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Krise der Wahrnehmung im deutschen Geheimbundroman

Henriett Lindner (Piliscsaba)

Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort.1

Der neuzeitliche technische Fortschritt und der zunehmende Anspruch auf empi-rische Erfassbarkeit bringen die Entwicklung von optischen Geräten mit, die ei-ne genauere, objektiver darstellbare Erkenntnis der Natur ermöglichen. Vermut-lich Zacharias Janszen erfindet 1590 das Mikroskop, das in der wissenschaftli-chen Erkenntnis der tieriswissenschaftli-chen und pflanzliwissenschaftli-chen Organismen eine wesentliche Rolle spielte: Zellen, Blutzellen, Bakterien, pflanzliche und tierische Geweben zeigen ihre Natur, wenn der Mensch sein Wahrnehmungsorgan mit Linsen schärft und stärkt.2 Galilei fertigt sein für die Beobachtung der Gestirne vorge-sehenes Fernrohr im Jahre 1609 an, die Anfertigung des optischen Geräts er-möglicht ihm die Beobachtung der Sonnenflecken, die Beschreibung des Mon-des, die Differenzierung zwischen Sterne und Planeten, und schließlich die ge-nauere Erkenntnis der Milchstrasse. Dies bedeutete für das 17. Jahrhundert nicht nur die Revolutionierung des Weltbildes, nämlich die Durchsetzung der Koper-nikanischen Thesen, sondern auch die Revolutionierung des Begriffs der wis-senschaftlichen Beobachtung. Empirisches Erfassen heißt von nun an nicht mehr lediglich das Erkennen des Sichtbaren und Nachweisbaren mit bloßem Auge, sondern eine durch den mit einem optischen Gerät geschärften menschlichen Blick erfassbare Erkenntnis. Fernrohr und Mikroskop stellen eine „Bewaffnung“

des Auges zur Erlangung empirischer Erkenntnisse dar, die epistemologische Sicherheit wird jedoch immer wieder in Frage gestellt, ganz nach den wohlbe-kannten Worten des heiligen Paulus über den Spiegel, das wohl älteste optische Gerät des europäischen Kulturkreises. Optische Geräte werden nach wie vor durch epistemologische Skepsis und abergläubische Angst umgeben, die in My-thologie, Folklore und Literatur vorprogrammiert sind.

Zweihundert Jahre nach der Erfindung des Fernrohrs und des Mikroskops treffen wir diese Geräte in allerlei Kombinationen mit Licht, Linsen und Spie-geln, wie zum Beispiel die Laterna magica oder die Camera Obscura nicht

1 1. Korinther 13.12

2 Vgl. Simonyi, Károly: A fizika kultúrtörténete. 2. Auflage. Budapest, Gondolat, 1981, S.

164 und 201.

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mehr lediglich in der Wissenschaft wieder. In den in aristokratischen und bür-gerlichen Kreisen verbreiteten physikalischen Kabinetts waren chemische und physikalische Experimente mit Elektrizität, Magnetismus und Optik vorgeführt, wobei der Experimentierkult weniger durch Wissensdrang als durch Sensations-lust motiviert war. Welche populärkulturelle Bedeutung physikalische Versuche und Tricks, darunter auch optische Geräte in der Zeitgenössischen Unterhal-tungskultur tragen, erläutert uns ein kurzer Einblick in die Bände von Wieglebs Magie,3 oder andere Bücher über die sogenannte „natürliche Magie“, d.h. über Taschenkünste und Scharlatanerie, wie zum Beispiel Funks Natürliche Magie4 und das Gantz natürliche Zauberlexikon5 Diese stellen mutmaßlich auch Quel-len für unsere Beispieltexte von Schiller und E.T.A. Hoffman dar.6 Im vorlie-genden Beitrag gilt es, das Genre Geheimbundroman in diesen kulturhistori-schen Kontext zu stellen und vor dem Hintergrund der immer stärker werdenden Empirismuskritik der Literatur der Goethezeit zu betrachten. Unserer These nach ist einerseits eine deutliche Wirkung der Magiebücher zu beobachten, an-dererseits soll dem Phänomen nachgegangen werden, welche Rolle die zeitge-nössische Unterhaltungskultur der Schaubudenscharlatanerie, so wie sie schrift-lich überliefert wurden, für die Entstehung, Rezeption und Popularität der Ge-heimbundromane erkennbar ist: Es soll an Textbeispielen von Schiller und E.T.A. Hoffmann exemplarisch erprobt werden, wie die zeitgenössische Auffas-sung der natürlichen Magie, d.h. der Anwendung von physikalischem, u.a. opti-schen Tricks zur Belustigung und Verblüffung des ungebildeten Publikums, sich für das Genre Geheimbundroman als konstitutiv erweist.

„Die Magie [...] hat zu allen Zeiten das Schicksal gehabt, vom Pöbel ge-glaubt, von Betrügern gebraucht, und von den Weisen verachtet zu werden.“7 So könnte das Motte der beiden Herausgeber Wiegleb und Nicolai lauten, die sich selbst natürlich – der aufklärerischen Bildungsmaxime verpflichtet – auf der

3 Wiegleb, Johann Christan: Natürliche Magie, aus allerhand belustigenden und nützli-chen Kunststücken bestehend, zusammengetragen von Johann Christian Wiegleb. 8 Bde. Berlin und Stettin: Friedrich Nicolai, 1782–1803.

4 Funk, Christian Benedict: Natürliche Magie oder Erklärung verschiedener Wahrsager und natürlicher Zauberkünste von Christian Benedict Funk, Prof. der Naturlehre in Leipzig. Berlin und Stettin: Friedrich Nicolai, 1783

5 Wiegleb, Johann Christian: Onomatologia culiosa artificiosa et magica, oder Natürli-ches Zauberlexikon, in welchem vieles Natürliche und Angenehme aus der Naturge-schichte, Naturlehre und natürlichen Magie nach alphabetischer Ordnung vorgetragen worden. Prag und Wien: von Schönefeld, 1784.

6 Vgl. u.a.: Koopmann, Helmut (Hg.): Schiller-Handbuch. Stuttgart: Alfred Kröner Ver-lag, 1998, S. 474ff. und Feldges, Brigitte – Stadler, Ulrich: E. T. A. Hoffmann. Epoche – Werk – Wirkung. München: Beck, 1986, S. 13.

7 Wiegleb [Anm. 3], Bd. 1. S. 3.

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te der ‚Weisen’ positionieren. Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts scheint die Zeit der skandalösen Persönlichkeiten und der Geheimgesellschaften zu sein, das Auftreten von berühmt-berüchtigten Persönlichkeiten wie Cagliostro und Mesmer oder Gerüchte von geheimen Gesellschaften schärfen das literarische Interesse für Magie und Scharlatanerie. Schillers Geheimbundroman Der Geis-terseher und mehrere Geheimbundgeschichten E.T.A. Hoffmanns markieren unter anderem das zeitgenössische Interesse für Paraphänomene, das neben psy-chologische Manipulation auch die technische Seite der physikalischen Tricks erkundet. Am Ende des 18. Jahrhunderts also spricht und schreibt man über Scharlatane, Straßen- und Kleinkünstler, Freimaurer und Rosenkreuzern, Ge-heimgesellschaften, Illuminaten sowie Teufels- und Todesbeschwörungen, über Zauberei und Betrügerei, und dies ist das Thema, dem sich Schillers Roman und Hoffmanns Texte thematisch anschließen: gekleidet in die Form des Geheim-bund- und Schauerromans.8

Der Geheimbundroman ist durch charakteristische Topoi gekennzeichnet, eine äußerst populäre Gattung der Jahrhundertwende, mit vielen Vertretern, die jedoch größtenteils in Vergessenheit geraten und Texten, die zum Teil verschol-len sind. Zu charakteristischen Motiven des Genres gehören das Mordmotiv, das Maskenmotiv, die unschuldige Frau oder das Erlöschen einer Familie und die Geschichte spielt meistens in einem religiösen Milieu. Zu motivischen Umrissen der Geschichte kommt, dass sie traditionell perspektivisch, hyperbolisch, poly-phon und häufig in Briefform erzählt wird. Die eingeengte Perspektive führt, wie eine literarisch gestaltete Zauberei, zur Trübung des Blicks, die somit zum narrativen Prinzip der Kriminal- und Schauerliteratur der Zeit geworden ist.9 Was für eine Rolle in diesem Motivarsenal Motive der Optik spielen, soll nun an einigen Textausschnitten zur Debatte stehen. Für Hoffmann-Leser und -Forscher erscheint eindeutig, welche Rolle in Hoffmanns Texten dem Interesse für Pa-raphänomene, wie Magnetismus, Geisterseherei, Somnambulismus oder Magie beigemessen werden kann, die meisten Schiller-Forscher tun sich dagegen schwer, den Versuch des Klassikers in der Unterhaltungsliteratur zu erklären.

Die Bearbeitung dieses populären Themas durch Schiller brachte die traditionel-le Literaturkritik offenbar in Vertraditionel-legenheit: Dies äußerte sich einerseits in der Suche nach Spuren von Schillers klassischer Ästhetik- und Moralvorstellung, andererseits indem die Vorwegnahme romantischer Tendenzen und moderner

8 Vgl. Safranski, Rüdiger: Friedrich Schiller oder die Erfindung des Idealismus. Mün-chen–Wien: Carl Hanser Verlag, 2004, S. 241.

9 Simonis, Annette: Grenzüberschreitungen der phantastischen Literatur. Einführung in die Theorie und Geschichte eines narrativen Genres. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2005, S. 96 f.

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Polyphonie in der Textgestaltung betont wird.10 Als noch nicht geklärt erweisen sich auch widersprüchliche Entstehungsumstände des Textes: Schiller bezeich-nete nämlich seinen Text zum einen als Schmiererei, zum anderen kehrte er aber an die Arbeit am Geisterseher immer wieder zurück. Der lange Entstehungspro-zess und das Fragmentarische am Text erweisen sich als Indizien einer anhal-tenden Auseinandersetzung, deren genaue Bedeutung vorerst schwierig gewich-tet und interpretiert werden kann.11

Schillers Romanfragment Der Geisterseher beginnt mit der suggestiven, dramatischen Erzählung einer Seance, es wird eine von einem „Sizilianer“ ange-regte und inszenierte Geisterbeschwörung detailgetreu erzählt.12 Zuerst werden Utensilien der magischen Operation aufgezählt: Von einem mit Kohle gezeich-neten Kreis, über die chaldäische Bibel, einen Totenkopf, ein silbernes Kreuz, einen schwarz-rot bekleideten, mit dem ‚Rauch von Olibanum verfinsterten‘

Saal, wovon ‚das Licht beinahe erstickte‘ und über Kreuz geschlagene Degen bis zur Entkleidung des Publikums reicht die Vielfalt der ungewöhnlichen Maß-nahmen, mit denen der schaudervolle Effekt des erscheinenden Geistes nun ge-sichert werden soll. Die Geistererscheinung wird in der Nacht inszeniert und ein von Menschenhaaren geflochtenes Amulett, geheime Schriften und Symbole sorgen für die geheimnisvolle Atmosphäre, ein plötzlicher Donnerschlag ver-setzt das Publikum in den wünschenswerten Angstzustand. Schiller schildert hier eine zeitgenössische Seance bis ins kleinste Detail authentisch, hierzu soll eine Darstellung aus Wieglebs Magie die Stimmung einer zu Schillers Zeit übli-chen Seance heraufbeschwören:

Wiegleb betont zunächst, wie die äußeren Umstände, Zeit und Ort einer – bei ihm immer nur sogenannten – Geisterbeschwörung aussehen, und welche Funktion sie bei der Erregung des Publikums haben.

Betrachtet man die Anstalten, welche die angeblichen Magi bey ihren Geistesbe-schwörungen machen, so findet man durchgängig die Spuren der Betrügerey. Sie erwählen darzu allezeit die Nacht, diese fruchtbare Mutter der Einbildungen und Träume. […] Sie lassen ihre Geister bey angezündeten Lichtern erscheinen, weil man beym Schein der Lichter oder Lampen die geheimen Triebfedern der Maschi-nen, deren man sich bedient, unter dem nothwendig entstehenden Schatten besser verstecken kann. Die angeblichen Magi machen vorher solche Zurüstungen, wodurch die Zuschauer in Furcht und Schrecken gesetzt, und daher unfähig werden den Betrug zu merken. Das Zimmer wird schwarz beschlagen, es liegen Totenköpfe und Knochen auf dem Tisch, man bittet den Zuschauer, ja nicht zu sprechen und sich bey Lebensstrafe nicht zu rühren, weil sonst der Teufel ihnen allen die Hälse

10 Vgl.: Ebd, S. 91ff. und Koopman [Anm. 6], S. 706.

11 Vgl.: Simonis [Anm. 9], S. 95f. und Koopman [Anm. 6], S. 705 f.

12 Schiller, Friedrich: Sämtliche Werke. Bd. 5. München: Hanser, 1984, S. 62.

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brechen würde. Es entsteht vorher ein Gepolter, und nun ist der Zuschauer mehr todt als lebendig, seine Einbildungskraft ist nun äußerst erregt, und geschickt jede Ein-drücke anzunehmen, welche der Zauberer ihr geben will.13

In Schillers Text erscheint der Geist erwartungsgemäß, wobei der Leser bereits die Täuschung ahnen kann. Der Scharlatan wird im Anschluss auf die wirklich gut vorbereitete Geistererscheinung von einer geheimnisvollen Figur, dem Ar-menier demaskiert, wodurch die Geistererscheinung schließlich auch als eine optische Manipulation entpuppt:

Man entdeckt nämlich hinter der aufgebrachten Kulisse der Geisterbeschwörung ei-nen „Fensterladen, der dem Kamine gerade gegenüber stand, […] durchbrochen und mit einem Schieber versehen [war], um [...] eine magische Laterne in seine Öffnung einzupassen, aus welcher die verlangte Gestalt auf die Wand über dem Kamin ge-worfen war.14

Die Geistererscheinung erweist sich also als eine Projektion durch das optische Gerät Laterna Magica. Die Zauberlaterne beleuchtet durch eine Lichtquelle ein kleines Bild und projiziert auf eine Wandoberfläche. Das Bild ist der damaligen technischen Präzision entsprechend natürlich verschwommen, und im Text wird erzählt, wie der Sizilianer die Bewegung der Scheingestalt mit Rauch noch wei-ter simuliert. Mit Hilfe dieses Gerätes lässt also der Scharlatan, der Sizilianer, den beschworenen Geist erscheinen. Dem Publikum gruselt es, der Geist er-schreckt alle, bis auf den nüchtern bleibenden Prinzen, der sich durch seine Bil-dung und aufgeklärte Einstellung weit über dem üblichen Publikum der Schau-budenwunder positioniert. Demaskiert wird die Scharlatanerie des Sizilianers von einer weiteren, diesmal wirklich unheimlichen und geheimnisvollen Ma-gierfigur, dem Armenier. Er enthüllt den Trick des Sizilianers, und inszeniert eine zweite, diesmal glaubhafter wirkende Geistesbeschwörung, die das Publi-kum noch mehr in gruselige Angst versetzt. Dieser Armenier ist der zentrale Be-zugspunkt des Geheimbundwesens, in seinen Händen scheinen nun die geheim-nisvollen Fäden der Verwicklungsgeschichte zusammengeführt zu werden. Das Sujet des Romans setzt sich im Folgenden zwar weniger theatralisch fort, als ob Schiller nach dieser effektvoll gestalteten Szene die Fäden nicht mehr so inten-siv hätte spinnen können, aber es wird detailliert beschrieben, ganz wie in einer Fallgeschichte,15 wie der Prinz allmählich in die große Gesellschaft aufgenom-men wird, bis schließlich „seine Existenz [...] ein fortdauernder Zustand von

13 Wiegleb [Anm. 3], Bd. 1, S. 31f.

14 Schiller [Anm. 12], S. 66.

15 Wie in der Grammont-Schrift stellt auch hier der Arzt Schiller eine anthropologisch-psychologisch fundierte Diagnose des Persönlichkeitsverfalls. Vgl. ebd., S. 268.

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Trunkenheit, von schwebendem Taumel“ wird.16 Gemäß der Gattungscharakte-ristika des Geheimbundromans können jedoch weder die Verschwörung, noch die Zauberkraft des unheimlichen Armeniers aufgeschlüsselt werden, seine ge-heimnisvolle Erscheinung, seine Motivation und seine geheimen Künste bleiben dem Leser bis zum Schluss verborgen. Die Erzählung der Seance und die darauf folgenden kontroversen Diskussionen bestärken die Unschlüssigkeit des Lesers darüber, ob der zweite Geist nicht ebenfalls ein Taschenspieltrick sei.17 Schiller lässt seinen Erzähler und den Prinzen den Zusammenhang zwischen den zwei Magiern und seinen Künsten diskutieren: Dem Prinzen erscheint nämlich zu-nächst auch die theatralische Demaskierung des Sizilianers durch den Armenier als verdächtig: „Setzen Sie, er [der Armenier; HL] habe sich des gröbern Gau-kelspiels bedient, um dem feinern eine Folie unterzulegen [...].“18 In diesem Satz wird die Funktionsweise der Laterna Magica herbeizitiert: Die zwei Magierfigu-ren und ihre ‚Künste‘ kontrastieMagierfigu-ren einander, die ‚kleine‘ Taschenkunst bereitet die ‚große‘ Zauberkunst vor, sie bietet Analogien für die Enträtselung des Ge-heimnisses. Was sich hier als optischer Trick offenbart, ist im Handlungsverlauf des Textes ebenfalls zu erkennen: Die Zauberei des Sizilianers dient als Vorlage und Modell für den größeren, unsichtbaren und nicht aufschlüsselbaren Zauber, der die Geheimbundgeschichte gattungsbedingt vorantreibt. Die Doppelung der Zaubereffekte, bei der die Durchschaubarkeit des einen Tricks als Folie, Orakel oder Analogie neben dem ‚großen‘, ‚richtigen‘ Zaubereffekt erscheint, kann als Modell für die erzählerische Strategie des Romans gedeutet werden: Auch der Leser wird in seiner Wahrnehmung gestört, und der Romantext wird somit zu einer regelrechten literarischen Laterna Magica, durch die die Bilder und Ge-schichtsfloskel auf die Leinwand der Leserphantasie projiziert werden: Das dadurch erzeugte Bild erscheint zwar als verschwommen, wird aber bis ins Ma-gische vergrößert.

Das literarische Verfahren, in dem ein optischer Effekt Modell für eine lite-rarische Erzählstrategie steht und zur intendierten Leserverunsicherung einge-setzt wird, nimmt typische Merkmale der Spätromantik, eines Tieck- oder Hoffmann-Textes vorweg.

Hoffmanns allgemein bekannte Novelle Der Sandmann trägt beinah alle Merkmale der Geheimbundgeschichten, und für das tragische Schicksal der Hauptfigur spielt hier ein Fernrohr eine verhängnisvolle Rolle. Nathanael wird in der Identität der Holzpuppe Olimpia zum ersten Mal durch einen Blick in das Perspektiv des Wetterglashändlers Coppolla verwirrt, und diese getäuschte

16 Ebd., S. 111.

17 Simonis [Anm.9], S. 105ff.

18 Schiller [Anm.12], S. 98.

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Wahrnehmung und die dadurch entflammende Liebe zum unlebendigen Wesen treiben den Protagonisten schließlich in den Wahnsinn. Hoffmanns Skepsis ge-genüber dem optischen Gerät erscheint uns für das Genre aus zwei Aspekten als wichtig. Erstens, dass die Wahrnehmung für E.T.A. Hoffmann wie für Schiller ein anthropologisch-psychologisches Problem darstellt: Die getäuschte Wahr-nehmung führt bei Schillers Prinzen wie bei Hoffmanns Studenten zur Zerrüt-tung der Persönlichkeit.19 Zweitens, dass Manie und Fernrohr auf demselben Effekt der Wahrnehmung basieren, und beide fungieren auf ähnliche Weise als Modelle zur Geheimbundgeschichte. Die Funktion des Fernrohrs ist nämlich, dass durch die Linse ein im Fokus stehendes Objekt vergrößert wird, während andere Gegenstände und die Umgebung aus dem Bild ganz ausgeschlossen, der Wahrnehmung verschlossen bleiben. Die Sicht durch das Perspektiv entspricht exakt der Wahrnehmung der Manie: Das Objekt, hier das Auge der Puppe, me-tonymisch aber auch seine eigenen Augen und seine Angst, auf die Nathanaels Seele fokussiert, erscheint vergrößert, während andere Aspekte des Lebens aus der Wahrnehmung und Wirklichkeitsauffassung des Studenten gänzlich ausge-klammert werden. So wird das Perspektiv sinnbildlich und motivisch mit den manischen Zuständen Nathanaels verbunden.

Das Fernrohr, das seit Galilei als das Mittel zur genaueren und die Objekti-vität garantierenden Erkenntnis gilt, wird in der technikskeptischen Darstellung E.T.A. Hoffmanns ins Gegenteil gewendet: Die Bewaffnung der Augen wird Mittel zur Täuschung und zur Zerrüttung des Ichs.

Damit der Zusammenhang zwischen einem optischen Effekt und der Erzäh-lerstrategie E.T.A. Hoffmanns deutlicher wird, sollen die folgenden Anfangszei-ten des Geheimbundromans Die Elixiere des Teufels zitiert werden.20

Entschließest du dich aber, mit dem Medardus, als seist du sein treuer Gefährte, durch finstre Kreuzgänge und Zellen – durch die bunte-bunteste Welt zu ziehen und mit ihm das Schauerliche, Entsetzliche, Tolle, Possenhafte seines Lebens zu ertra-gen, so wirst du dich vielleicht an den mannigfachen Bildern der Camera obscura, die sich dir aufgetan, ergötzen.21

Das genannte optische Gerät ist die seit Aristoteles bekannte Camera Obscura oder Lochkamera, genannt auch Dunkelkammer. Sie gilt als Vorläufer des

19 Vgl. Lindner, Henriett: Schnöde Kunststücke gefallener Geister, E.T.A. Hoffmanns Werk im Kontext der zeitgenössischen Seelenkunde. Würzburg: Königshausen und Neumann, 2001, S. 204 ff.

20 Vgl. ebd., S. 286 und Stiegler, Bernd: Die Spiegelreflexkamerastammlinde. Bildsysteme in E. T. A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels. Athenäum 5, 1995, S. 235–252.

21 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Hg. v. Wulf Segebrecht und Hartmut Steinecke. Bd. 2/2. Frankfurt a. M.: Deutsche Klassiker Ver-lag, 1985–1993, S. 12.

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apparats, mit dem Unterschied, dass der optische Effekt des Lochkameras bis ins 16. Jahrhundert ohne Linsen und Spiegel, sondern lediglich durch eine Loch-blende entstand. Die Camera Obscura bezeichnet ursprünglich einen abgedun-kelten Raum mit einem Loch in der Wand. Wenn der Durchmesser dieses Lochs klein genug ist, arbeitet sie ähnlich wie eine Linse, bei der das einfallende Licht ein auf dem Kopf stehendes Abbild der Außenwelt auf die gegenüberliegende Wand projiziert. Dieses Abbild ist sehr Lichtschwach und kann nur bei ausrei-chend abgedunkelter Umgebung betrachtet werden. Seit dem 13. Jh. wurde die Camera Obscura von Astronomen dazu verwendet, Sonnenflecken oder Sonnen-finsternisse zu beobachten, ohne dabei mit bloßem Auge in die Sonne sehen zu müssen. Leonardo Da Vinci entdeckte das erste Mal die Ähnlichkeit der camera obscura mit der Funktionsweise unseres Auges und der deutsche Philosoph, Me-chaniker und Optiker Johann Zahn konstruierte eine transportable Camera Obs-cura und brachte außerdem am Inneren der Camera einen Spiegel im 45° Winkel an, welcher das Bild nach oben auf eine Mattscheibe projizierte. Von diesem Zeitpunkt an nutzten Zeichner diese Möglichkeit um Landschaftsaufnahmen in richtigen Größenverhältnissen abzuzeichnen.22 Wenn E.T.A Hoffmann eine Camera Obscura in seinem Werk erwähnt, ist wohl dieser kleine auch in Wieg-lebs Magie abgebildete Guckkasten gemeint.23 Es wird aus der Vorrede vom fiktiven Herausgeber der Medardus-Geschichte deutlich, wie diesmal die Poetik des Geheimbundromans explizit nach einem optischen Gerät modelliert und entwickelt wird.

Es kann auch kommen, daß das gestaltlos Scheinende, sowie du schärfer es ins Auge fassest, sich dir bald deutlich und rund darstellt. Du erkennst den verborgenen Keim, den ein dunkles Verhängnis gebar und der, zur üppigen Pflanze emporgeschossen, fort und fort wuchert, in tausend Ranken, bis eine Blüte, zur Frucht reifend, allen Lebenssaft an sich zieht und den Keim selbst tötet.24

Zusammenfassend kann man feststellen, dass ursprünglich zu Schärfung des Blicks im Dienste der empirischen Wissenschaft erfundene und entwickelte op-tische Mittel in den untersuchten Texten aus einer skepop-tischen Einstellung

Zusammenfassend kann man feststellen, dass ursprünglich zu Schärfung des Blicks im Dienste der empirischen Wissenschaft erfundene und entwickelte op-tische Mittel in den untersuchten Texten aus einer skepop-tischen Einstellung