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Zur Konstellation von Literatur und Architektur in der Berliner Moderne um 1900

Die folgende Untersuchung fokussiert die Konstellation von Literatur und Architektur in der Berliner Moderne um 1900. Es werden im ersten Schritt die Ursachen und Motive konkretisiert, die den Schriftsteller Paul Scheerbart (1863–1915), den „einzigen Architekturdichter“1, zu einem gefeierten „Initiatoren der Kunstwende“2machten, dessen Name für die expressionistische Autorengeneration „Ewigkeitswert“3besaß.

Wohl steht am Beginn des Expressionismus ein wahrhaftiger Verkünder expressionistischer Baukunst. Aber es war dies kein Architekt, sondern ein Dichter, der in wundervollen Romanen und Novellen das zukünftige Haus der Menschen und die Stadt des Menschen schilderte. Es war der Dichter Paul Scheerbart.4

Dem entsprechend wurde Scheerbart nicht nur unter Schriftstellern hoch verehrt.5 Der Architekt Bruno Taut bezeichnet ihn in einem Ausstellungskatalog des Sturm als entscheidenden „Anreger der Glasarchitektur“6. Nach seinem plötzlichen Tod im Oktober 1915 wird sowohl bei Lothar Schreyer und Herwarth Walden als auch bei Taut die Tendenz sichtbar, die Kanonisierung und Ruhmbildung Scheerbarts voranzutreiben. Ein Ergebnis dieser Arbeit war die Gründung der Paul-Scheerbart-Gesellschaft, die sich 1929 in den Räumen des Sturm konsti-tuierte. Zum geschäftsführenden Ausschuss gehörten neben Walden, Taut und Behne noch der Germanist und spätere Nachlaßverwalter Hellmut Draws-Tychsen, Walter Mehring, Alfred Richard Meyer und Erich Mühsam. Ziel der Gesellschaft war es, „durch Neuausgaben, Pressehinweise, Aufführungen, Vorträge und andere Mittel“7 Scheerbarts Werk im kulturellen Gedächtnis zu institutionalisieren. Der Gesellschaft gelang es 1931 im historischen Schloss Oliva in Danzig, der Geburtsstadt

Scheerbarts, eine Ausstellung des gesamten dichterischen und zeichneri-schen Nachlasses zu eröffnen.

Es ist hier nicht der Raum, um die vielfältigen Verflechtungen Scheerbarts mit dem Sturmliteraturhistorisch umfassend rekonstruieren zu können. Stattdessen soll nach seiner Beteiligung an den kulturellen Unternehmungen Waldens vor Gründung der Zeitschrift im Jahr 1910 gefragt werden. Die Partizipation Scheerbarts am Veranstaltungs-programm des Vereins für Kunst (1904–1910) und seine Bedeutung für die ästhetische Moderne um 1900 stehen dabei im Zentrum des Interesses. An dieser Stelle kann ebenfalls nicht ausführlich auf die Rolle Waldens als „Antreiber, Propagator und Organisator“8 moderner Literatur und Kunst im ersten Dezennium des 20. Jahrhunderts einge-gangen werden. Die Geschichte des Vereins für Kunst als Forum für bekannte und weniger bekannte Talente und als Alternative zu den kom-merziellen Künstleragenturen des wilhelminischen Deutschland, soll mit Hinblick auf das vorliegende Thema ebenso nur knapp umrissen und besonders dort konturiert werden, wo sich ein Bezug zu Scheerbart her-stellen lässt.9

Paul Scheerbart in Herwarth Waldens Verein für Kunst (1904–1910)

Herwarth Walden, der Herausgeber des Sturm, konnte bei der Gründung der Zeitschrift auf ein fast zehnjähriges kultur- und kunstpolitisches Engagement in Berlin zurückblicken. In dieser Zeit sammelte er nicht nur organisatorische und publizistische Erfahrungen mit Veranstaltungs-abenden und als Schriftleiter, Kritiker und Redakteur für verschiedene Periodika, sondern er schuf im Rahmen seines Engagements für eine zeitgenössische Literatur und Kunst ein Netzwerk von modernen SchriftstellerInnen, Theaterreformern, Kultur-Theoretikern und Architekten, von dem im wesentlichen auch die ersten Jahrgänge des Sturm getragen wurden. Seit März 1910 mit dem Untertitel „Wochen-blatt für Kultur und Künste“ in Berlin erscheinend, gilt der Sturm bis heute, neben Franz Pfemferts Aktion, als wichtigstes Organ der expressio-nistischen Bewegung im zweiten Dezennium des 20. Jahrhunderts, als entscheidender „Wegbereiter der Moderne“10in Deutschland mit euro-päischer und interdisziplinärer Ausrichtung.11

Fundiert hat Peter Sprengel jene Prozesse analysiert, die mit der Robert Hodonyi

Entwicklung des Sturm zu einer der wichtigsten Institutionen avantgar-distischer Kunsttheorie und -praxis in Deutschland verbunden waren.

Durch Kanonbildung, Kommerzialisierung und konsequente Abgrenz-ung, gelang es dem Sturmals Galerie, Verlag und Zeitschrift, die Kunst der Moderne ebenso didaktisch zu vermitteln wie öffentlichkeitswirksam zu präsentieren.12 In diesem Zusammenhang spielte personelle Kontinuität für Walden von Beginn an eine bestimmende Rolle. Neben Alfred Döblin, Rudolf Blümner, Else Lasker-Schüler, Samuel Lubinski und Salomo Friedlaender gehörte Scheerbart schon lange vor 1910 zum Kreis um Walden, wie ein Foto aus dem Jahr 1905 belegt, welches beide neben anderen „Modernen“ im Café des Westens zeigt.13

Der 1863 in Gdansk/Danzig geborene Scheerbart kann zu den ältes-ten Künstlerfreunden Waldens gerechnet werden. Ob die Bekanntschaft zwischen beiden spätestens im Jahr 1895 „begonnen haben muss“14, wie Leo Ikelaar vermerkt, kann nicht verifiziert werden, da der Autor für sei-nen Befund keine Quelle sei-nennt. Die Forschungslage wird diesbezüglich dadurch erschwert, dass zu Walden bisher keine literaturwissenschaftlich gesicherte Biographie vorliegt.15 In Bezug auf Scheerbart sieht die Forschungslage ungleich besser aus. Im Jahr 1990 erschien, herausgegeben von Mechthild Rausch, eine Scheerbart-Biographie in Briefen.16Im Jahr 1997 wurde ebenfalls von Rausch eine detaillierte Teil-Biographie veröf-fentlicht.17Damit hat die Autorin die erste Arbeit vorgelegt, welche syste-matisch und gestützt auf breiter Quellenbasis, die Lebensjahre des jungen Scheerbart wissenschaftlich aufarbeitet und den zahlreichen in der Lite-ratur kursierenden biographischen Legenden und Mythen faktengestütztes Material gegenüberstellt. Rausch gibt keinen Hinweis darauf, dass sich Walden bereits um 1895 im künstlerischen Umfeld Scheerbarts bewegt haben könnte.

Ein wenig zu früh angesetzt erscheint die Jahreszahl Ikelaars aus mehreren Gründen. Walden hatte 1895 gerade das Gymnasium absol-viert und begann bei Conrad Ansorge Klavier, Komposition und Musikwissenschaft zu studieren. Scheerbart hingegen ist über 15 Jahre älter und besitzt als Verlagsgründer, Autor und Journalist in der Berliner Moderne bereits einen Namen. Gewichtiger gegen das Jahr 1895 spricht jedoch, dass sich der früheste schriftliche Beleg für eine Verbindung in Form einer Einladung zur Gründung der antimilitaristischen Zeitschrift Das Vaterlandaus dem Jahr 1903 findet.18

Paul Scheerbart und Herwarth Waldens Verein für Kunst.

Festzustellen ist, dass sich die Kontakte seit 1904 intensiviert haben.

Die Kommunikation zwischen Scheerbart und Walden war in den Jahren um 1903/04 zunächst von einer geschäftlichen Distanz geprägt.

Es fehlt der vertrauliche Ton, der etwa den Scheerbart-Korrespondenzen mit den langjährigen Freunden Franz Servaes, Richard Dehmel oder Erich Mühsam unterlegt ist. Dies kann als ein weiteres Indiz dafür gewer-tet werden, dass zu diesem Zeitpunkt, um 1904, eine fast 10-jährige Bekanntschaft, wie sie Ikelaar behauptet, als eher unwahrscheinlich anzu-sehen ist.

Wie kein zweiter Multiplikator des modernen Berliner Kulturlebens war Walden in den nächsten Jahren bemüht, Scheerbart als Schriftsteller zu fördern und zu höherer Publizität zu verhelfen. So enthalten etwa alle Zeitschriften für die er zwischen 1908 und 1910 als Schriftleiter tätig wurde, wie Morgen. Wochenschrift für Deutsche Kultur oder Das Theater bereits regelmäßig Beiträge des Dichters.19 Walden bot Scheerbart im 1904 gegründeten Berliner Verein für Kunst, dem institutionellen Vor-läufer des Sturm, wiederholt ein Podium für Lesungen und Rezitationen eigener Prosa und Lyrik sowie die Aufführungen von Theaterstücken und Pantomimen. Bis 1910 trat Scheerbart mehrfach im Verein für Kunst auf. Erstmalig in der ersten Wintersaison des Vereins 1904/05, wo er einen Querschnitt seines bisherigen literarischen Oeuvres vor-brachte.20 Besonders Scheerbarts Lautgedicht Kikakoku! Ekoraláps! hat offensichtlich einen starken Eindruck bei den anwesenden Zuhörern hinterlassen und ist in seiner nachhaltigen Wirkung nicht zu unterschät-zen. „1915 starb Scheerbart in Berlin. Sein Geist wirkte weiter, beeinfluss-te die avantgardistischen Experimenbeeinfluss-te des Sturmkreises, sein Lautgedicht Kikakoku schlägt die selben Töne an, mit denen Hugo Ball und Kurt Schwitters schockierten.“21 In einer zeitgenössischen Rezension dieses Vortragabends heißt es: „Seine Form ist das Stammeln des Staunenden, ein fortwährendes qualvolles Suchen nach neuen Bildern in neuen und alten Worten. Bis zu der Kühnheit, die nur die Verzweiflung des Kämpfenden eingibt, eine Dichtung aus erfundenen Klängen zu fügen:

‚Kikakoku. Ekoraláps’.“22 Walden nennt Scheerbart später den „ersten Expressionisten“23, eine Anspielung auf die amimetische Kunsttheorie und -praxis des Dichters, die im Kontext der Bemühungen um eine Propagierung nicht-naturalistischer Literatur gesehen werden können.

Scheerbart, so Walden, „schuf die Menschen nicht nach ihrem Robert Hodonyi

Ebenbilde“ und deshalb „war er Künstler“24. Ohne Zweifel stellte Scheerbarts Prosa und Lyrik für den strikten „sprach- und kunstreferen-tiellen Ästhetizismus“25 des Sturm einen wichtigen Vorläufer dar. Ähn-lich wie Walden sah auch Karl Kraus in den „hohen Unverständ-lichkeiten“26, in der Negation und Überwindung der Mimesis die heraus-ragende Funktion von Kunst. Kraus schätze daher nicht nur die Lyrik Lasker-Schülers27, sondern kann auch als begeisterter Scheerbart-Leser gelten.28Paul Scheerbart-Rezitationen von Rudolf Blümner bilden später neben den Werken von August Stramm einen Schwerpunkt der ab 1.

September 1916 organisierten Sturm-Kunstabende, die in den Ausstel-lungsräumen des Sturmauf der Potsdamer Straße 134a in Anlehnung an die Veranstaltungen des Vereins für Kunst stattfanden.29 So dürften Blümners Versuche zur „absoluten Dichtkunst“ – der Ango laïna(1921)30 – die keinerlei referenzierbare Inhalte mehr aufweist, auch auf Anregungen und Impulse der Lautgedichte Scheerbarts basieren.

Nach der ersten Veranstaltung Scheerbarts im Verein für Kunst kam es zum Zwist mit Walden. Scheerbart drohte mehrmals damit, rechtliche Schritte einzuleiten, falls das ausstehende Honorar nicht gezahlt würde.31 Als freier Autor war Scheerbart existenziell auf diese Vergütungen angewiesen. Wie aus den Akten der Deutschen Schiller-stiftung hervorgeht, war der Dichter seit 1903/04 von der Einkommens-steuer befreit, da er am Existenzminimum lebte und sein Jahresein-kommen unter 420 Mark betrug.32Aus einem Einladungsschreiben zur Gründung des Vereins für Kunst geht die Bestrebung Waldens hervor, für die künstlerische Moderne einen finanziellen und institutionellen Autonomiestatus zu implementieren und in der Ablehnung des wilhel-minischen Systems und seiner kulturellen Repräsentanten, ein eigenes Netzwerk der Literaturpräsentation und -distribution aufzubauen.33Die Förderung von jungen oder kaum bekannten Autoren bedeutete aber auch, wie Scheerbart schmerzlich erfahren musste, ein erhebliches finan-zielles Risiko. An Kraus schreibt Walden über die prekäre finanzielle Lage seines Unternehmens: „Materiell hat mich der ‚V.f.K.’ zu Grunde gerichtet. Erst im letzten Jahr [1908, R.H] konnte ich wieder etwas atmen.

Ich hatte allein die materielle Verantwortung. Überlegen Sie bitte, wer zu Mombert, Rilke, Scheerbart z.B. Billets kauft.“34 Immer wieder muss Scheerbart daher drohen: „Erhalte ich das Geld nicht – so zwingen Sie mich zum Äußersten. Ich habe lange genug gewartet.“35Noch im März Paul Scheerbart und Herwarth Waldens Verein für Kunst.

1910 äußert sich Scheerbart auf Grund unklarer Geschäftsstrukturen sehr misstrauisch und zurückhaltend, als Walden ihn als Mitarbeiter für den Sturmzu gewinnen versucht. Nicht künstlerische Fragen lassen ihn zögern auf die Offerte einzugehen, sondern der ungeklärte finanzielle Hintergrund.36

Nachdem Walden den Zahlungsaufforderungen nachgekommen war, wurde im Dezember 1905, der zweiten Wintersaison des Vereins für Kunst, Scheerbarts dramatisches Stück Herr Kammerdiener Kneetschke.

Eine Kammerdiener-Tragödie in 5 Aufzügengemeinsam mit Alfred Döblins Einakter Lydia und Mäxchen uraufgeführt. Sowohl Döblin als auch Scheerbart tauschten sich über die Inszenierung mit Walden aus.37 Scheerbart trug sich mit dem Gedanken eine strahlende, auf Spiegel-effekten basierende Bühnenarchitektur zu realisieren, zu deren Verwirklichung es allerdings dann nicht gekommen ist. An Walden schreibt er: „Das Experiment mit glänzenden Hintergründen (evtl. aus Glas) mach ich vielleicht später. Für die ‚blaue’ Bühne scheint mir das preußische Blau in stumpfer Form schon scharf genug.“38 Dass im Rahmen der Revolutionären Theater-Bibliothek (1904)39 veröffentlichte Stück wurde 1913 im Sturmerneut publiziert.40

DasPerpetuum mobile. Geschichte einer Erfindung (1910)

Scheerbart stellte Walden seit 1904 eigene Bücher wie Tarub, Bagdads berühmte Köchin. Ein arabischer Kulturroman (1897) leihweise zur Verfügung, die dieser offensichtlich mit großer Zustimmung gelesen hat.41Dadurch dürfte Walden schon zu diesem Zeitpunkt auf die litera-rischen Architekturphantasien Scheerbarts aufmerksam geworden sein.

In Rakkóx der Billionär. Ein Protzen-Roman(1900)42, den Walden im Juni 1904 in die Hände bekommt43, wird unter anderem eine gigantische kris-talline Gebirgsarchitektur aus Glas entworfen, die an der Westküste Südamerikas angesiedelt ist.44

Walden wurde, wie andere Korrespondenzpartner Scheerbarts auch, stets über laufende publizistische Projekte im Bilde gehalten. Dies galt besonders für die Entstehungsphase seines Buches Perpetuum mobile. Die Geschichte einer Erfindung (1910)45, wo eine Selbstinszenierung als Inge-nieur und kreativer Erfinder gegenüber den Briefpartnern zu beobachten ist. Den Verlauf und die Ergebnisse seiner Experimente zeichnete Robert Hodonyi

Scheerbart seit 1908 tagebuchartig auf und versah den Text mit 26 selbst-gefertigten Konstruktionszeichnungen. Parallel zu poetischen und ironi-schen Reflexionen liess er immer wieder den angeblichen Zweck seines Projektes durchblicken. Es geht ihm scheinbar um nichts anderes, als die Verwirklichung eines megalomanen Traumes der architektonischen Umgestaltung der Erde mittels neuer technischer Erfindungen, wie er sie im Rakkóxliterarisch entfaltet hatte. „Mich beschäftigen jetzt auch immer-zu die großen Bauten, die da kommen werden. Architektonische Behandlung der Gebirgspartieen wäre jetzt nicht mehr utopisch – wenn das Rad geht.“46 Scheerbart konzipierte im Zuge seiner physikalischen Experimente, zumindest auf dem Papier, auch universell einsetzbare Bau-Maschinen. Er nutzte die Vorstellung eines tatsächlich funktionstüchtigen

„Perpehs“, wie er seine nie vollendete Konstruktion liebevoll nannte, vor allem dazu, ausführlich und poetisch über eine paradiesische Welt ohne körperliche Arbeit und Anstrengung nachzudenken. Kurz: Das „Perpeh“

beflügelte immer wieder seine schriftstellerischen und architektonischen Phantasien. „Das ist sehr anstrengend – solche Modelle herzustellen“47, schreibt er an Walden und bezieht ihn unmittelbar in seine Pläne einer zu diesem Zeitpunkt noch utopisch verfassten Glasarchitektur mit ein. Das von Ernst Rowohlt herausgegebene Buch wurde in der Literaturgeschichtsschreibung unter anderem als künstlerischer Vorläufer Dadas gewertet. Als Ingenieur versuchte Scheerbart – zweifellos mit einem Augenzwinkern – am „Rad des Fortschritts zu drehen“48, was ihn und sein jeweils neuestes Modell des Perpetuum mobiles aber immerhin zwischen 1908 und 1910 wiederholt zum Patentamt führte und seine spärlichen finanziellen Mittel vollkommen aufbrauchte. So ist hier der Wille zum Konstruieren neuer architektonischer Welten unmittelbar greifbar. Wie kein zweiter Gegenstand steht für Scheerbart die Möglichkeit der Konstruktion eines Perpetuum mobiles als Symbol für die Verwirklichung eines uralten „Ingenieur-Traums“, der Aufhebung der Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft mittels technologischem Fortschritt und rei-bungsloser Mechanik, die Scheerbart sogleich für die architektonische Umgestaltung der Erde, „eine[r] kolossale[n] Raumkunst“49, zu nutzen gedachte. Immer wieder imaginiert er gegenüber seinen Briefpartnern eine gelungene Konstruktion. „Jetzt kommt das neue Zeitalter. [...] Alle Gebirge werden ‚architektonisch’ verwandelt – und die Flüsse werden in Canäle geleitet“50, auch „Fabrikschornsteine etc sind demnächst überflüssig“51.

Paul Scheerbart und Herwarth Waldens Verein für Kunst.

Mit Hilfe von Technik und eigenwilligen Zeichnungen versuchte er – allerdings recht dilettantisch –, die in der Natur nach seiner Ansicht vorhandenen Kräfte zu entfachen und zu bändigen und mit mutigen Konstruktionen zumindest fiktional Raum und Zeit zu annektieren. Die Konstruktionszeichnungen und nüchternen Kommentare vermitteln, bei aller Ironie die dem Unternehmen zu eigen ist, den Eindruck einer fundierten wissenschaftlichen Abhandlung. Über zwei Jahre lang hatte Scheerbart dieses Projekt beschäftigt. Im Kontext seines Oeuvres betrach-tet stellt somit das Perpetuum mobileden Prolog zur Glasarchitekturvon 1914 dar, denn auch hier hat zuerst der „Techniker das Wort“ und ste-hen „sehr praktische Erwägungen“52im Vordergrund.

Kritik am Städtebau

Seit den 1890er Jahren hatte sich Scheerbart kritisch mit der zeitgenössi-schen Architektur und Stadtentwicklung Berlins auseinander gesetzt.

Von der Mietskasernenarchitektur wandte er sich ebenso ab, wie von pompösen Bürgervillen und wilhelminischer Monumentalarchitektur, wie Ludwig Hilberseimer im Artikel Paul Scheerbart und die Architektenin Paul Westheims Kunstblatt beschreibt.53 Die Architektur Berlins stellte für Scheerbart eine unkünstlerische Zumutung dar. In Die modernen Städte (1891/92)54 und Die Entwicklung der Stadt (1910)55 beklagt Scheerbart die städtebauliche Entwicklung der Reichshauptstadt. In den Fokus rückt insbesondere die Tendenz zur Uniformierung des Stadt-bildes. Scheerbart schreibt, dass geradlinige Straßen „in einer Stadt ein-mal oder zwei- bis vierein-mal wirksam verwendet werden“ können, es aber

„barbarisch ist [...], alle Strassen gradlinig zu machen“56. Es dürfte um 1900 keinen zweiten Schriftsteller der ästhetischen Moderne geben haben, der sich sowohl in seinen poetischen Schriften als auch in jour-nalistischen Beiträgen gleichermaßen so intensiv mit Architektur und Stadtentwicklung beschäftigt hat. Die Geradlinigkeit und die Monotonie in der Häuser-Reihung, die vor allem bezüglich der uniformen Mietskasernen konstatiert wird, bezeichnet Scheerbart als den

„Militarismus in der Architektur“57. Diesen kritisiert er vehement. Statt

„Militarismus in der Architektur“ fordert Scheerbart Dezentralisation und Auflösung des Stadtbildes. „Heute ist der Anblick einer modernen Großstadt für jeden architektonisch gebildeten Menschen eine schwere, Robert Hodonyi

gesundheitswidrige Gemüthskränkung und Nervenpein. Dieses Uniforme! Das Uniforme wirkt in der Kunst immer wie ein tötliches Gift.“58 Diese städtebauliche Kritik an der Uniformierung der Großstädte ist noch Jahre später im Umfeld des Arbeitsrat für Kunst virulent.59

Einfachheit im Verein für Kunst

Zu den Leitbegriffen ästhetischer Formenreflexion, die für den Verein für Kunst große Bedeutung besessen haben, gehörte insbesondere die Idee der Einfachheit60, welche im Kontext des Vereins unter anderem von den Architekten Adolf Messel und Adolf Loos vertreten wurde61, zwei der wichtigsten Repräsentanten der „Zeit der Vereinfachung“62, wie Julius Posener die Dekade vor dem Ersten Weltkrieg nennt.63Noch kurz vor der Gründung des Sturm war Waldens Veröffentlichungspraxis als Schriftleiter der Zeitschrift Das Theater von Döblin mit kritischen Worten kommentiert worden. Döblin griff dabei die Ornamentkritik von Loos auf. Sie wurde von ihm wie in Kraus’ Essay Heine und die Folgen (1909) im Kontext der Auseinandersetzung mit Feuilletonismus und (früh)expressionistischer Subjektivität für die literatur- und journalis-muskritische Theoriebildung nutzbar gemacht. So kritisiert Döblin Waldens Veröffentlichungspraxis mit dem Hinweis auf die Loossche Ästhetik, auf ein Zuviel an „Dekoration“ und „Stil“ in der Zeitschrift auf der einen, und einem Zuwenig an „positive(r) Urteilskraft“ und

„Bericht“ auf der anderen Seite, nur Scheerbart wird in der Blattkritik hervorgehoben:

Oh wie erholt man sich da an der Skizze von Sch[e]erbart! […] siehe auch die Bemerkungen von Loos, der als Princip aufstellt: Sachlich sein; jedes Ding seine besondere Sachlichkeit, Zweckmäßigkeit; nichts von außen heranbringen und ankleben. Wenn doch das die Herren lernen wollten und nicht dauernd den Stil der schlechten Kunstgewerbler schrieben. – Ich resümiere: mehr Bericht, mehr Kritik, weniger „Stil“, weniger Dekoration64.

Für Döblin bildete das Paradigma der Sachlichkeit eine entscheidende Kategorie der künstlerisch-ästhetischen Überlegungen bis weit in die Paul Scheerbart und Herwarth Waldens Verein für Kunst.

1920er Jahre hinein, mit ihr identifizierte er in Anlehnung an die neuen architektonischen Prinzipien und nüchterne Baurhetorik von Loos vor allem Zweckmäßigkeit und einen zeitgemäßen Wirklichkeitsgehalt in der Kunst.lxv Scheerbart legte seinen Reflexionen über das „Einfache“ eben-falls generelle Überlegungen zur Ästhetik der Moderne zu Grunde. Die Tendenz zur Vereinfachung erscheint bei ihm als eine Reaktion auf den ornamentierenden Jugendstil und als Ausgangspunkt bei der Suche nach einem adäquaten Stil des 20. Jahrhunderts. „Einfachheit“ – oder anders formuliert Reduktion auf das Wesentliche – ist für Scheerbart die wich-tigste Leitdifferenz bei der Unterscheidung zwischen Kunst und anderen Lebensbereichen:

Bedenken wir aber, daß die Kunst keineswegs ein Konterfei von Erscheinungswelten sein soll, kann oder darf – so werden wir den Unterschied zwischen Welt und Kunst nicht mehr so sonderbar finden. Die Kunst soll uns doch eine Sache zunächst einmal deutlich und übersichtlich machen. Das aber erzielt man doch nur dadurch, daß man das Vorzuführende im wesent-lichen festhält, in einzelnen Hauptlinien darstellt – d.h. vereinfacht. Ohne zu

Bedenken wir aber, daß die Kunst keineswegs ein Konterfei von Erscheinungswelten sein soll, kann oder darf – so werden wir den Unterschied zwischen Welt und Kunst nicht mehr so sonderbar finden. Die Kunst soll uns doch eine Sache zunächst einmal deutlich und übersichtlich machen. Das aber erzielt man doch nur dadurch, daß man das Vorzuführende im wesent-lichen festhält, in einzelnen Hauptlinien darstellt – d.h. vereinfacht. Ohne zu