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Merkmale sozialer Bewegungen nach Tarrow

B. Das Terrain: Jobbik als radikale Rechte 2.0

1. Merkmale sozialer Bewegungen nach Tarrow

Nach Tarrow sind soziale Bewegungen „kollektive Infragestellungen, die auf gemeinsamen Zielen und sozialen Solidaritäten (social solidarities) basieren“ (Tarrow 2011: 9). Sie beeinhalten nachhaltige Interaktionen mit Eliten, Gegnern und Autoritäten. Kollektive Infragestellungen können tatsächliche Aktionen sein (wie die gewalttätige Besetzung des Fernsehsenders MTV in 2006) oder symbolisiert werden durch „slogans, forms of dress or music, graffiti, or renaming of familiar objects with new or different symbols“ (Tarrow 2011:10). Da sich Jobbik seit der Gründung konstant in der Opposition befindet – zunächst in der außerparlamentarischen und seit 2010 in der parlamentarischen – wird diese Infragestellung der herrschenden Ordnung dauerhaft beibehalten bzw. gepflegt. Das gemeinsame Ziel war 2006 konkret gegeben in Form des Wunsches, die aktuelle Regierung loszuwerden (Mátay/Kaposi 2008: 284), weitergehende Ziele waren außerdem die Erarbeitung und Verabschiedung einer neuen Verfassung (ebd.) bzw. die Änderung des Wahlrechts und des Staatsbürgerschaftsrechtes in der Hinsicht, dass alle (ethnischen) Ungarn automatisch ungarische Staatsbürger werden sollten. Diese Ziele wurden durch die Fidesz-Regierungen seit 2010 umgesetzt. Insofern könnte man argumentieren, dass die soziale Bewegung im Laufe der ersten Legislaturperiode nach der Definition von Tarrow ihren Status als soziale Bewegung verloren hat, da die gemeinsamen Ziele erfüllt und sogar der Parlamentseinzug Jobbiks geschafft wurde. Die Verbindung Jobbiks mit der Subkultur blieb aber ungebrochen stark und ist es weiterhin, wie in dieser Arbeit nachgewiesen wird.

Mit sozialen Solidaritäten meint Tarrow, „deep-rooted feelings of solidarity or identity”

(Tarrow 2011: 11). Er führt als Beispiele für solche tiefsitzenden Gefühle Nationalismus und Ethnizität an. Schlussendlich muss es nach seiner Meinung nachhaltige, also fortdauernde Infragestellungen bzw. Auseinandersetzungen mit der herrschenden Ordnung geben. Diese werden durch Gelegenheitsstrukturen begünstigt bzw. verhindert. Man kann einerseits argumentieren, dass es in Ungarn seit 2006 seitens der radikalen Rechten durch die Etablierung der ungarischen Garde bis zu deren Verbot 2009 eine solche nachhaltige Auseinandersetzung gegeben hat. Andererseits kann ebenso argumentiert werden, dass es durch die Nachfolgeorganisationen der Garde bzw. weitere paramilitärische Organisationen zu einer kontinuierlichen Auseinandersetzung und Infragestellung der herrschenden Ordnung gekommen ist mit einem negativen Höhepunkt der Evakuierung der Roma-Bevölkerung von Gyöngyöspata 2011 – laufend jedoch bis hin zur Gegenwart.

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Ein ambivalentes Beispiel ist in dieser Hinsicht die Feier Jobbiks zum Gedenken an die Revolution von 1956 am 23. Oktober 2015. Zunächst fand ein Fackellauf mit mehr als 1500 Teilnehmern durch die Budapester Innenstadt statt. Gegendemonstrationen gab es keine, insofern war ein überschaubares Polizeiaufgebot von ca. 20 Polizisten anwesend.

Vordergründig wurde die herrschende Ordnung nicht infrage gestellt. Jedoch kann erstens dagegen argumentiert werden, dass bereits die Okkupation des öffentlichen Raumes mit tendenziell aggressivem Habitus eine Infragestellung darstellt. Zweitens wurde auf dieser Demonstration dazu aufgerufen zu beenden, was 1956 und 2006 begonnen wurde: Den Sowjetstern am Denkmal des Freiheitsplatzes endlich zu entfernen. Auf Seiten wie Kuruc.info und Alfahír.hu wurde dies beworben. Somit wird regelmäßig das staatliche Gewaltmonopol infrage gestellt. Des Weiteren ist die herrschende demokratische Ordnung in Ungarn durch Organisationsformen wie der Etablierung des sogenannten Érpataker Modells29 2014 in einer dauerhaften Auseinandersetzung. Ähnliche Formen der Auseinandersetzungen bzw. der Infragestellungen herrschender Ordnungen online und offline unter Zuhilfenahme der sozialen Netzwerke sind nicht auf Budapest beschränkt, wie das Beispiel der Ortschaft Vámosszabadi in Nordwestungarm zeigt (Kallius 2014). Dort gab es eine Flüchtlingsunterkunft, gegen die insbesondere online Stimmung gemacht wurde. Alles in allem ist eindeutig, dass die radikale Rechte in Ungarn von 2006 bis 2010 einer sozialen Bewegung ähnelte und auch danach trotz (oder gerade aufgrund) des Parlamentseinzugs von Jobbik weiterhin viele Merkmale einer sozialen Bewegung aufweist – wie sich dies konkret zeigt, ist Thema dieser Arbeit.

Nach Tarrow gibt es contentious politics, wenn politische Gelegenheitsstrukturen dies ermöglichen. Diese Gelegenheitsstrukturen lassen kollektive Handlungen zu. Wenn diese kollektiven Handlungen auf engmaschigen sozialen Netzwerken, effektiven verbindenden Strukturen und legitimen handlungsorientierten kulturellen Deutungsrahmen basieren, dann können die kollektiven Handlungen nachhaltig und dauerhaft sein und somit zu sozialen Bewegungen werden (Tarrow 2011: 16). Dieses Postulat bildet einen essenziellen Eckpfeiler des theoretischen Fundamentes dieser Arbeit. Schließlich werden Netzwerke und identitäre Strukturen untersucht.

29 Dieses Modell, welches vom Bürgermeister der Stadt Zoltan Mihály Orosz eingeführt wurde, ist ein autoritär-hierarchisches Gesellschaftmodell, welches die Menschen in „Erbauer“ und „Zerstörer“ aufteilt.

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Ein weiterer zentraler Aspekt von Tarrows Studie ist die Argumentation, dass ein essentieller Bestandteil von sozialen Bewegungen darin besteht, „Bedeutung [zu] erschaffen und [zu]

manipulieren“ (Tarrow 2011: 142f). Dazu gehören zumindest drei Bestandteile: framing, die Schaffung und Definition einer kollektiven Identität und „Gefühlsarbeit“ (emotion work) (ebd.). Mit framing ist die Konstruktion von Interpretations- und Deutungsrahmen zu verstehen, durch deren Brille die Welt gesehen und verstanden wird (ebd.). Mithilfe der Konstruktion einer kollektiven Identität wird die In- und die Outgroup bzw. das „wir“ und das „sie“ eindeutig definiert. Gefühlsarbeit (emotion work) bezeichnet das Aufgreifen und Modellieren von Emotionen.

Tarrows Modell wird von Mario Diani und Donatella Della Porta bestätigt, da sie soziale Bewegungen als sozialen Prozess beschreiben, der drei Mechanismen beinhaltet, aufgrund welcher Akteure kollektive Handlungen verüben: konfliktbehaftete Interaktion mit klar definierten Gegnern, enge informelle Netzwerke und kollektive Identität (della Porta/Diani 2006: 20f.). Zum Verhältnis von einzelnen Organisationen zu sozialen Bewegungen halten sie fest: „a single organization, whatever its dominant traits, is not a social movement. Of course it may be involved in a social movement process, but the two are not identical, as they reflect different organizational principles” (della Porta/Diani 2006: 25). Die Instabilität der Beziehung der Identität einer Organisation und einer Bewegung führt dazu, dass eine Bewegung sich auflöst, wenn das Gefühl zu einer Organisation dazuzugehören, das Gefühl zu einer Bewegung dazuzugehören, ersetzt (della Porta/Diani 2006: 26). Zum Verhältnis von Parteien und sozialen Bewegungen führen Della Porta und Diani aus: „If social movements are analytically different from social movement organizations, any organization which is involved in a social movement dynamic may be regarded as a ‚social movement organization‘. This may also hold for bureaucratic interested groups and even political parties” (ebd.). Sie führen aus, dass sich unter bestimmten Umständen Parteien als Teil einer sozialen Bewegung sehen können und so gesehen werden von der sozialen Bewegung (ebd.). Ihrer Auffassung nach ist dies eher die Ausnahme als die Regel und betrifft insbesondere Parteien, deren Ursprung in einer sozialen Bewegung zu suchen ist, wie bei den Grünen (ebd.). Ziel der vorangegangen Ausführungen war es, den auf Sidney Tarrows Ansatz basierenden Teil des theoretischen Rahmens einzuführen und zu zeigen, wie Jobbik als Teil der sozialen Bewegung interpretiert werden kann. Der folgende Abschnitt erweitert diesen Rahmen dadurch, dass die Rolle des Internets in das theoretische Fundament integriert wird.

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