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Das Porträt des Heraklit

Geschichtsauffassung bei Friedrich Nietzsche

3. Nietzsches Heraklitdeutung

3.2. Das Porträt des Heraklit

In der Philosophenschrift leistet Nietzsche eine gekürzte, vereinfachte Geschich-te der älGeschich-teren griechischen Philosophen, indem er Hauptzüge ihrer Persönlich-keiten und ihrer Systeme darstellt.21 Am besten und am lebendigsten ist das Bildnis des Heraklit gelungen. G. Colli sagt: „Tatsächlich sind die überzeu-gendsten Seiten dieser Schrift Heraklit gewidmet.“22 Nach Wohlfart sind in Nietzsches Imagination Heraklit-Portrait und Selbst-Portrait zu einem

17 UWL, [Anm. 15], S. 880f.

18 UWL [Anm. 15], S. 881.

19 UWL [Anm. 15], S. 886.

20 PHG [Anm. 9], S. 809.

21 PHG [Anm. 9], S. 803.

22 Colli, Giorgio: Nachwort zu den Nachgelassenen Schriften. KSA 1, S. 917. Zitiert von Wohlfart [Anm. 6], S. 214.

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schmolzen.23 Eigentlich ist daran nichts verwunderlich: einerseits, weil es bei Nietzsche üblich ist, sich hinter unterschiedlichen Masken zu verstecken24, an-dererseits, weil es in den beiden Philosophen wirklich viel Gemeinsames gibt.

Gottfried Neeße deutet darauf hin, dass es manche Ähnlichkeiten in den Bi-ografien Heraklits und Nietzsches gibt: „die Herkunft aus religiösem Bereich“,

„der Familienstolz“, „die Abwendung von den politischen Parolen des Tages“,

„das Unverständnis der Zeitgenossen“, „die Einsamkeit und das schwierige böse Ende“. Gemeinsamkeiten in ihrem Werk sind nach Neeße: „die bewusste Meis-terschaft der Sprache“, der „Verzicht auf jedes Denkschema und Lehrsystem“,

„das Wissen um die Welt als Prozeß“ ebenso „als dynamisches Geschehen und zugleich als Rechts-Streit“.25

3.2.1. Künstlerische Sprache

Die letzten drei Ähnlichkeiten möchte ich hier ein bisschen erläutern. Was die Schreibweise Heraklits und Nietzsches betrifft, gilt für beide, dass sie eine Spra-che vom hohen künstlerisSpra-chen Niveau verwenden, die den bildsamen Ausdruck ihrer Gedanken ermöglicht. Weil sich die Fragmente Heraklits so schwer deuten lassen, wurde sein Stil schon früh als „dunkel“ bezeichnet. Im Gegensatz dazu äußert Nietzsche folgendermaßen seine Meinung: „[…] wahrscheinlich hat nie ein Mensch heller und leuchtender geschrieben“.26 Später hat Nietzsche immer mehr nach einer mit der Heraklitschen verwandten Knappheit gestrebt, indem er die Form des Aphorismus gebraucht hat.

Die dichte, bildhafte, künstlerische Sprache scheint für das Philosophieren angemessen zu sein, das mit Absicht kein System bauen will. Ein durch Logik und Dialektik mühsam aufgebautes statisches Bollwerk würde nämlich nicht nur der dynamischen Vorstellung der Welt sondern auch der intuitiven Natur der beiden Philosophen widersprechen.

An dieser Stelle möchte ich auf die Sprach- und Wissenschaftskritik des Nietzsche-Essays Ueber Wahrheit und Lüge hinweisen. Da wird das „Columba-rium der Begriffe“ als ein auf beweglichem Fundament aufgebautes, komplizier-tes Gebäude beschrieben, dessen Rubriken mit Erklärungen und Beschreibungen

23 Wohlfart [Anm. 6], S. 214f.

24 Im Werk Ecce Homo verrät Nietzsche, dass für seine dritte Unzeitgemässe Betrachtung Schopenhauer als Erzieher der Titel Nietzsche als Erzieher angemessener gewesen wä-re.

25 Neeße, Gottfried: Heraklit heute. Die Fragmente seiner Lehre als Urmuster europäi-scher Philosophie. Hildesheim, Zürich, New York: Georg Olms Verlag, 1982.

26 PHG [Anm. 9], S. 832.

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über die empirische, d.h. anthropomorphische Welt, gefüllt sind.27 Laut Nietz-sche findet der Wissenschaftler unter diesem Turmbau Schutz vor bedrohlichen Mächten der Sphäre des Ding-an-sich.28

Über philosophische Systeme sagt Nietzsche sowieso abschätzend, dass sie nichts als bloße „memoires“ seien, womit er darauf hinweist, dass sie trotz aller Wissenschaftlichkeit auf subjektiven Präferenzen beruhen. Im Zusammenklang damit tituliert Heraklit menschliche Meinungen sogar als „Kinderspielzeuge“29. Nach dem Beweis der Philosophenschrift hat Nietzsche an Heraklit diese intuiti-ve denkerische Einstellung sehr geschätzt.

Heraklit hat als sein königliches Besitzthum die höchste Kraft der intuitiven Vorstel-lung; während er gegen die andre Vorstellungsart, die in Begriffen und logischen Combinationen vollzogen wird, also gegen die Vernunft sich kühl, unempfindlich, ja feindlich zeigt und ein Vergnügen zu empfinden scheint, wenn er ihr mit einer intui-tiv gewonnenen Wahrheit widersprechen kann: und dies thut er in Sätzen, wie „Al-les hat jederzeit das Entgegengesetzte an sich“ so ungescheut, dass Aristote„Al-les ihn des höchsten Verbrechens vor dem Tribunale der Vernunft zieht, gegen den Satz vom Widerspruch gesündigt zu haben.30

3.2.2. Das intuitive Denken

Im Essay Ueber Wahrheit und Lüge stellt Nietzsche zwei Verhaltensformen dar.

Die Figur des vernünftigen Menschen gilt als Symbol für das wissenschaftliche Denken, das aufgrund der Regeln der Logik operiert. Sein Gegenstück sei der intuitive Mensch, der „nicht von Begriffen sondern von Intuitionen geleitet wird“31. Im Vergleich zu dem vernünftigen Menschen sei der intuitive Mensch frei, weil „er täuschen kann, ohne zu schaden“32. Der intuitive Mensch sei ein künstlerisch schaffendes Subjekt, das bewusst täuscht.

Jenes ungeheure Gebälk und Bretterwerk der Begriffe, an das sich klammernd der bedürftige Mensch sich durch das Leben rettet, ist dem freigewordenen Intellekt nur ein Gerüst und ein Spielzeug für seine verwegensten Kunststücke: und wenn er es zerschlägt, durcheinanderwirft, ironisch wieder zusammensetzt, das Fremdeste paa-rend und das Nächste trennend, so offenbart er, dass er jene Nothbehelfe der Bedürf-tigkeit nicht braucht, und dass er jetzt nicht von Begriffen, sondern von Intuitionen geleitet wird.33

27 UWL [Anm. 15], S. 886.

28 Ebd., S. 886.

29 Fragment B70 – Vorsokratiker I. [Anm. 3], S. 247.

30 PHG [Anm. 9], S.823.

31 UWL, [Anm. 15], S. 888.

32 Ebd., S. 888.

33 Ebd., S. 888.

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Auch Wohlfart meint, dass die zwei oben genannten Stellen zusammen zu sehen sind.34 Laut des letztgenannten Zitats gehören nach ihm Intuition und Sprach-kunst zusammen, da nur eine dichterische Sprache geeignet ist, durch Intuition gewonnene Einsichten auszudrücken.

3.2.3. Werden vs. Sein

Die Leugnung der „Zweiheit ganz diverser Welten“ – einer physischen und ei-ner metaphysischen ist auch eine durch Intuition gewonnene Einsicht.35 Neeße ist der Meinung, dass es für beide Philosophen gilt, dass sie sich „zu dieser einen Wirklichkeit, die beim einen kosmos, beim anderen Leben heißt“ bekennen „und lehnen es ab, das Hiersein des Menschen durch ein Jenseits entwerten zu las-sen“.36 Diese einzige Wirklichkeit wäre das unendliche Werden, die ewige Wandlung der Dinge, was Heraklit mit dem Fluss-Gleichnis so anschaulich dar-gestellt hat. Wer sich zum Werden bekennt, leugnet das Sein, also die Vorstel-lung des Menschen von einem statischen Abgrund. Nietzsche gibt Heraklit die folgenden Worte in den Mund:

Ich sehe nichts als Werden. Laßt euch nicht täuschen! In eurem kurzen Blick liegt es, nicht im Wesen der Dinge, wenn ihr irgendwo ein festes Land im Meere des Werdens und Vergehens zu sehen glaubt. Ihr gebraucht Namen der Dinge als ob sie eine starre Dauer hätten: aber selbst der Strom, in den ihr zu zweiten Male steigt, ist nicht derselbe als dem ersten Male.

Als Gegensatz zum Weltgesetz von Heraklit, dem Werden, hat der eine Genera-tion jüngere Philosoph Parmenides seine Lehre vom Sein aufgestellt37, die von Nitzsche in der Philosophenschrift zwar ausführlich, aber ohne überzeugende Kraft dargestellt wird. Neeße meint, dass die zwei Typen (Heraklit, der Realist, und Parmenides, der Theoretiker) in der europäischen Philosophiegeschichte bis zum heutigen Tag unversöhnlich gegenüberstehen.38

Die Lehre vom Werden auslegend sagt Nietzsche, dass Heraklit den Vor-gang des Werdens „als das Auseinandertreten einer Kraft in zwei qualitativ ver-schiedene, entgegengesetzte und zur Wiedervereinigung strebende Thätigkei-ten“39 beobachtet hat. Sein Fragment B 67 unterstützt das:

Der Gott ist Tag-Nacht, Winter-Sommer, Krieg-Frieden, Sättigung-Hunger – alle Gegensätze, das ist die Bedeutung -; er wandelt sich, genau wie Feuer, wenn es sich

34 Wohlfart [Anm. 6], S. 242.

35 PHG [Anm. ], S. 822.

36 Neeße [Anm. 25], S. 40.

37 Ebd., S. 24.

38 Ebd., S. 25.

39 PHG [Anm. 9], S. 825.

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mit Duftstoffen verbindet, nach dem angenehmen Eindruck eines Jeden (der Duft-stoffe) benannt wird.40

Eine Qualität scheidet sich also immer in zwei gegensätzliche Qualitäten, Kräf-te, die dann wieder nach Vereinigung streben. Diese Polarität durchdringt die immanente Weltsphäre. Aus diesem Gedankengang folgt, dass Heraklit die ein-zige Gerechtigkeit in dem Streit des Vielen erkannt hat. In diesem Sinne ist sein Wort zu verstehen: „Krieg ist von allem der Vater.“ 41 Gleichzeitig hat er be-hauptet, dass „alles eins ist“42, oder wie Nietzsche interpretiert, dass das Eine das Viele sei.43 Dieses geistige Prinzip haben die beiden Philosophen – nicht hinter oder über, sondern in der Wirklichkeit – gefunden, welche laut Neeße von Heraklit als logos, bei Nietzsche (vielleicht) als „Wille zur Macht“ genannt wird.44

Als weitere Gemeinsamkeiten zwischen den zwei Denkern erwähnt Neeße zum einen ihre Absicht, „den Menschen über Selbstverständnis und Selbstge-setzlichkeit hinaus zu Selbsterhöhung“ zu führen, zum anderen ihre Bestrebung,

„die Wahrheit nicht mit Verstand oder Vernunft allein, sondern unter Einsatz ihrer Existenz“ zu suchen.45