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Deformierte Weiblichkeit

Eine vergleichende Analyse von zwei Verfilmungen von Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame

3 Vergleichende Analyse von Motiven und Design- Design-elementen beider Verfilmungen

3.3 Deformierte Weiblichkeit

Claires Figur ist mehrfach kodiert. Sie hat praktisch alle sozialen Sphären der Gesellschaft erfahren – vom Kleinbürgertum über das Leben als Pros-tituierte hin bis zur Milliardärin. Gleichsam märchenhafterweise steigt sie ohne Einfluss auf die Geschehnisse aus der unteren Schicht in die höchste auf (Schu 2007: 87). Der Grund für die Auswahl dieses Aspekts ist der bedeutende Unterschied zwischen den Darstellungen von Claires Figur in den beiden Verfilmungen. Keine einzige Szene aus der ersten Verfilmung könnte hier genannt werden, wo Claire als eine unentschlossene Frauen-gestalt erscheint. Im zweiten Film hingegen wird der Romantik eine be-sondere Funktion verliehen, indem in Claires Charakter Emotionen wie Wut, aber auch Trübseligkeit und Begier nach Liebe zugelassen werden.

Diese Gefühle zeigen sich z.B. am Ende bei dem – allerdings zu späten – Versuch, Ill zu retten. Laut Sabine Schu sind es vor allem träge Frauen, die wegen einer Liebesbeziehung – meistens durch einen Seitensprung – zu Opfern werden, und nur die emanzipierten Frauengestalten sind dazu

Abb. 11 Die ‚gelben‘ Schuhe in Cremers Film

Dramenmotive und Filmdesign ∙ 47 befähigt, Widerstand zu leisten (vgl. Schu 2007: 92). In dieser Hinsicht ist Claire einem ungeheuren Schicksal ausgeliefert, wobei der Umstand, zur Milliardärin geworden zu sein, eher einem glücklichen Charakterzug zu verdanken ist, durch den sie ohne jegliche Anstrengung aufsteigen kann.

Aufgrund dessen ist sie nur ab dem Punkt als emanzipierte Frauengestalt wahrnehmbar, als sie die Entscheidung getroffen hat, nach Güllen zurück-zukehren, um mit ihren Feinden abzurechnen.

Das auffälligste Zeichen für die körperliche Deformität Claires sind ihre Prothesen. Ihr Körper ist aus Metallteilen zusammengestellt, die auch zu ihrer Grausamkeit und augenscheinlichen Immortalität beitragen. In Cremers Film macht Claire Witze über ihre Prothesen und erklärt, dass sie nach einem Flugzeugabsturz in Afghanistan als einzige Überlebende ihren Arm und ihr Bein verloren habe. In dieser Verfilmung wirken die Prothesen eher als ‚kraftverleihende‘ Mittel, mit deren Hilfe sie am Leben geblieben ist. In Leytners Film hingegen tritt Claire nie ohne ihren Spa-zierstock auf; sie nimmt mehrmals Medikamente ein, um ihren Schmerz zu stillen, trotzdem fällt sie mehrmals hin, wodurch die Prothesen auch zum Zeichen ihrer Schwachheit und Verwundbarkeit werden. Im ersten Film zeigt sich diese verletzliche Seite Claires in keiner einzelnen Szene:

Sie scheint durchgehend unverwundbar zu sein und behält immer ihre Fassung. Aber in beiden Verfilmungen kann man diese zu ihrem Körper hinzugefügten Teile als ‚Scherben‘ betrachten, die die von ihr erlittenen Demütigungen repräsentieren.

Wie dieses innerlich und äußerlich zerstörte Wesen im Drama handelt und in den Verfilmungen veranschaulicht wird, verweist auf ihre vernich-tete Werte- und Weltordnung. Ihr Äußeres wird als indirekter Hinweis auf ihre inexistente Innenwelt wahrgenommen. Was die in Leytners Film ver-wendeten Farben betrifft, zeugen ihre Kleidungsstücke von zahlreichen Attributen wie Hoheit, aber auch von Verlust und Jähzorn. Sie erscheinen allerdings nur an der Oberfläche und werden nie konkret angesprochen.

Daneben sind auch die in den Verfilmungen erscheinenden Tiere ein Mittel dazu, Claires Charakter zu untermauern (vgl. Schu 2007: 129). Im ersten Film ist es ein schwarzer Panther – auf den in Cremers Film nur in Form einer Kiste verwiesen wird –, der zugleich in Verbindung mit Ills Fi-gur steht. In Leytners Film hingegen ist es ein Rottweiler, der in der

48 ∙ ADRIENN KAISER

Hundewelt als eine gefährliche Rasse gilt. Der Name des Hun-des ist Nero, womit wir wie-derum einen Hinweis auf Claire erhalten. Der Name deutet auf etwas Starkes und Schwarzes hin, was sich in diesem Fall so-wohl mit dem Rottweiler als auch mit Claire identifizieren lässt. Ills Freundschaft mit dem Hund mag – wie oben schon er-wähnt – auf seltsame Weise mit der Akzeptanz seines Schicksals zusammenhängen, wobei der Hund dieses unausweichliche Schicksal verkörpern kann: bei-de Tiere sind schwarz, passen so zu Claires Figur und repräsen-tieren ihren Charakter noch kraftvoller.

Diese Unvereinbarkeit ein-ander gegenüberstehender Att-ribute macht Claires Figur un-durchdringlich. Die Symbole, die wie ein Netz um ihren Cha-rakter gewoben werden, könn-ten gleichsam als die Fragmente ihrer Seele betrachtet werden.

Um zu einer minutiösen Analy-se ihrer Figur zu gelangen, ist man gefordert, die Motive zu berücksichtigen, die dabei als Vertreter ihres Charakters fun-gieren. Das Motiv der defor-mierten Weiblichkeit ist

auf-Abb. 12 Nero in Leytners Film

Abb. 12 Der ‚Panther‘ bei Cremer

Dramenmotive und Filmdesign ∙ 49 grund dieser Aspekte zu betrachten. Darüber hinaus lässt sich feststellen, dass Leytners Film mit der Präsenz der hier dominierenden Farben und mit der unmaskierten Darstellung von Claires Verletzlichkeit dazu bei-trägt, ihre psychischen Wunden genauer wahrnehmen zu können.

4 Zusammenfassung

Obwohl es sich hier um kein abstraktes, sondern um ein sehr wohl ma-terielles und handgreifliches Thema handelt, versteckt sich seine Kom-plexität in der meisterhaften Verflechtung einzelner Details, denen gewis-se Konnotationen absichtlich hinzugefügt werden.

Die von Dürrenmatt geschaffene Welt hat Cremer dem Publikum im Wesentlichen unverändert weitergegeben und die Arbeit der Entzifferung der Symbolik dem Publikum überlassen. Demgegenüber hat Leytner mit seinen zahlreichen und z.T. mehrfach kodierten Symbolen (Hund, Mu-schel und Teich) gravierende Veränderungen vorgenommen.

Einer der größten Unterschiede, der in dieser Hinsicht der Verfilmung von Leytner ein ästhetisches Plus gibt, ist die Hervorhebung der Funktion der Presse durch die Figur von Ills Tochter Mia. Diese Veränderungen die-nen wohl dazu, dem Film eidie-nen romantischen Zug zu verleihen: einerseits mit dem Teich als neuem Treffpunkt und der Muschel als Requisit, ande-rerseits mit der Andeutung des Erwachens der ehemaligen Liebesbe-ziehung. Daneben ist Claires Charakter, der im Zusammenhang mit der späteren Verfilmung einen moralischen Aufstieg erlebt, von großer Wich-tigkeit. Die in Cremers Film visualisierte starke, unabhängige Frau wehrt sich gegen alle externen Angriffe. Demgegenüber zeigt sich Leytners Claire als eine gefühlsmäßig beeinflussbare Frau, die ihren ursprüng-lichen Plan nicht tätigen kann. Claires Prothesen sind bei Cremer kraft-gebende Mittel, bei Leytner hingegen Zeichen der Verwundbarkeit. Mit der neueren Auffassung von Claires Figur gelingt es Leytner, ihre verzwei-felte Seite zu demonstrieren, indem er hinter diese scheinbar unzerbrech-liche Maske schaut und Claires wahres Gesicht erblickt.

Warum ist nun Cremer beim Original geblieben und hat Leytner zu eben diesen revolutionären Symbolen und dem neuen Design gegriffen?

50 ∙ ADRIENN KAISER

Die Auswahl von Motiven und Designelementen dürfte nicht nur von der ästhetischen Auffassung des jeweiligen Regisseurs, sondern auch von der Möglichkeit der vielfältigen Konzeptualisierung des Stückes abhängen.

Wahrscheinlich bedarf (auch) dieses Drama immer neuer Aufarbeitun-gen, weil man zu seiner reichen Motivwelt nicht nur eine einzige Lesart finden kann. Ob man am Ende die richtige Wahl getroffen hat, zeigt sich ohnehin in der Bewertung des Resultats durch das Publikum.

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