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Krisendarstellung in Terézia Moras Der einzige Mann auf dem Kontinent

In document Großwardeiner Beiträge zur Germanistik (Pldal 173-183)

Eszter Propszt (Szeged)

Über Darius Kopp ist nicht viel Interessantes zu erzählen. Er ist Jahrgang 1965, 178 cm hoch, 106 kg schwer, gelernter Funkmechaniker und studierter Informa-tiker, Vertreter – als „einzige[r] Mann auf dem ganzen Kontinent“1 – von Fide-lis, einer amerikanischen Informationstechnologiefirma für drahtlose Kommuni-kationssysteme, verheiratet mit Flora Meier, einer gebürtigen Ungarin, kinder-los. Ein nicht überzeugend arbeitsfähiger, aber ganz gewiss ein genuss- und glücksfähiger Mensch, der auch in seiner Schwerfälligkeit und Ungewandtheit als liebenswürdig erscheint. Was an ihm merkenswert ist, ist kurz erzählt, näm-lich, dass er nicht wahrnimmt, dass sein Leben in eine Krise gerät: In sieben Ta-gen verliert er seinen Job und vielleicht auch seine Frau, und seine ohnehin labi-len Beziehungen zu seiner Mutter und zu seiner Schwester kommen arg ins Wanken.

Mehr Interesse als er beansprucht die Erzählinstanz für sich, die ihn als ei-nen „Drahtlosen“ erzählt, d.h. als eiei-nen, der keiei-nen guten Draht zu seiei-nen Vor-gesetzten, zu seiner Frau, zu den Frauen seiner Familie usw. hat, die Erzäh-linstanz, die die Fäden, bzw. wie es im Folgenden metaphorisch heißen soll, die Drähte in Darius Kopps textuellem Leben zieht.

Ihr Wirken als eine Art Konstruktionsprinzip werde ich in mehreren Zu-sammenhängen untersuchen: als Konfrontation verschiedener Standpunkte2, und als Artikulation der Korrelation zwischen narrativer Aussage und dem Aussage-gegenstand, als Konstruktion des Erzählobjekts über Vermittlung und Perspekti-vierung des Erzählten.3 Diese Aspekte meiner Untersuchung sind als

1 Mora, Terézia: Der einzige Mann auf dem Kontinent. München: Luchterhand, 2009, S.

21.

2 Ich orientiere mich (u.a.) an Uspenskijs Standpunkt-Begriff (Uspenskij, Boris Andree-vič: Poetik der Komposition. Struktur des künstlerischen Textes und Typologie der Kompositionsform. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1975.), den er aus der Differenzie-rung von vier Ebenen erarbeitet, von der Ideologie, der raum-zeitlichen Position der Er-zählinstanz, der Phraseologie und der Psychologie. In diesem Aufsatz verwende ich das Wort „Perspektive“ als Synonym von dem so definierten „Standpunkt“.

3 Ich gehe von Genetteʼs Distanz- und Fokalisierungsbegriff aus (Genette, Gérard: Die Erzählung. München: Fink, 1998.), ziehe aber auch die Diskussion bzw. Kritik und Neuinterpretation dieser Begriffe heran (Martinez, Matias – Scheffel, Michael: Einfüh-rung in die Erzähltheorie. München: C. H. Beck, 2005.; Bal, Mieke: Narratology.

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nen der Konstruktion ineinander verwoben, die Beschreibung der Standpunkt-konfrontation wird jedoch eher einen semantischen Aspekt geltend machen, die Beschreibung der Vermittlung und Perspektivierung eher einen funktionalen, pragmatischen Aspekt.4

Die Erzählinstanz zieht die Aufmerksamkeit durch Souveränität und Autori-tät auf sich. Sie bietet ihre Position als eine von zeitlichen und räumlichen Schranken freie dar, als höchste Erzählinstanz verwaltet sie5 viele Perspektiven, selektiert und hierarchisiert diese (über quantitativen Umfang und qualitative Streuung) und präsentiert dabei ihre Überlegenheit, somit auch ihren quasi transzendentalen Machtanspruch6.

Sie macht deutlich, dass sie überall anwesend und allwissend ist, dass sie ei-nen uneingeschränkten Zugang zu emotionalen, kognitiven und mentalen Pro-zessen (d.h. Gefühlen, Gedanken, mentalen Bildern usw.) ihrer Figuren hat:

Du hättest dich wenigstens entschuldigen können. Du hast kein Recht, sie zu hassen und zu verachten. Darius Kopp bat die Stimme in seinem Kopf höflich, ihm gefäl-ligst nicht auf den Sack zu gehen. Ich habe genug Probleme!7

Klingeln, keine Antwort.

Wie spät ist es? 11:40. Montagsmeeting? […] Oder bist du grad auf dem Klo, Ste-phanie?

Kopp imaginierte das Büro in London, den Korridor, die Toilettentür … (Was ist los, heute bin ich so bildreich …)8

Eines Tages wird uns dieses Chaos verschlingen. Flora sah das bildlich vor sich.9

troduktion to the Theory of Narrative. Toronto: University of Toronto Press, 1997.), re-levant für meine Untersuchungen ist außerdem Füzi, Izabella – Török, Ervin: A nézőpont aspektusai. Mediális változatok filmben és irodalomban. In: Szabó, Erzsébet – Vecsey, Zoltán (Hg.): Nézőpont és jelentés. Szeged: Grimm, 2010, S. 187–256.

4 Beide Aspekte können laut Füzi – Török [Anm. 3] der Perspektive zugeordnet werden, wenn man Perspektive als Ursprung von Bedeutungsbeziehungen versteht.

5 Die Erzählinstanz beschreibe ich nicht nur deswegen als unpersönlich, weil sie selbst ein Konstrukt ist, sondern auch wegen ihrer noch auszuführenden Omnipotenz. (Aus diesem Grund wäre sie besser als geschlechtslos darzustellen, jedoch einer sprachlich-grammatischen Zweckmäßigkeit zuliebe apostrophiere ich sie als „sie“ bzw. „die“.) 6 Dass die Erzählinstanz eine gottähnliche Position in der Textwelt einnimmt, ist auch im

Vergleich mit dem ersten Mora-Roman Alle Tage beachtenswert, in dem diese Position verweigert worden ist. (Vgl. die Interpretation Identitäts(re)konstruktion im Namen des Vaters und des Sohnes – Terézia Moras „Alle Tage“ in: Propszt, Eszter: Be-Deutung und Identität. Zur Konstruktion der Identität in Werken von Agota Kristof und Terézia Mora. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2012, S. 113–139.

7 Mora [Anm. 1], S. 306.

8 Ebd., S. 157.

9 Ebd., S. 189.

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Für einen Sekundenbruchteil sah er noch, dass sie ihr fürsorgliches Gesicht trug – Das ist gut, das ist das bessere! – dann befand er sich schon in ihrer Umarmung. […]

Tut mir leid, sagte Marlene in Gedanken zu ihrem Bruder. Ich konnte einfach nicht mehr. […]

Sie ließ ihn los und sagte statt all dem:

Lass uns erst einen Kaffe trinken. Unten ist so ein Laden.10

Sie re-konstruiert sogar imaginäre Gespräche, eins zwischen Kopp und und sei-nem Freund Juri, und auch ein nicht stattgefundenes Gespräch Kopps mit Flora.

Auch indem sie dabei auf die Grenzen von Kommunizierbarkeit und Formulier-barkeit mancher Gedanken, Gefühle, Erfahrungen hinweist, gibt sie zu verste-hen, dass sie eine privilegierte Stellung einnimmt, sie „zitiert“ Flora:

Du willst es einfach nicht verstehen, oder? Was ist das überhaupt für ein Saftladen, der es 2 Jahre lang nicht schafft, offiziell zu werden? Und du verteidigst sie auch noch, redest irgendwas von internationaler Realität. Wirklich, solche Worte ge-brauchst du. Das erste Mal ist das rührend, später ist das nicht mehr als dämlich. – So sagte sie das natürlich nie.11

Und Stephanie (eine Kollegin von Kopp):

Was sie tun müsse, sei ihr [Stephanie] klar geworden, als all ihre gesundheitlichen Probleme, wie: verstopfte Nase, Kopf-, Kiefer-, Nacken-, Rücken-, ja sogar Arm- und Beinschmerzen, außerdem Appetitlosigkeit im Wechsel mit plötzlich abstürzen-dem Blutzucker, Schwindel, Verstopfung und Durchfall (das sagt sie Darius Kopp, bei aller Liebe, nicht in dieser Ausführlichkeit), Menstruationsbeschwerden (auch das nicht), wie all das, nicht plötzlich, aber nach dem ersten Tag ohne ihn im Büro wie weggeblasen war.12.

Ihre Allmacht scheint die Erzählinstanz dazu zu gebrauchen, die Drähte kreuz und quer zu ziehen. Dadurch bewerkstelligt sie eine durchgehende Inkongruenz.

Inkongruenz bewerkstelligt sie mit der Verwaltung und in der Vermittlung der kontrastreichen, einander manchmal sogar überschreibenden Figurenperspekti-ven. Die Perspektiven werden nicht immer einer Subjektposition zugeordnet – auf den raum-zeitlichen und personalen Deixis ihrer erzählten Welt legt die Er-zählinstanz ohnehin keinen Wert –, aber auch wenn, nicht die „Subjektivität“

der Perspektive wird fokussiert13, sondern ihre „Ideologie“, „Phraseologie“ und

10 Ebd., S. 286–287.

11 Ebd., S. 341.

12 Ebd., S. 350.

13 Es ist eine Evidenz der Erzähltheorie, dass Perspektiven grundsätzlich nicht durch die sie tragenden Subjekte unterschieden werden können bzw. müssen, da eine Figur meh-rere Perspektiven einnehmen kann und mehmeh-rere Figuren eine quasi gemeinsame Per-spektive vertreten können.

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„Psychologie“14, auch konfrontativ innerhalb einer Figur. So werden in der Er-zählung einer Verhandlung von Kopp diverse, unterschiedlich wertende bzw.

semantisierende Standpunkte einander gegenübergestellt:

Ja, unsere Komponenten sind tatsächlich das Beste, wenn es darum geht, Gebäude mit sowohl Ziegel- als auch Stahlbetonwänden zu vernetzen, wie es bei dieser so-wohl altehrwürdigen wie auch hochmodernen Universität der Fall ist, damit Sie, wo Sie gehen und stehen, verbunden sind mit dem Rest der Welt. Nein, man kann Sie durch dieses Netz nicht lokalisieren, so weit wie bei Star Trek sind wir noch nicht (da Sie mir humorlos zu sein scheinen, werde ich diesen Vergleich doch lieber weg-lassen), nein, man kann auch nicht sehen, auf welcher Sites Sie sich gerade (herum-treiben) befinden. Dass sich Ihre Mitarbeiter massenweise (Geschlechtskrankheiten) Viren einfangen, lässt sich mit entsprechenden Programmen verhindern oder zumin-dest eindämmen, dafür muss natürlich auch dieses Netz gewartet werden, aber das muss schließlich jedes System, ob physisch oder virtuell, aber damit sind Sie bei uns (mir) in den besten Händen.15

So wird der Standpunkt des Fachmannes und des professionellen Verkäufers, der Vertrauen zu wecken strebt, der Standpunkt des erfahrenen Verkäufers, der dem Kunden und dessen fachlichen Kenntnissen nicht traut, der Standpunkt des Privatmenschen, der von dem (Gesprächs)Partner gekränkt worden ist und der seine Kränkung nun hämisch aufzuwiegen versucht usw. miteinander konfron-tiert. Auch die Erzählung von Kopps Heiratsantrag an Flora zieht verschiedene Standpunkte heran:

Ich kann und will ohne dich nicht leben. Heirate mich, bitte.

(Seid ihr verrückt?! In so einer Situation heiratet man nicht! Und überhaupt: So was vererbt sich doch! – Ja. Ebenso wie Asthma.)16

Die in Klammern konfrontierten Standpunkte können genauso als ein Gespräch zwischen Kopp und seiner Mutter verstanden werden, als Äußerungen Kopps verschiedener Ich-Zustände, die sich in ihren psychologischen Dispositionen unterscheiden, und die mit der Terminologie der Transaktionsanalyse als (kriti-sierendes) Eltern-Ich und (verärgertes) Kindheits-Ich17 bezeichnet werden könn-ten. Es ist ersichtlich, dass die Erzählinstanz in der Konfrontation der diversen Perspektiven dadurch ein Konfliktpotenzial aufbaut, dass sie Vektoren in die Kommunikation der Figuren einzeichnet, die spannungsgeladen sind, aber nicht als Handlungen (auch nicht als verbale Handlungen) realisiert werden.

14 Ich verweise abermals auf Uspenskijs Standpunkt-Begriff.

15 Mora [Anm. 1], S. 208–209.

16 Ebd., S. 70.

17 Für die Untersuchung der Standpunkte kann sich Eric Bernes Transaktionsanalyse als ergiebig erweisen (Berne, Eric: Spiele der Erwachsenen. Psychologie der menschlichen Beziehungen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2007.).

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Die gerade angeführten Beispiele lassen sich auch durch solche aus dem

„Beziehungs-Diagramm“ von Kopp und Flora ergänzen, in dem konfliktbelade-ne Vektoren z.B. in eikonfliktbelade-nem Gespräch vor dem Abfahren ins Wochekonfliktbelade-nende sicht-bar werden:

Wollen wirklich schon heute Nacht fahren? Es ist zappenduster und du bist müde … (= ein Nervenbündel…)18

oder auch bei einem Gespräch darüber, wie Kopp zu seiner im Krankenhaus lie-genden Mutter fährt:

Würdest du mich fahren?

Nein, es tat ihr leid, aber das wäre nicht zu schaffen. Es ist schon Mittag. Dich hin-bringen und wieder rechtzeitig zurück sein zur Arbeit, das ginge selbst dann nicht, wenn sie Gaby nicht um 1 vom Bahnhof abholen müsste.

Wieso musst du Gaby um 1 vom Bahnhof abholen?

Weil sie dann dort ankommt. Sie kommt heute zurück.

(Und Gaby ist wichtiger als meine Mutter?

Willst du darauf jetzt wirklich noch einmal die Antwort hören?)19

Inkongruenz bewerkstelligt die Erzählinstanz auch mit der Vermittlung und Per-spektivierung des Erzählten. Die Distanz zu ihren Figuren lässt sie manchmal radikal zu-, manchmal radikal abnehmen. Manchmal stellt sie sich selbst in den Vordergrund und macht ihre Erzählung als solche wahrnehmbar:

Überspringen wir den zweiten Teil der Fahrt, nach dem Umsteigen, weitere 2 Stati-onen. […] Überspringen wir, dass er zunächst nicht ins Büro ging20.

Aber bitte schön, hier das wenige, das Kopp erfuhr (sie erzählte, im Gegensatz, nicht wahr, zu den meisten, nicht besonders gerne von sich, so dass man es diesmal kaum zusammenfassen muss)21.

Um es kurz zu machen: es stellte sich heraus, dass sie in eben jenem Haus wohnte, in dessen Eingang er sie gezerrt hatte. […] Den Rest kennt man.22

Oder nimmt Bezug auf Konventionen der Textkonstruktion: „Neben all dem an-deren ist das hier nicht zuletzt eine Liebesgeschichte.“23 Manchmal tritt sie hin-ter ihren Figuren zurück und bleibt scheinbar abwesend.

Die wechselnde Distanz stellt die Inkongruenz über Identifikation und Nicht-Identifikation her, genauso wie das Wirken der Erzählinstanz als Fokali-sierungsinstanz und ihr Zusammenwirken mit anderen FokaliFokali-sierungsinstanzen,

18 Mora [Anm. 1], S. 55.

19 Ebd., S. 270.

20 Ebd., S. 18.

21 Ebd., S. 58.

22 Ebd., S. 57.

23 Ebd., S. 10.

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wie es die folgenden Passagen bezeugen.24 Die Erzählinstanz identifiziert sich manchmal mit verschiedenen Ich-Zuständen von Kopp, ohne die Gendanken- oder Redeanteile explizit zuzuweisen:

Der Zug hatte die Stadt noch nicht verlassen, als sich Darius Kopp in sein Schicksal fügte. Was sollʼs. Der Tag ist verloren, da kann man nichts mehr machen. Korrektur (die Version des guten Sohnes): Der Tag ist für die Firma verloren, kann man nichts machen.25

Manchmal identifiziert sie sich mit Kopp bis auf die „Phraseologie“ dessen Standpunktes: „Darius Kopp würde nicht darauf herumreiten, aber auf Nachfra-ge würde er bestätiNachfra-gen, dass er bis jetzt eher Glück als Unglück in seinem Leben und in seiner so genannten Karriere hatte.“26 Die Identifikation können dabei auch die Personalpronomina artikulieren:

Armenien, das ist eine ganz andere alte Kulturlandschaft zwischen Kaspischem und Schwarzem Meer. Die Berge sind gewiss atemberaubend. Leider können wir das nicht aus erster Hand bestätigen, denn schließlich sind wir nicht hingefahren. Hat sich nicht ergeben. Unsere Kenntnisse stammen aus dem Internet und anderen Me-dien.27

Manchmal folgt auf eine solche Identifikation eine rasche Distanzierung, bei-spielsweise auf der Ebene der Ideologie des „Standpunktes“:

Er [Darius Kopp] hatte gedacht/gehofft, durch gutes, geduldiges Telefonieren am Samstag noch diese Woche Zeit gewonnen zu haben, aber die Familie schlug schon am Mittwoch wieder zu.

(Was sind das für Reden?

So, wie ich es empfinde.).28

In dieser Passage überlagern sich die Standpunkte der Erzählinstanz und der Fi-gur (Kopp) in der erlebten Rede, dann werden sie aber getrennt, die Erzäh-linstanz wechselt ihre Position, gibt die Mitsicht und die Identifikation auf, zi-tiert einen neuen Standpunkt direkt (ohne diesen näher zu bestimmen und die Verantwortung für den Wahrnehmungsinhalt zu klären) und verschwindet da-hinter.

24 Es ist anzumerken, dass die Erzählinstanz ziemlich nachlässig (oder inkonsequent?) in der Wissensverteilung ist. Das Privileg ihrer eingangs beschriebenen Freiheiten leiht sie manchmal ihren Figuren aus, sie lässt ihre Figuren manchmal in den Gedanken der an-deren lesen, andere Male weist sie aber deutlich auf die (Wissens)Grenzen ihrer Figuren hin, mit Vorliebe auf die von Kopp.

25 Mora [Anm. 1], S. 271.

26 Ebd., S. 23–24.

27 Ebd., S. 93–94.

28 Ebd., S. 263–264.

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Die Vermittlung der Wahrnehmung und Be-Deutung der Figuren macht auf einen manipulativen Zug des Drähteziehens aufmerksam. Die Erzählinstanz er-weist sich dabei als unzuverlässig, sie korrigiert fortwährend (nicht nur das von der Figurenperspektive eventuell Verzerrte, sondern auch das selbst Fokalisier-te):

Nach einem Wochenende in der Natur war Darius Kopp ein neuer Mensch.

Natürlich nicht.

Den Sonntag hätte er, so wie er da war, am liebsten übersprungen, aber das ist nun einmal nicht möglich.29

Oder:

Ich komme, Liebste, ich komme, es ist etwas Verrücktes passiert, ich erzählʼs dir gleich.

Ich willʼs gar nicht wissen! Behaltʼs für dich, lass mich in Ruhe, du stiehlst mir nur die Zeit, meine Lebenszeit, das ist so demütigend, weißt du …?

Nein, so nicht. Er kam aus anderen Gründen nicht dazu, es ihr zu erzählen. Sie war einfach zu sehr im Stress.30

Sie verliert allmählich an Glaubwürdigkeit, die einander widersprechenden In-formationsinhalte erwecken den Verdacht der Täuschung. Mehr als unzuverläs-sig, d.h. als nicht ganz harmlos, erscheint auch die unklare Zuordnung von Wahrnehmungs- und Gedankeninhalten oder die häufige unmarkierte Abände-rung von FokalisieAbände-rungssubjekten:

dann erst wurde ihm klar, […] dass er sich also verfahren hatte. Wo, wann, wie war das passiert? Ich weiß es nicht. Er meinte, alles ganz genau so – das heißt: genau an-dersherum – gemacht zu haben, wie auf dem Herweg.31

Er seufzte und rollte sich aus dem Bett. Er ist ein korpulenter Mann, 106 Kilo bei 178 cm Körpergröße, zum Glück ist das meiste davon Knochen, der Rest kon-zentriert sich in der kompakten Halbkugel eines Bauches, fest und glatt wie der Bauch einer Schwangeren, und darüber, leider, einpaar Männertitten, aber sie sagt, sie liebt mich, wie ich bin, und es gibt keinen Grund, ihr nicht zu glauben.32.

Es werden auch Fokalisierungssubjekte und -objekte unvermittelt abgewechselt, in der folgenden Passage lässt die Erzählinstanz Fokalisierungssubjekt (erst Mutter, dann Schwester, dann wieder Mutter …) und Fokalisiserungsobjekt (erst Schwester, dann Mutter, dann wieder Schwester …) unvermittelt ineinander übergehen:

Hansi? Bist du das?

29 Ebd., S.118.

30 Ebd., S. 49.

31 Ebd., S. 114.

32 Ebd., S. 7.

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Ja, natürlich. Wie viele Söhne außer mir hast du noch?

Das ist eine gute Frage, mein Sohn, das ist eine gute Frage.

Ignoriere das. Sei die Gelassenheit selbst, das ist, wie du sehr gut weißt, deine Rolle in dieser Geschichte, […], in diesem Sinne frage ich euch ruhig und mit zärtlicher Fürsorge in meiner Stimme, wie geht es dir Mütterchen, Schwesterherz, erzähl.

Wie sollʼs mir schon gehen, mein Sohn? Ich habe Schmerzen, kann kaum laufen und nichts heben und deine Schwester redet mit mir wie ich nicht mit Nachbars Hund.

Was sagt sie denn?

Was ich sage? Das ich auch noch ein eigenes Leben habe, mit zwei Kindern und ei-ner Ausbildung und einem Haushalt und einem beschäftigungslosen – das ist sein Wort! – ehemaligen Ringer von einem Lebensabschnittsgefährten – auch das ist sein Wort und eines Tages erwürge ich ihn dafür! – der sehr gerne den Einkauf für seine Schwiegermutter machen würde, hätte er nur nicht vor 100 Jahren diesen Band-scheibenvorfall gehabt und wäre er nicht immer schon so unendlich faul, also macht es die mit Abstand Kräftigste in der ganzen Familie, Marlene, mit ihrem 48 Kilo, sie bittet nur darum, es tun zu dürfen, wenn sie grad mal Zeit hat, und dann vielleicht auch mal ein Danke zu hören und nicht nur Kritik und Klagen oder Sätze wie: Nie-mand hat dich gezwungen mit 17 ein Kind zu bekommen, und wenn du dich so doll kümmerst, wieso ist dann Merlin fett und mundfaul wie ein Kloß – Mundfaul wie ein Kloß? Kopp kicherte. Wo sie recht hat, hat sie recht – dafür ist Lore magersüch-tig, raucht wie ein Schlot und hurt abends vor dem Moritzkino herum. Wer darauf nicht zu brüllen anfängt, ob die Mutter sie noch alle habe, der ist nicht normal. Wie kann sie so was sagen?

Ich habe das überhaupt nicht gesagt. Ich hab das nicht so gesagt.

Ich werde sie mal aufnehmen. Mit dem Handy geht das. Ich werde sie aufnehmen und es ihr dann abspielen, damit sie hört, wie sie redet. Es wird einfach immer schlimmer. Sie spricht alles aus, was sie denkt, und das sind niemals Nettigkeiten.33

Die Erzählinstanz lässt dann wiederum eine Korrektur einzufügen: „Natürlich fand dieses Telefonat nicht so statt, sondern so, dass er erst die eine anrief, dann die andere, dann wieder die eine“34.

Die Identifikationen und Nicht-Identifikationen der Erzählinstanz steuern auch die leserische Identifikation und konstruieren die Leserperspektive.

Dadurch, dass sie ihre Beziehung zu ihrem Erzählobjekt und somit ihr Erzählob-jekt selbst permanent ändert, dadurch, dass sie einander widersprechende Reak-tionsaufforderungen an den Leser richtet und dadurch, dass sie den Identifikati-onspunkt innerhalb der vernetzten Kommunikation stets in Bewegung hält, überfordert die Erzählinstanz die Empathie und die Identifikationskapazität bzw.

Dadurch, dass sie ihre Beziehung zu ihrem Erzählobjekt und somit ihr Erzählob-jekt selbst permanent ändert, dadurch, dass sie einander widersprechende Reak-tionsaufforderungen an den Leser richtet und dadurch, dass sie den Identifikati-onspunkt innerhalb der vernetzten Kommunikation stets in Bewegung hält, überfordert die Erzählinstanz die Empathie und die Identifikationskapazität bzw.

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