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Deutschsprachige Gedichte

Zur Identitätsfrage in den deutsch- und ungarischsprachigen Werken von Robert Becker

5 Beckers Werk aus der Leserperspektive

5.2 Deutschsprachige Gedichte

Was den in Beckers deutscher Dichtung verwendeten Wortschatz betrifft, ist hier im Unterschied zum Ungarischen eher die Verwendung von Ele-menten der aktuellen Alltagssprache typisch, vgl. z.B. den Neologismus in

„Eine SMS / erreicht dich am / anderen Ende der Welt“ (Ich vermisse dich).

Von Archaismen in der Morphosyntax abgesehen („Ich habe mich er-wärmet / am heißen Ofen sehr“ [Die Sense ist geschliffen]) gibt es verhält-nismäßig wenig gehobene Wortverbindungen, ja auch fast keine Wort-spiele im oben geschilderten Sinn – die Lexik ist eher allgemein und m.E.

weniger ‚originell‘, stattdessen eher konkret.

Die Palette an rhetorischen Mitteln und Ausdrücken scheint ebenfalls weniger breit bzw. gefächert zu sein. Natürlich finden sich derartige Mittel auch in Beckers deutschsprachigen Gedichten, so etwa „saure Zigaretten / raucht die Nacht / in ihr Bett / legen sich Hunger“ (Armut) oder „heute glänzt noch / alles wie ein Morgen / dessen Füße die Zeit / nicht mehr be-treten“ (Zerbrochen) – trotzdem hat man als Leserin das Gefühl, etwas nicht explizit, sondern erst implizit zu bekommen. Metaphern und Gleichnisse sind weniger ausgearbeitet: „Wände / sind weiß / wie Mehl“

(Hoffnung) oder „Raum schlingt sich / unendlich um mich / wie eine Wand“ (Ausgrenzung) und Alliterationen könnten an manchen Stellen et-was gezwungen wirken, vgl. „wortlos glänzen / tausend Worte / wer will der / kann“ (Ausgrenzung). Typisch ‚volkspoetisch‘ wirken demgegen-über Wiederholungen wie in „Der Wind weht gebrochen, / gebrochen in See – / er schaut sich, er schaut sich / im gebrochenen See“ (Gebrochen).

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Auf der Ebene der Intertextualität sind auch hier Bezüge zur Bibel cha-rakteristisch: „wenn’s losgeht / halten die Feinde zu dir / Judas sammelt / die Kräfte“ (Notiz);aber auch Personen aus der Antike werden erwähnt:

„in einer Galgenlandschaft / zerre ich mein Kreuz / an die Pforten von Rom / im Namen des Erlösers Spartakus“ (Tribut). Im Gedicht Thomas Müntzers Fahnenschwenker wird – neben anderen Verweisen auf die Re-formation und deren Vertreter – auf die prägnante Gestalt der Reforma-tionsepoche, den Pfarrer und Lehrer Thomas Müntzer, hingewiesen, der als bekennender Protestant den Märtyrertod erlitt. Zu anderen Texten der deutschsprachigen Literatur konnten vorerst keine eindeutigen Beziehun-gen belegt werden.

Für den deutschsprachigen Teil des Bandes scheint mir eher der Ge-fühlsreichtum charakteristisch zu sein. Tiefere und im wahrsten Sinne des Wortes ‚eigentümliche‘ oder ‚eigenste‘ Gedanken kommen hier zum Aus-druck; wobei man den Eindruck gewinnt, dass der Dichter sich weniger auf seine Kenntnisse als auf seine Instinkte stützt bzw. sich mehr emotio-nal leiten lässt: Es gibt mehrere Gedichte über Themen, die mit der Ge-schichte der Ungarndeutschen und dem Ungarndeutschtum verbunden werden können, so z.B. Vertreibung, Assimilationsprozess, Sprachverlust, Zweisprachigkeit, Heimat, Zweiheit von Vaterland und Mutterland, Be-ziehung zu Deutschland und Ungarn etc. Als charakteristische Beispiele für solche Texte im Band dürften die Gedichte Ungarndeutsche Ballade und Archiviert gelten, die hier im Volltext wiedergegeben werden sollen.

Ungarndeutsche Ballade ich will euch nun erzählen von einem Volk die Mär das runter ist gefahren die Donau bis zum Meer mit Hoffnung schwer beladen die Seele tief gerührt

so zogen sie gen Süden vom Kreuze angeführt gefolgt sind sie dem Rufe Land und Flur bebauen

Literarische Doppelidentität? ∙ 97 das Ungarn neu zu jäten

Wildnis rauszuhauen da drunten an der Donau fing unser Schicksal an betrübt ergriff es alle bis auf den letzten Mann erst kamen harte Jahre wo Hunger uns gezählt der Tod im blinden Gleichmut hat viele ausgewählt

doch in des Herren Weinberg gab es für uns Gnade

frohlockt hat jeder Winzer wenn die Lese nahte

ruhmvoll wir hervorgebracht der Gelehrten viele

edle Künste aller Zeit waren uns’re Ziele

wir hielten auch zum Lande stets treu und immerfort doch mussten wir erfahren hier stört das deutsche Wort so sollten wir bald gehen mit leerem Bündel aus das Brot nicht mehr vertilgen und lassen Hof und Haus nur mancher blieb in Ungarn ohne es verschuldet

Jahrzehnte sind vergangen bis man jetzt uns duldet die Alten sind schon rüber es folgt kein neues Glied gar einsam ist der Sänger verstummen soll sein Lied

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Archiviert

nur Erinnerungen hält noch die Sprache meiner Ahnen auf Tonband fest

gehen sollte ich von hier nur wohin verdammt verdammt wohin nicht einmal Reste einer Heimat gibt es

denn nur hier könnte sie sein nur hier nur hier

Bereits weitere Titel wie Fünfkirchen oder Die schwäbische Türkei sind in dieser Hinsicht vielsagend und zeigen auch sehr explizit, dass Becker sich in seinen deutschen Texten thematisch dem auch von ihm gefühlsmäßig

‚miterlebten‘ oder ‚nacherlebten‘ Schicksal seiner deutschsprachigen Ah-nen widmet: Die beiden Begriffe bezeichAh-nen bekanntlich die Stadt Pécs/

Fünfkirchen und deren geographisches Umfeld im südungarischen Ge-biet, wo Becker seine Kindheit verbracht hat. Gedichttitel wie Assimila-tion, Das Bündel gepackt, Archiviert oder Ob ich eine Heimat habe?! wei-sen wiederum auf Ereignisse – Vertreibung, Assimilation und Sprach-verlust bzw. den häufig mit diesem einhergehenden IdentitätsSprach-verlust der Ungarndeutschen – im 20. Jahrhundert hin, die das Leben dieser einst wirtschaftlich und kulturell blühenden und auch die ungarische Ge-schichte und Kultur wesentlich mitgestaltende Volksgruppe nachhaltig und zumeist auf recht tragische Weise beeinflusst haben.

Insgesamt lassen sich also Beckers deutschsprachige Gedichte in mei-nen Augen einem Begriffskonzept zuordmei-nen, das sich konzeptionell mit dem Merkmal der primär von melancholisch-nostalgischen Sehnsuchts-gefühlen geprägten, chronologisch-rückwärtsgerichteten, in dieser Hin-sicht also überwiegend eindimensionalen ‚assoziativen Tiefe‘ charakteri-sieren ließe – in diesen Gedichten scheint sich der Autor mehr seinen Ge-fühlen und instinktiv ‚erarbeiteten‘ Gedanken und somit den ‚dunkleren Tiefen‘ seiner Persönlichkeit und seiner Herkunft zuzuwenden.

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5.3 Gemeinsamkeiten

Über die prägnanten Unterschiede hinaus gibt es natürlich auch gewisse Motive und Momente, die sowohl den ungarischen wie auch den deut-schen Teil des Bandes weitgehend kennzeichnen. So erscheint unter ande-rem in beiden Teilen mehrmals das Motiv des Propheten und weiterer bib-lischer (sowohl alt-, als auch neutestamentlicher) Gestalten und Symbole – mal biblisch konnotiert, in anderen Fällen als etwas ganz Alltägliches:

„Judas sammelt die Kräfte der Hahn kräht“ (Notiz); „Lehre mich dein Ge-bet / – Vater unser –“ (Zweifeltilger ) oder „nyakamon a hurkot / átvetette már kardos szókkal / kinevetett Jónás ki dúl fúl“ (Naiv kis világ).

Auch das Motiv des Todes kehrt in beiden Teilen immer wieder zu-rück. In den deutschen Gedichten oftmals verwendete Wörter sind Tod, tot, tödlich, getötet und sterben, Gestorbenen; in den ungarischen Texten finden sich z.B. Stellen wie „halott madár szárnyát csóválja / szürke kő-halmocska sírján“ (Éljenek a jégcsipkék); „Csak azt ne higgyétek, / hogy túléli a létezés, / ha én meghalok“ (Úgy vigyázzatok rám!), in den deut-schen „merkst verblüfft / der Tod singt deine Lieder“ (Die Zeitenuhr);

„Der Tod ist ein Heiligtum: / eine leere Urne im aufgebrochenen / Grab des Lebens“ (Panoptikum) – wie auch dieses letzte Beispiel zeigt, sind diese und ähnliche Textstellen allerdings durchaus nicht immer – und keineswegs ausschließlich – negativ konnotiert.

In formaler Hinsicht ist in zahlreichen Gedichten in beiden Sprachen der oben bereits erwähnte Verzicht auf Zeichsetzung zu beobachten, die-ser Zug wird bei Becker wohl als ein von der aktuell verwendeten Spra-che unabhängiges Charakteristikum gelten. Vom Umfang her sind fast alle Gedichte eher kurz; außerdem beginnen viele mit einem Kleinbuchstaben und enden ebenfalls ohne Interpunktionszeichen. In beiden Teilen kom-men auch aus insgesamt fünf bis sechs Wörtern bestehenden ‚Texte‘ vor, die syntaktisch gesehen keine Sätze, sondern häufig eher freischwebende

‚Wort-Komplexe‘ darstellen. Je ein typisches Beispiel dafür bieten etwa die

‚Texte‘ „hazug világ / álköltemény / idézet egy versből / mely régen elve-szett“ (Margóra) und „Pinselstriche / tragen Ähren / untergehender / Son-nen / Zeit ruht / an Farben / getrocknet / die Speicher / sind voll / nur Wände / sind weiß / wie Mehl“ (Hoffnung).

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