale durchaus als gespannt be-trachten, bloß würde er die Besonderheit aufweisen, dass er keine kurze Ent-sprechung hat. Um diese Unterscheidung auch in der Transkription zu erfassen, könnte man statt des verwirrenden SymbolsZD9\das IPA-Zeichen für den tie-fen VordervokalZz9\verwenden.Betont sei jedoch nochmals:Diese Überlegun-gen sollten nur dann ernsthaft in Erwägung gezoÜberlegun-gen werden, wenn dieser Vokal im Standarddeutschen wirklich anzunehmen ist.
Ein anderes Problem bereiten die sog.
nasalierten Vokale
, oder kurz Nasalvokale wie ZNÒ\in Balkon,ZDÒ\in Cousin,Z8Ò\ in Parfum und Z`Ò\ in Cancan. Diese Vokalsegmente werden - ähnlich wie bei der Artikulation der Nasalkonsonanten ˇ mitgesenktem Velum
gebildet, wodurch ein Teil des lautbildenden Luftstroms durch den Nasenraum entweicht. Wie die obigen Beispiele zeigen, ist das Vorkommen der Nasalvokale im Deutschen stets an Wörter fremder, typischerweisefranzösischer Herkunft
gebunden. Eine andere wichtige Besonderheit dieser Vokalsegmente stellt die Tatsache dar, dass sie durch die Abfolge des entsprechenden oralen Vokals und des velaren oder dentalen Nasals durchaus ersetzt werden können (z. B. süddt.Zn9m\, sonst ugs.ZNM\). Somit stellt sich die Frage, ob diese Lautsegmente eine phonetisch-pho-nologische Beschreibung überhaupt enthalten soll oder nicht. Wenn man berücksichtigt,dass die heute einzig mögliche Aussprache z.B.der oben genann-ten Wörter die
ohne Nasalvokale
ist, so erscheint eine Ausklammerung dernasalierten Vokalsegmente aus der phonetisch-phonologischen Beschreibung durchaus als gerechtfertigt.
2.2.2.6 Diphthonge
Zum Schluss soll noch ein spezifischer Fall der Vokalartikulation besprochen werden, die Bildung von Zwielauten oder Diphthongen.
Die bisher besprochenen Vokale zeichneten sich dadurch aus, dass bei ihrer Bildung
eine einzige Artikulationseinstellung
(z. B. tiefe vertikale Zungenlage, zentrale horizontale Zungenlage und ungerundete Lippen) reali-siert wurde, was auf der auditiven Seite einengleichbleibenden Vokalklang
zur Folge hatte (vgl.Bahn).Im Gegensatz zu solchen
Monophthongen
werden bei denDiphthongen zwei Artikulationseinstellungen
realisiert, wobei diese durch eine Gleitbewegung der Artikulationsorgane verbunden werden.Das auditive Ergebnis dieser Artikulation ist eine
sich ändernde Vokal-qualität
, vgl. Bein. Dass es sich bei diesen beiden Artikulationseinstellungen nicht um zwei Monophthonge. d. h. einzelne Vokale handelt, zeigt die Tatsache, dass sie zu derselben Silbe gehören:Bein ist einsilbig.In der phonetischen Transkription werden Diphthonge mit den IPA-Sym-bolen der Vokale wiedergegeben, die den Anfangs- und Endpunkt der Gleitbe-wegung angeben:Z`h\ist die phonetische Umschrift des Diphthongs in Bein.
Bei der Klassifizierung der Diphthonge geht man gewöhnlich von der Veränderung der Druckstärke und der Richtung der Gleitbewegung der Zunge aus.Dadurch lassen sich drei Diphthongarten feststellen.Für die
schließenden Diphthonge
sind eine Abnahme der Druckstärke vom ersten zum zweiten Teilvokal hin sowie eine Gleitbewegung der Zunge nach oben charakteristisch.Steigende Diphthonge
zeichnen sich durch die Zunahme der Druckstärke und keine Gleitbewegung der Zunge nach oben aus.Schließlich sind bei denöff-nenden Diphthongen
keine Zunahme der Druckstärke und keine Gleit-bewegung der Zunge nach unten zu beobachten. Im Deutschen sind alle drei Diphthongtypen vorhanden.Die regulären, d. h. ‘festen’ Diphthonge des Deutschen gehören dabei zum schließenden Typ (vgl. (18)). Die Klasse der steigenden Diphthonge wird im Deutschen mit denjenigen Zwielauten repräsentiert,die einen i- oder u-Laut als ersten Vokal (Randvokal) und einen beliebigen weiteren Vokal enthalten (vgl.
(19)). Schließlich entstehen durch die r-Vokaliserung (s. oben) öffnende Diphthonge (vgl.(20)).
(18) schließende Diphthonge: die ‘festen’ Diphthonge
Z`t]\: Auto, braun, kaum
Z`h]\: nein, Schein, Mai, Mayer
ZNx]\: neun, Scheune, heute, Boiler (19) steigende Diphthonge: i-/u-Diphthonge
Zh]*V\: Folie, partiell, Meridian, Nation
Zt]*V\:Linguist, virtuell, tendenziös (20) öffnende Diphthonge:r-Diphthonge
ZV9*5]\:Bier,Tür, Heer, Öhr, stur,Tor