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Die ästhetische Betrachtung der Geschichte

Geschichtsauffassung bei Friedrich Nietzsche

3. Nietzsches Heraklitdeutung

3.3. Die ästhetische Betrachtung der Geschichte

Wohlfart deutet darauf hin, dass das Fragment B52 in Nietzsches Heraklitdeu-tung eine zentrale Rolle gespielt hat. Er beruft sich auf kurze Notizen von 1869/

1870 zu den Vorplatonikern, in denen zu Heraklit die folgenden stehen: „Künst-lerische Weltbetrachtung“ und „Heraclit… Die Welt ein Spiel…“46 Wie Wohl-fart aufzeigt, ist die Ästhetik der Heraklitschen Lehre schon vor Nietzsche einem Dichter aufgefallen. Hölderlin hat nämlich in seinem Werk Hyperion geäußert, dass im Worte „das Eine in sich selber unterschiedne“ das Wesen der Schönheit ausgedrückt wurde. Diese Stelle hat Nietzsche wohl gekannt, da er über das Werk seines Lieblingsdichters im Jahre 1861 einen Schulaufsatz geschrieben hat.47

Laut Nietzsche hat Heraklit den ganzen Weltprozess mit den sich immer wiederholenden Weltbränden ohne moralische Bewertung betrachtet. Die für die

40 Mansfeld [Anm. 3], S. 257.

41 Ebd., S. 259.

42 Mansfeld [Anm. 3], S. 257.

43 PHG [Anm. 9], S. 827.

44 Neeße [Anm. 25], S. 40.

45 Ebd., S. 40f.

46 Wohlfart [Anm. 6], S. 212.

47 Ebd., S. 209.

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Griechen vorhandene Hybris-Vorstellung hat ihn nicht beeinflusst. Er hat also die Weltgeschichte nicht als Bestrafungsakt des Frevels verstanden, wie zum Beispiel Anaximander. Er hat nämlich das Werden in seiner Ganzheit betrachtet, und hat die Gesetzmäßigkeiten im Chaos entdeckt: Für ihn lief „alles Widerstre-bende in eine Harmonie zusammen“48.

Ein Werden und Vergehen, ein Bauen und Zerstören, ohne jede moralische Zurech-nung, in ewig gleicher Unschuld, hat in dieser Welt allein das Spiel des Künstlers und des Kindes. Und so, wie das Kind und der Künstler spielt, spielt das ewig le-bendige Feuer, baut auf und zerstört, in Unschuld – und dieses Spiel spielt der Aeon mit sich. […] Nicht Frevelmuth, sondern der immer neu erwachende Spieltrieb ruft andre Welten ins Leben. Das Kind wirft einmal das Spielzeug weg: bald aber fängt es wieder an, in unschuldiger Laune. Sobald es aber baut, knüpft und fügt und formt es gesetzmäßig und nach inneren Ordnungen.49

Die Welt als unschuldiges Spiel eines Kindes. Nietzsche stellt fest: „So schaut nur der ästhetische Mensch die Welt an.“50 Der ästhetische Mensch muss näm-lich an dem Entstehen des Kunstwerkes schon mal erfahren haben, dass auch im Streit der Vielheit Gesetz und Recht zur Geltung kommen und dass, „wie Nothwendigkeit und Spiel, Widerstreit und Harmonie sich zur Zeugung des Kunstwerkes paaren müssen“51. An dieser Textstelle geht Nietzsche von dem Fragment B52 aus, und zitiert es – wortwörtlich oder sinngemäß – siebenmal in der Philosophenschrift, wie Wohlfart bemerkt.52

„Das ewige Leben ist ein Kind, spielend wie ein Kind, die Brettsteine set-zend, die Herrschaft gehört einem Kind.“53 Nach dem Altphilologen Bernays hat Heraklit bei bildlichen Ausdrücken gern auf Homer Bezug genommen, so ist es möglich, dass das Fragment B52 auf das Homersche Gleichnis (Il. 15.360ff) zu-rückgeht, in dem Apoll mit einem auf dem Strand spielenden Knaben verglichen wird.

Dort nun strömten sie vor in geschlossener Schar, und Apollon Vorn, von der Ägis umstrahlt; hinstürzt' er der Danaer Mauer Leicht, wie etwa den Sand ein Knab' am Ufer des Meeres, Der, nachdem er ein Spiel aufbaut' in kindischer Freude, Wieder mit Hand und Fuße die Häuflein spielend verschüttet.54

48 PHG [Anm. 9], S. 830.

49 Ebd., S. 830f.

50 Ebd., S. 831.

51 Ebd., S. 831.

52 Wohlfart [Anm. 6], S. 235f.

53 Fragment B52. Übersetzung von Mansfeld. Wohlfart [Anm. 6], S. 26.

54 Homer: Ilias, Fünfzehnter Gesang. 360ff. Übersetzt von Johann Heinrich Voß.

http://www.digbib.org/Homer_8JHvChr/De_Ilias_.pdf

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Der Unterschied zum Aion-Gleichnis Heraklits besteht einerseits darin, dass es im Apoll-Gleichnis nicht vom Brettspiel sondern vom Sandspiel die Rede ist, andererseits, dass im Homerschen Gleichnis kein Wort vom Königtum vor-kommt.55 Meiner Meinung nach korrespondiert das Homersche Gleichnis besser mit der Intention von Nietzsche besser, wenn der Name Apolls mit dem des Aion ersetzt wird. Nicht einmal seine Auslegung erklärt nämlich das Zitat von Heraklit „die Herrschaft gehört einem Kind“.

Wohlfart leistet in seinem Buch eine ausführliche etymologische Erklärung von den wichtigsten Begriffen des Heraklit-Fragments. Das Wort Aion übt eine verwirrende Wirkung mit seiner Vieldeutigkeit aus. In erster Annäherung bedeu-tet es ‚Leben(szeit), Zeit(dauer), lange Zeit, Ewigkeit’.56 Am Ende des Kapitels entscheidet sich der Verfasser für die Bedeutung ‚das Leben’, wobei sowohl das Leben des Einzelnen, als auch das Leben im

Allgemeinen gemeint ist.57 Nach den etymologischen Klärungen finden wir in Wohlfarts Buch eine enorm komplizierte Deutung des Heraklit-Fragments, die zwar die Mehrdeutigkeit des Textes möglichst gut behandelt, jedoch m. E.

für unser Thema kein relevantes Ergebnis erzielt.

Heraklits Betrachtungsweise nennt Nietzsche ästhetisch oder künstlerisch und vergleicht mit dem Blick des contiutiven, beschaulichen Gottes, was auch bedeutet, dass es hier um eine nicht-menschliche Sichtweise geht. Da die des-anthropomorphisierende Betrachtungsweise von allen moralischen Bezügen be-freit ist, ermöglicht sie dem Darsteller, sich über seinen Gegenstand ein annä-hernd getreues Bild zu machen. In diesem Sinne kann auch das ganze Denken Heraklits als wahrhaftes betrachtet werden.

Eine solche Einstellung ist mit der verwandt, die Nietzsche in der Zweiten Unzeitgemässen Βetrachtung als überhistorische Haltung bezeichnet. Für diese Betrachtungsweise ist die folgende Überzeugung charakteristisch:

Das Vergangene und das Gegenwärtige ist Eines und dasselbe, nämlich in aller Mannigfaltigkeit typisch gleich und als Allgegenwart unvergänglicher Typen ein stillstehendes Gebilde von unverändertem Werthe und ewig gleicher Bedeutung.58

Auch der Mensch mit überhistorischer Anschauung betrachtet die Weltgeschich-te aus einer außermenschlichen Perspektive, ganz leidenschaftslos.

Die Frage wäre jetzt, was für ein Verhalten einer solchen Betrachtung an-gemessen wäre. In der Dritten Unzeitgemässen Betrachtung Schopenhauer als Erzieher wird das Wesen der Bestrebung, wahrhaftig zu sein, erklärt. „Jener

55 Ebd.

56 Wohlfart [Anm. 6], S. 33.

57 Ebd., S. 54.

58 HL [Anm. 1], S. 256.

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roismus der Wahrhaftigkeit besteht darin, eines Tages aufzuhören, sein Spiel-zeug (des großen Kindes Zeit – die Verfasserin) zu sein.“59 In der Abhandlung Ueber Wahrheit und Lüge finden wir dafür die bewusste Täuschung als Lösung.

Der intuitive Mensch möchte selbst täuschen, mit Metaphern spielerisch operie-ren und durch das künstlerische Schaffen die Tätigkeit des Aion nachahmen.

Der Intellekt, jener Meister der Verstellung, ist so lange frei, und seinem sonstigen Sklavendienste enthoben, als er täuschen kann, ohne zu schaden und feiert dann sei-ne Saturnalien; nie ist er üppiger, reicher, stolzer, gewandter und verwegesei-ner. Mit schöpferischem Behagen wirft er die Metaphern durcheinander und verrückt die Gränzsteine der Abstraktion […].60

Die ästhetische Anschauung der Welt spielt auch im Buch Die Geburt der Tra-gödie eine wichtige Rolle. Nietzsche ist auf die Folgerung gekommen: „[…] nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt“.61 Der Weltprozess wird hier als künstlerisches Schaffen dargestellt und in der künstlerischen Zeugung nachgeahmt. Damit wird das Werden von der morali-schen Beurteilung losgelöst. Es erscheint bei Nietzsche der ewige Künstler des Weltgeschehens, der eine künstlerische Scheinwelt hervorbringt, in der wir Menschen auch als Kunstwerke leben und existieren. Das menschliche Dasein wird also als „aesthetisches Phänomen“, anders gesagt bloß als Illusion gerecht-fertigt.

In diesem Sinne sei der aristotelische Ausdruck „die Nachahmung der Na-tur“ als adäquate Bezeichnung für die künstlerische Tätigkeit zu verstehen. Der Künstler bringt also eine künstlerische Scheinwelt ähnlicher Weise hervor, wie sich das Sein für den Menschen in einer Welt manifestiert, die lediglich Illusion ist.62

Nietzsche war damals noch begeisterter Anhänger der Wagnerschen Musik und hat sein Vorwort an Richard Wagner (aus dem Jahre 1871) mit der Behaup-tung geschlossen, dass er „von der Kunst als der höchsten Aufgabe und der ei-gentlich metaphysischen Tätigkeit dieses Lebens […] überzeugt“ sei.63

59 SE [Anm. 10], S. 374.

60 UWL [Anm. 15], S. 888.

61 Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie. In: Kritische Studienausgabe. Hg. v.

Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, Ber-lin: Walter de Gruyter, 1988, Bd.1.: Nachgelassene Schriften 1870–1873 (Im Weiteren:

GT), S. 47.

62 Ebd., S. 31.

63 Ebd., S. 24.

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