• Nem Talált Eredményt

Baugeschichte als Verfallsgeschichte

In document Großwardeiner Beiträge zur Germanistik (Pldal 163-173)

in W. G. Sebalds Erzählband Die Ausgewanderten

Hilda Schauer (Pécs)

Sebalds Interesse für die Baugeschichte zeigt sich vor allem in der Architekten-figur Austerlitz, der sich mit den monströsen Gebäuden und der Baugeschichte der europäischen Moderne auseinandersetzt. Auch in anderen Werken Sebalds ist die Kritik der Baugeschichte und des Monumentalismus1 mit Fortschrittskri-tik verbunden. Ben Hutchinson zufolge2 ist auch Austerlitzens Sprachkrise im Kontext seiner Zweifel an der Geschichte und der Architekturgeschichte zu ver-stehen. Austerlitz vergleicht die Sprache mit einer Stadt:

Wenn man die Sprache ansehen kann als eine alte Stadt, mit einem Gewinkel von Gassen und Plätzen, mit Quartieren, die weit zurückreichen in die Zeit, mit abgeris-senen, assanierten und neuerbauten Vierteln und immer weiter ins Vorfeld hinaus-wachsenden Außenbezirken, so glich ich selbst einem Menschen, der sich, aufgrund einer langen Abwesenheit, in dieser Agglomeration nicht mehr zurechtfindet.3

Das Zitat zeugt von dem Gedanken, dass die Sprachkrise auch im Bild der Stadt verortet wird. Sebald knüpft sich an Elias Canettis Analyse der „Baukunst der Zerstörung“ im Dritten Reich an. Mit dem Diskurs der Baukunst wird der Dis-kurs des Zerstörens bzw. der Verfallsgeschichte verbunden. Sebald drückt die Meinung aus, dass die von ihm beschriebenen Gebäude schon im Entstehen im Schatten der Zerstörung standen und von Anfang an im Hinblick auf ihr Dasein als Ruinen konzipiert wurden.4 Seine Vorstellung von Geschichte und Literatur wird von einer Fortschrittskritik bestimmt, die als dialektische Deutung der Ge-schichte zu verstehen ist und die Entwicklung der GeGe-schichte ausschließt. Sein Stil und sein Denken sind von Horkheimers und Adornos Werken beeinflusst.

1 Monumentalarchitektur ist ein Oberbegriff für bauliche Ausdrucksformen, die Größe betonen. Es handelt sich um Bauwerke, die alltägliche Maßstäbe (ihrer Zeit) sprengen und den Menschen gleichsam verkleinern. Derartige Bauwerke spiegeln eine Geistes-haltung wieder, die Größe mit Bedeutung gleichsetzt. Teils bezwecken Monumental-bauwerke, Menschen einen Eindruck individueller Bedeutungslosigkeit zu vermitteln, teils dienen sie dazu, das Bewusstsein zu schaffen, einer Gemeinschaft anzugehören, die anderen überlegen ist.

2 Vgl. Hutchinson, Ben: W. G. Sebald – Die dialektische Imagination. Berlin: Walter de Gruyter, 2009, S. 108. f

3 Sebald, W. G.: Austerlitz. München: Hanser, 2001, S. 179.

4 Vgl. Hutchinson [Anm. 2], S. 77.

164 Hilda Schauer

Sebald, enttäuscht von den Entwicklungen nach 1945 und den Hoffnungen nach 1989, betont in seinem Werk den Gedanken über eine zivilisatorische Herrschaftsgeschichte. Anstatt der Idee einer sich entwickelnden Gesellschaft steht vor Sebald der Gedanke der Katastrophe, die im Anbeginn des Naturhisto-rischen verwurzelt ist.5 Die zerbombten Städte in Deutschland gaben ihm Anlass für die Anwendung des Begriffs der Naturgeschichte. Das Leben der Menschen in den Trümmern gleicht einem naturhaften Geschehen, das sich auch darin ma-nifestiert, dass durch die Dominanz des Selbsterhaltungstriebs jegliche zivilisier-te Form der Gesellschaft aufgelöst wurde.6

Die Geschichte des 20. Jahrhunderts wird von Sebald auf das vergegen-ständlichte Denken zurückgeführt. Er denkt im Sinne von Horkheimer und A-dorno, dass der Existenzkampf des Menschen zu den wissenschaftlichen Metho-den der Naturbeherrschung geführt habe. Für Sebald wird die Traumatisierung zum Schlüsselbegriff, der sich nicht nur auf das Schicksal der Verfolgten, son-dern auch auf die gesamte „Naturgeschichte“ bezieht. Der Autor formuliert den Begriff der Naturgeschichte dem Gedankengang der Frankfurter Schule und ih-rem dialektischen Materialismus entsprechend aus. In seinen Werken wird die literarische Erinnerung an die „Naturgeschichte der Zerstörung“ gepflegt, die traumatische Inhalte wiedergibt.7 Gleichzeitig weiß der Erzähler darum, dass die eigene Tätigkeit, vor allem seine Schreibtätigkeit Teil der Naturgeschichte der Zerstörung sei.8

Sebalds Bände Die Beschreibung des Unglücks (1985) und Unheimliche Heimat (1991) enthalten Gedanken der Frankfurter Schule, darunter Walter Ben-jamins Kritik des Fortschrittsbegriffs, Adornos Gedanken über die Hegelsche Geschichtsphilosophie und Horkheimers und Adornos Theorie über das Ver-hältnis von Mythos und Aufklärung in Die Dialektik der Aufklärung. Adorno beeinflusst Sebald mit dem Stil seiner Essays: auch für Sebald sind Dramatisie-rung, Zuspitzung und Übertreibung charakteristisch. Er teilt die Meinung von Horkheimer und Adorno über den von der Antike ausgehenden Prozess der Ra-tionalisierung und Entzauberung, der zu Katastrophen geführt hat.9

Sebald verallgemeinert seine Kulturkritik in einem Konzept, das er „Natur-geschichte der Zerstörung“ nennt. In seinem Vortrag Die Idee der

5 Vgl. Baumgärtel, Patrick: Mythos und Utopie. Zum Begriff der „Naturgeschichte der Zerstörung“ im Werk W. G. Sebalds. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2005, S. 8–10.

6 Vgl. Schönthaler, Philipp: Negative Poetik. Die Figur des Erzählers bei Thomas Bern-hard, W. G. Sebald und Imre Kertész. Bielefeld: transcript Verlag, 2011, S. 99.

7 Vgl. Baumgärtel [Anm. 5], S. 11–18.

8 Vgl. Schönthaler [Anm. 6], S. 218.

9 Vgl. Baumgärtel [Anm. 5], S. 21–22.

Baugeschichte als Verfallsgeschichte 165

schichte der Zerstörung10 (1931) betont Adorno die Einheit von Natur und schichte, der zufolge die Natur ihren Status als Gegenbegriff zur flüchtigen Ge-schichte verliere. Natur und GeGe-schichte treten in eine Beziehung ein, die ihre Grenzen in der Endlichkeit und im Bild des Todes finden. Sebald akzeptiert Benjamins und Adornos Begriff der Naturgeschichte: „Man sieht also, dass Se-bald bei dem Entwurf der Idee einer verhängnisvollen Naturgeschichte seinen ideellen Instrukteur zuweilen gar nicht uminterpretieren musste, denn nichts an-deres meint er mit seinem Begriff der ‘Naturgeschichte der Zerstörung’.“11

Sebalds Werke sind von einer Allegorik bestimmt, die das Machtverhältnis von Natur und Geschichte thematisiert. Die Konzepte Zeit und Tod zeigen, dass die zivilisierte Welt an der Natur teilhat. Er betrachtet Natur als Vergänglichkeit, was bedeutet, dass Natur immer schon geschichtlich sei und Geschichte immer auf Natur verweise. Sebalds Poetik des Realismus ist auf den Gedanken zurück-zuführen, dass sich die Semantik seiner Texte aus der Allegorik ernähre.12

Der Erzähler in Dr. Henry Selwyn ist mit seiner Frau auf Wohnungssuche und erblickt das Haus, in dem die Selwyns eine Wohnung vermieten. Das Haus erinnert den Erzähler an ein Landhaus in der Charente, „vor dem zwei verrückte Brüder, der eine Deputierter, der andere Architekt, in jahrzehntelanger Pla-nungs- und Konstruktionsarbeit die Vorderfront des Schlosses von Versailles errichtet hatten, eine ganz und gar zwecklose, aus der Entfernung allerdings sehr eindrucksvolle Kulisse“.13 Die sinnlose Bautätigkeit der beiden Brüder nimmt die Thematisierung der in weiteren Textpassagen des Bandes dargestellten mo-numentalen Gebäude vorweg.14

10 Adorno, Theodor W. : „Die Idee der Naturgeschichte“. In: Tiedemann, Rolf (Hg.): Phi-losophische Frühschriften. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1973, S. 345–365.

11 Ebd., S. 26.

12 Sebalds Gedanken verweisen auf Adornos Worte: „Wenn die Frage nach dem Verhält-nis von Natur und Geschichte ernsthaft gestellt werden soll, bietet sie nur dann Aussicht auf Beantwortung, wenn es gelingt, das geschichtliche Sein in seiner äußersten ge-schichtlichen Bestimmtheit, da, wo es am geschichtlichsten ist, selber als ein naturhaftes Sein zu begreifen, oder wenn es gelänge, die Natur da, wo sie als Natur scheinbar am tiefsten in sich verharrt, zu begreifen als ein geschichtliches Sein.“ Adorno [Anm. 10], S. 354 f.

13 Die Zitate stammen aus der folgenden Ausgabe: Sebald, W. G.: Die Ausgewanderten.

Frankfurt am Main: Eichborn, 2006, S. 9.

14 Ceuppens sieht die Verrücktheit des Baus in Hingham in der Tatsache, dass die Fenster

„blind“ sind (genauso wie die des Hauses in der Charente) und ein Sehen verhindern.

Als Metapher stehen sie für die Reflexion des Erzählers und die Autoreflexivität des Textes. Das Glänzen kann so verstanden werden, dass es den Durchblick auf eine Wirk-lichkeit verhindert. Vgl. Ceuppens, Jan: Vorbildhafte Trauer. W. G. Sebalds Die Aus-gewanderten und die Rhetorik der Restitution. Eggingen: Edition Isele, 2009, S. 127.

166 Hilda Schauer

Johannsen versteht unter psychotopologisch lesbaren Räumen konkrete Räume, deren metaphorische Beschreibungen der psychischen Verfasstheit der-jenigen Figuren entsprechen, die mit diesen Räumen in Zusammenhang gebracht werden können.15 Sebalds Räume in Die Ausgewanderten sind nicht nur psycho-topologisch lesbare Räume. Die Beschreibung des Verfalls wird auch auf die Natur ausgeweitet. In der Erzählung Dr. Selwyn sind nicht nur Selwyn selbst und die Gebäude, sondern auch die Natur im Verfall zu begreifen:

Nicht nur der Küchengarten, fuhr er fort, indem er nach den halbverfallenen viktorianischen Glashäusern und den ausgewachsenen Spalieren hinüberwies, nicht nur der Küchengarten sei nach Jahren der Vernachlässigung am Erliegen, auch die unbeaufsichtigte Natur, er spüre es mehr und mehr, stöhne und sinke in sich zusammen unter dem Gewicht dessen, was ihr aufgeladen werde von uns.16

Das Motiv des Verfalls und des Todes hat seine mediale Entsprechung in der Photographie. Gebäudeabbildungen haben zwei Funktionen: die Beschrei-bung des psychischen Zustands der Protagonisten und die Darstellung der Na-turgeschichte der Zerstörung.17 Einerseits zeigen Photographien den Verfall, an-dererseits sind sie Relikte des absterbenden Lebens. Sehr oft werden in den vier Erzählungen des Bandes Aufnahmen von Bauten gezeigt, vor allem Fassaden.

Diese Außenansichten stehen symbolisch für die Innenansichten der Figuren.

Die Fassadenhaftigkeit und die Lage der Gebäude entsprechen der geistigen Verfassung der dargestellten Figuren. Dr. Selwyn hält von der Außenwelt Ab-stand und lebt in einem hölderlinartigen Turm, der auf S. 19 abgebildet ist:

Dr. Selwyn hielt sich, solang es das Wetter erlaubte, im Freien auf, viel auch in einer aus Feuerstein gemauerten, in einer entfernten Ecke des Gartens gelegenen kleinen Einsiedelei, der von ihm so genannten Folly, in der er sich mit dem Nötigsten einge-richtet hatte.18

Die Verfallsgeschichte von Paul Bereyters Leben wird auf eine Naturgeschichte bezogen, die durch die Zerstörung von Gebäuden ausgedrückt wird. Gebäude nehmen den Tod voraus:

Besonders vielversprechend aber schien mir die Tatsache, daß die Häuserzeilen hie und da von Ruinengrundstücken unterbrochen waren, denn nichts war für mich, seit ich einmal in München gewesen war, so eindeutig mit dem Wort Stadt verbunden

15 Vgl. Johannsen, Anja K.: Kisten, Krypten, Labyrinthe. Raumfigurationen in der Ge-genwartsliteratur: W. G. Sebald, Anne Duden, Herta Müller. Bielefeld: transcript Ver-lag 2008, S. 64.

16 Sebald [Anm. 13], S. 13.

17 Vgl. Steinaecker, Thomas von: Literarische Foto-Texte. Zur Funktion der Fotografie in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W. G. Sebalds. Bielefeld:

transcript Verlag, 2007, S. 293.

18 Sebald [Anm. 13], S. 18 f.

Baugeschichte als Verfallsgeschichte 167

wie Schutthalten, Brandmauern und Fensterlöcher, durch die man die leere Luft se-hen konnte.19

In der Liebe zur Eisenbahn kommt eine Form des deutschen Untertanengeistes zum Ausdruck, der in Logistik und Vollziehung verschiedener Aufgaben ein übertriebenes Pflichtbewusstsein zum Ausdruck bringt. Die Bahn kann einer-seits als Metapher des Fortschritts, anderereiner-seits als die des Todes gedeutet wer-den, weil die Bahn bei dem Deportieren der jüdischen Bevölkerung eine große Rolle spielte. Mme. Landau erzählt:

Die Eisenbahn hatte für Paul eine tiefere Bedeutung. Wahrscheinlich schien es ihm immer, als führe sie in den Tod. Fahrpläne, Kursbücher, die Logistik des ganzen Ei-senbahnwesens, das alles war für ihn, wie die Wohnung in S. sogleich erkennen ließ, zeitweise zu einer Obsession geworden. […] Die ganzen Jahre, die er hier in Yver-don verbrachte, hatte ich keine Ahnung, daß Paul im Eisenbahnwesen sein Ver-hängnis sozusagen systematisiert vorgefunden hatte.20

Paul Bereyter und Lucy Landau waren gemeinsam in den Thermen der Salzgale-rien und haben Nachmittage auf dem Fort Berlin verbracht. Sie haben das im 18.

Jahrhundert errichtete Salinengebäude besichtigt,

bei welcher Gelegenheit Paul für ihre [Lucy Landaus] Begriffe sehr kühne Verbin-dungslinien gezogen habe zwischen dem bürgerlichen Utopie- und Ordnungskon-zept, wie es in den Entwürfen und Bauten des Nicolas Ledoux sich manifestierte, und der immer weiter fortschreitenden Vernichtung und Zerstörung des natürlichen Lebens.21

Auch in der Erzählung Max Ferber besucht der Erzähler das Salinengebäude, von dem er bis zu dieser Zeit nur eine Fotografie gesehen hatte. Das Gebäude wird im Text als Abbildung veranschaulicht.22 Im Salinenhaus sind Bündel aus Schwarzdornreisig zu sehen, über die das Mineralwasser herunterrinnt, um sich in dem Solegraben zu sammeln. Der Erzähler bewundert die Verwandlung, die das Wasser durch die allmähliche Mineralisierung der Zweige an diesen voll-führt. Er denkt lange über die Vorgänge nach, die die seltsamsten Versteine-rungs- und Kristallisationsformen hervorbringen, die als Nachahmungen und Aufhebungen der Natur zu deuten sind. Die Holzbanken bilden mit dem Schwarzdornreisig und dem Mineralwasser eine Einheit, eine letzte Stufe der

„Naturgeschichte der Zerstörung“, in der die „allmähliche Mineralisierung“ die

19 Sebald [Anm. 13], S. 46.

20 Sebald [Anm. 13], S. 90 f.

21 Sebald [Anm. 13], S. 67.

22 Sebald [Anm. 13], S. 341, 343.

168 Hilda Schauer

Zweige des Reisigs in die Versteinerung verwandelt. Dieser Prozess kann als Aufhebung der Natur betrachtet werden.23

Neben dem Thema der Erinnerung thematisieren auch die Architekturfotos, die Hotels abbilden, die „Naturgeschichte der Zerstörung“. Johannsen unter-scheidet zwischen den großen ehemals prächtigen Hotels der vorletzten Jahr-hundertwende und den kleinen, schäbigen, von denen man kaum vorstellen kann, dass sie je bessere Zeiten hatten.24 Ambros Adelwarth arbeitete vor dem Ersten Weltkrieg in Europa in verschiedenen prachtvollen Hotels: im Hotel Eden in Montreux,25 im Herbst 1905 trat er in London als Etagenkellner eine Stellung an, dann verbrachte er als Kammerdiener des Legationsrats in der Nähe von Kioto zwei Jahre in einem schwimmenden Haus, wo er sich wohler gefühlt hat als an jedem anderen Ort.26 Der heutige Zustand der großen Hotels steht im Gegensatz zur einstigen Pracht dieser Gebäude. Erschüttert berichtet der Erzäh-ler vom heruntergekommenen Zustand der einst prachtvollen Hotels.27

Das Guesthouse in Ithaca, wo der Erzähler in der Erzählung Ambros Adel-warth während seiner Amerikareise übernachtet, strahlt die Leichtigkeit des Le-bensgefühls in Amerika aus. Aus dem Fenster sah er eine Zypresse:

Die Luft war erfüllt von ihrem Geruch und von einem beständigen Rauschen, das aber nicht, wie ich zunächst meinte, von dem Wind in den Bäumen herrührte, son-dern von den in geringer Entfernung niedergehenden, wenn auch von meinem Fens-ter aus unsichtbaren Ithaca Falls, von denen ich mir vor meiner Ankunft in der Stadt ebensowenig eine angemessene Vorstellung gemacht hatte wie von den über hundert anderen Wasserfällen, die in der Gegend des Cayugasees seit dem Ende der Eiszeit in die tief eingeschnittenen Schluchten und Täler hinunterstürzen.28

In dieser Beschreibung gelingt dem Erzähler, einem Europäer, das zerstörte Eu-ropa zu vergessen und diesem das vermeintlich geschichtslose Nordamerika ge-genüberzustellen.29 Die Beschreibung der Prachtbauten in Deauville zeigt eine auffällige Bereitschaft des Erzählers zur Verklärung der Vergangenheit, in die-sem Fall der vorletzten Jahrhundertwende und des ersten Jahrzehnts des 20.

Jahrhunderts.30 Der Erzähler fährt nach 80 Jahren nach Deuaville, um einen Rest von Vergangenheit und den Erinnerungen an Adelwarth und Cosmo zu finden, er muss aber den Verlust der Authentizität der ehemaligen Gebäude feststellen.

23 Vgl. Steinaecker [Anm. 16], S. 293.

24 Vgl. Johannsen [Anm. 15], S. 51.

25 Sebald [Anm. 13], Abbildung des Hotels auf S. 113.

26 Sebald [Anm. 13], Abbildung auf Seite 116.

27 Vgl. ebd., S. 53.

28 Sebald [Anm. 13], S. 157.

29 Vgl. Johannsen [Anm. 15], S. 67.

30 Vgl. ebd., S. 59.

Baugeschichte als Verfallsgeschichte 169

Im Traum wird die Gleichzeitigkeit einer pracht- und sinnvollen Vergangenheit und einer trostlosen Gegenwart nochmals aufgezeigt. Er stellt fest, dass dieses einst legendäre Seebad hoffnungslos heruntergekommen ist. Es wurde ruiniert vom Autoverkehr, vom Boutiquenkommerz und der Zerstörungssucht. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im neugotischen Stil gebauten Burgen und die im Schweizer Cottagestil erbauten Villen zeigen ein Bild der Verwahr-losung und der Verlassenheit. Die Museen kann man nicht besuchen, weil alles zugesperrt und geschlossen ist: das Musee Montebello, das Stadtarchiv im Bür-germeisteramt und die Bibliothek. Das Grand Hotel des Roches Noires, ein gro-ßer Backsteinpalast, in dem Multimillionäre, Hocharistokraten und Großindust-rielle wohnten, wurde in Appartements aufgeteilt. Das ehemals teuerste Hotel der normannischen Küste ist heute nichts mehr als eine Monstrosität. Im Gegen-satz zum Hotel Roches Noires ist das 1912 gebaute Hotel Normandy immer noch beliebt. Es beherbergt ausschließlich Japaner. In Deauville gehen die Japa-ner jeden Tag zu den Spielautomaten und den Roulettischen. Den Enttäuschun-gen in der GeEnttäuschun-genwart stellt der Erzähler seine Träume von einer idealisierten Vergangenheit gegenüber. In seinen Visionen tauchen Cosmo und Adelwarth auf, als blätterten sie in den frischen Zeitungen.

Die Zerstörung der durch die Geschichte des Hotels Normandy repräsentier-ten Kultur, der der Erste Weltkrieg und das Dritte Reich gefolgt hatrepräsentier-ten, hat den psychischen Zusammenbruch des Cosmo Solomon mit sich gebracht. 31 Der Er-zähler kann die leere Gegenwart des Hotels mit dessen angefüllter Vergangen-heit vergleichen. Die baulichen Veränderungen gewinnen an dem Hotel eine his-torische Dimension. Mit dem Verfall der Hotels verweist Sebald auf die Ver-wandlung der Gebäude in Natur. Damit zitiert Sebald den von Horkheimer und Adorno formulierten Gedanken vom Rückschlagen der aufgeklärten Welt in Na-turverfallenheit. Anne Fuchs bemerkt, dass an der Ruine der Wandel von der zerstörerischen Geschichte in die Naturgeschichte zu entdecken sei.32

Adelwarths Tagebuch zeigt eine exotische Welt, die ganz im Sinne der Vormoderne gezeigt wird. Konstantinopel als Raum sinnlicher Erfahrung steht für den Gedanken des Orientalismus. Sein Deutungsreichtum ergibt sich aus der Tatsache, dass die Stadt einen vormodernen Raum repräsentiert. Irene Heidel-berger-Leonard zufolge charakterisiert Sebalds Beschreibung einer verlorenen Zeit der semantischen Fülle nicht nur die Adelwarth-Geschichte, sondern auch seine anderen Texte, in denen ein Erzähler auftritt, der sich an die Opfer der

31 Vgl. ebd., S. 61.

32 Vgl. Fuchs, Anne: Die Schmerzensspuren der Geschichte: Zur Poetik der Erinnerung in W. G. Sebalds Prosa. Köln–Weimar–Wien: Böhlau Verlag, 2004, S. 162.

170 Hilda Schauer

schichte erinnert und dem es darum geht, dem technischen Fortschrittsbegriff die geschichtlichen Verlusterfahrungen entgegen zu setzen.33

Cosmo und Adelwarth übernachten auf ihren Reisen in großen Hotels und Prunkgebäuden, die mit dem inneren Verfall der beiden Freunde kontrastieren.

Jerusalem gilt als ein exemplarischer Erinnerungsort. Die Stadt ist sowohl ein heiliger Ort als auch ein historischer Gedächtnisort. Die im Text abgebildete Zeichnung widerspricht der Beschreibung der Stadt im Text. Die Zeichnung stellt einen romantischen Ort dar: der Nachthimmel mit Sternen, die Mondsichel und die mittelalterlichen Ruinen geben einen Eindruck des Romantischen und des Märchenhaften. Der realistischen Beschreibung der historischen Stadt wird eine idealisierte gegenübergestellt, das himmlische Jerusalem.34

In Jerusalem reitend treffen Adelwarth und Cosmo auf Zeichen des Verfalls und der Auflösung. Sie erfahren überall grauenvolle Verlassenheit und Leere.

Die Einrichtung der Zimmer des Hotels ist nicht individuell, es gibt keine cha-rakteristischen Eigenschaften der Zeit und der Weltgegend, in der man sich be-findet. Die Steindächer gleichen einem gefrorenen Meer. Auch die neueren Bau-ten sind von einer schwer zu bestimmenden Hässlichkeit. Das Reisetagebuch bietet kein Gegenbild zur verfallenden Stadt an. Johannsen stellt fest:

Der Stillstellung ist hier keineswegs die Verheißung eines beruhigten post-naturgeschichtlichen Weltzustands eingeschrieben, sondern dies ist ein stillgestell-ter, eingefrorener Schreckensmoment „am Ende der Zeit“, der vor nichts als der ei-genen Endlosigkeit kündet.35

Resümierend kann über Jerusalem festgestellt werden, dass das in Ambros’ Rei-setagebuch dargestellte Jerusalem keine der beiden für Sebalds Texte charakte-ristischen Auswege realisiert. Weder eine stillgelegte Welt, die in einer unsiche-ren Zukunft angesiedelt ist, d.h. eine unhistorische Welt der nachapokalypti-schen Schnee- und Eislandschaft, noch eine verklärte Vergangenheit, die ideali-sierte Vorkriegswelt.36

In der Erzählung Max Ferber nennt der Erzähler Manchester eine „beinahe

In der Erzählung Max Ferber nennt der Erzähler Manchester eine „beinahe

In document Großwardeiner Beiträge zur Germanistik (Pldal 163-173)