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im Spiegel der Notizkalender von Arthur Holitscher

Der Textkorpus und seine Geschichte

Ein Teil des Nachlasses von Arthur Holitscher befindet sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Der in Marbach aufbewahrte Nachlass besteht aus Briefen an Holitscher (von Johannes Baader, Hermann Bahr, Otto Julius Bierbaum, Richard Dehmel, Moritz Heimann, Kurt Hiller, Benjamin W. Huebsch, Siegfried Jacobsohn, Albert Langen, Rudolf Leonhard, Oskar Loerke, Frans Masereel, Josef Ruederer, Alfred Wolfenstein u.a.; von den Verlagen S. Fischer, Kurt Wolff u.a.), aus Briefen von Holitscher an Eugen Diederichs, Camill Hoffmann, Harry Kessler, Armin Theophil Wegner, Walter Zadek, aus Familienbriefen und verschie-denen Verlagsverträgen. Neben diesen Handschriften befinden sich im Archiv verschiedene gedruckte literarische Dokumente, Theaterprogram-me und Zeitungsausschnitte.

Einen wesentlichen Teil des Nachlasses von Holitscher bilden seine Notiz-Kalender. Die persönlichen Kalender Holitschers sind über die Witwe des Grafen Mihály Károlyi und den Historiker György Litván überliefert worden.1Auf diesem Wege sind sie in Besitz von Ferenc Szász geraten. Mir wurden die Kalender von Csilla Szász zur Verfügung gestellt.

Der Textkorpus der Notiz-Kalender von Arthur Holitscher besteht aus insgesamt 17 Kalender-Heftchen von einem Format von 8,30x12,50 cm, die die Periode von 1923 bis 1938 sehr detailliert dokumentieren. Zu diesen Notiz-Kalendern kommen noch vier Heftchen, die nicht als eigentliche Kalender funktionieren, sondern einerseits die Funktion des Bilanzziehens (Subjekt-Index) mit der genauen Aufzeichnung der finan-ziellen Lage usw. haben, andererseits sind die übrig gebliebenen drei Hefte als Entwurf-Hefte zu bezeichnen. Diese drei Kalender haben nur eine lose Chronologie und enthalten Entwürfe und verschiedene Aufzeichnungen, die keinen informativen, sondern eher einen reflexiven Charakter haben. Diese sind auch keine eigentlichen Notiz-Kalender,

sondern nur unkarierte und undatierte (Makulatur)Hefte, nur mit der eigenen Datierung des Autors versehen.

Struktur der Kalender

Die allgemeinen Charakteristika der Kalender können wichtige Auskünfte über inhaltliche Einzelheiten liefern. So haben alle Kalender eine Ortsangabe und Datierung mit der Unterschrift des Autors auf dem ersten Blatt. Die Kalender aus den Jahren 1923, 1924, 1926, 1927, 1928, 1929, 1930, 1931 haben als Ortsangabe den Eintrag „Berlin“, manchmal sogar in Form eines Stempels: Arthur Holitscher, Berlin W. 15, Ludwigkirchplatz 12. Laut der Kalender wechselt Holitscher seit 1929 ständig seinen Wohnsitz: im Kalender aus dem Jahr 1929 wird neben Berlin auch Philadelphia angegeben. Nachdem er seinen Wohnsitz am Ludwigkirchplatz aufgegeben hat, erscheint in den Kalendern der Jahre 1932 und 1933 der Samuel Fischer Verlag als Adresse. Laut der Kalender finden wir Holitscher 1932 in Berlin, Paris und Zürich, 1933 verbrachte er in Ascona, Zürich, Paris und Locarno, 1934 ist er vorwiegend in Zürich, aber für kürzere Zeit auch in Ascona, Paris und Lugano. Seit 1935 ist er in Ascona, der letzte Kalender gibt das Casa Bellaria aus Ascona als Adresse an.

In dieser Zeitspanne lebte Holitscher unter relativ guten finanziel-len Umständen, er war auch als Schriftsteller anerkannt. Obwohl er im Jahre 1925 mehrere Reisen nach Osten unternommen hat (Reise durch Ceylon, Indien, China und Japan, s. noch sein Buch: Das unruhige Asien) und so auch als Reiseschriftsteller tätig war, können wir sein Leben als ausgeglichen bezeichnen. Die inneren (psychischen) und die äußeren (finanziellen und politischen) Umstände haben zu einer Veränderung der Lebenssituation Holitschers geführt. Deswegen finden wir auf dem ersten Blatt der Kalender von 1932 bis 1938 verschiedene, manchmal sogar mehrere Adressen, je nachdem, in welchem Land, in welcher Stadt Europas er seinen Wohnsitz hatte.

Das Jahr 1932 war sehr chaotisch für Holitscher. Wir finden auf der ersten Seite des Kalenders noch den Stempel mit seinem Namen und sei-ner Berlisei-ner Adresse. Weil er Deutschland erst am 21. März verlassen hatte (s. den Eintrag dieses Tages: Abschied), war diese Adresse noch gül-tig. Auf der ersten Seite finden wir noch zwei weitere Adressen: Paris, Noémi Kordics

Victoria Palace Hotel, Rue Blaise Desgoffe, bzw. Zürich, Schwesternhaus v.

Roten Kreuz. Diese zwei Adressen bedeuten die anderen Wohnsitze von Holitscher im Jahr 1932, genauer: in Paris wohnte er zwischen dem 22.

März und dem 16. August, in Zürich ab dem 17. August. In der Zeit der Pariser Aufenthalt besuchte er auch die ungarischen Emigranten, wie Mihály Károlyi, György Bölöni, Lajos Hatvany, Gyomay. Dann fuhr er nach Zürich, wo er bis am Ende des Jahres blieb. Wegen seiner Augenkrankheit hatte er in der Schweiz mehrere Operationen gehabt.

Wir wissen aus seinen Lebenserinnerungen, dass er schon vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten (und nicht nach der Machtübernahme, wie in vielen Lexiken steht!) Deutschland verlassen hatte, und sein Leben – wie ganz viele von seinen Zeitgenossen, wie etwa Thomas Mann, Kurt Tucholsky, Ernst Toller u. a. – im Exil weiterfüh-ren musste.2

Diese veränderte Situation hat auch ganz viele existentielle Probleme verursacht. Holitschers Bücher wurden in Deutschland ver-brannt. Im Exil war die Gelegenheit des Publizierens nicht immer gesi-chert. Hier sollen wir unbedingt erwähnen, dass Holitscher sich schon vor dem Zweiten Weltkrieg von bestimmten Gesellschaftsgruppen Deutschlands isoliert hat, und solche politische Themen in seinen Werken behandelt hat, die für viele unangenehm waren. Schon viel frü-her, im Jahre 1928 erscheint der zweite Band seiner Lebensgeschichte, welcher einen großen Skandal ausgelöst hat. Wegen der politischen Brisanz und der persönlichen Geständnisse, die sich in diesem zweiten Band seiner Memoiren befinden, hat sich Samuel Fischer geweigert, das Werk zu publizieren. Aus diesen Gründen hat der Verleger Samuel Fischer sein zweites autobiographisches Werk Mein Leben in dieser Zeit.

Der „Lebensgeschichte eines Rebellen“ zweiter Band (1907–1925) nicht veröf-fentlicht, und so ist es bei dem Verleger Gustav Kiepenheuer in Leipzig erschienen. Kurz nach der Veröffentlichung wurde aber der Vertrieb ver-boten.

Über die Beziehung zu seinem Verleger Samuel Fischer finden wir mehrere Einträge in den Kalendern. In den Jahren von 1923 und 1928 ist diese Beziehung der beiden noch sehr freundschaftlich, sie können sehr gut zusammen arbeiten. In den Kalendern dieser Jahre finden wir ganz viele Einträge, die über die regelmäßigen Konsultationen der beiden berichten. Diese waren meistens persönliche Besprechungen, während der Zeitgeschichte und eigenes Schicksal

vielen Auslandsreisen von Holitscher standen die beiden im Briefkontakt miteinander, auch die Telefonate und der Telegrammverkehr der beiden sind in den Einträgen der Kalender sehr gut dokumentiert. Mit der Zeit aber – ganz genau mit dem Jahr 1928 – kann man einen Bruch in der Beziehung zwischen Fischer und Holitscher beobachten. Am 31. August 1931 steht ein Eintrag im Kalender, der schon das Ende einer Zusammenarbeit markiert: fischer verschiebt „mfr“, also Fischer verschiebt die Veröffentlichung seines neuen Romans Ein Mensch ganz frei.

Hier soll nur ein Zeugnis aus seinem zweiten autobiographischen Werk stehen, um seine Isolation besser verstehen zu können. Auch wenn diese Aussage sehr stark die Zeichen der Selbstrepräsentation an sich trägt, doch reflektiert sie die ganz komplizierte Lage von Holitscher sehr anschaulich:

Ich bin Ungar, Jude, Sozialist, verkehre nicht bei Einflussreichen, bitte nie-mand um eine Gunst, bemühe mich um Nienie-mandes Gunst und Liebe, nicht um Gerechtigkeit für mich und sage mir: es sei Pflicht der Berufenen, Gutes und Richtiges als solches zu erkennen, Pflicht ihnen zur Wirkung auf die im allgemeinen instinktlose Masse zu verhalfen.3

Auf der ersten Seite des Kalenders aus dem Jahre 1933 finden wir wieder mehrere Adressen: Zürich, Schwesternhaus von Roten Kreuz; Ascona, Casa Bellaria; Zürich, Hotel Habis Royal; Locarno, Hotel Metropole. Dieses Jahr ist das Jahr der Machtübernahme von Hitler in Deutschland und eine ganz schwierige Periode für Holitscher auch, der immer wieder über die poli-tische Situation in Deutschland und in der Welt reflektiert.

Obwohl Holitscher im Jahr 1934 mehrere Reisen nach Frankreich (Paris), Wien, Ascona und Lugano unternommen hatte, finden wir auf der ersten Seite des Kalenders aus diesem Jahr nur die Unterschrift von Holitscher und nur eine Orts- und Zeitangabe: Zürich, 6. 1. 34.

Mit der Zeit sind die Möglichkeiten des Autors immer geringer geworden, die Pläne für eine längere Reise, vielleicht nach den USA (Kalifornien) sind nur Träume geblieben. Die Kalender-Einträge berich-ten sehr präzis, manchmal sogar zu präzis über die finanziell-exisberich-tentiel- finanziell-existentiel-le Lage von Arthur Holitscher. Die finanzielfinanziell-existentiel-le Lage des Autors ist so schlecht geworden, dass er sich keine längere Reise und keinen längeren Aufenthalt in Frankreich, England, Belgien oder Ungarn mehr leisten Noémi Kordics

konnte. So finden wir im Jahr 1935 nur eine Adresse in seinem Kalender:

Ascona, Tessin, Schweiz. Das bedeutet aber keine Sicherheit oder die gefun-dene Heimat im Exil, sondern genau den Gegenteil: in Ascona fühlte sich Holitscher wie in einem Gefängnis. Die zahlreichen Einträge berich-ten über diese elende Situation eines Menschen, der krank, verlassen, sogar vergessen in einem fremden Land leben, weiterleben soll. Er macht ständig Pläne für das Überleben, obwohl diese nur als Selbstermutig-ungen funktionieren, sie sollen die NeigSelbstermutig-ungen zum Suizid vertreiben.

Die letzten drei Jahre vermitteln ein sehr trauriges Bild über den totalen körperlichen und psychischen Abbau eines Menschen. Hier haben wir aber mit einem solchen Schriftsteller zu tun, der auch in die-sen Jahren die Möglichkeiten des Selbstausdrucks sucht. Immer wieder umsonst, denn die „Wohltäter“ sind nicht mehr zu finden, die Freunde sind immer weniger geworden, oder wie Holitscher selbst in einem Eintrag formuliert: „Das Ende fängt an.“

Ascona, die kleine Stadt im Kanton Tessin, wurde für einige Jahre zum Wohnsitz von Holitscher. Er lebte hier wirklich im Exil, und hat ganz viel über dem Emigrantendasein nachgedacht. So finden wir die Adresse Ascona, Casa Bellaria wieder auf der ersten Seite seiner Kalender aus den Jahren 1936, 1937 und 1938. Die Zahl der Einträge aus diesen Jahren ist immer geringer, das Schreiben konzentriert sich nur auf die Reflexion und auf die Tagebuchaufzeichnung am Ende des jeweiligen Kalenders.

Die Notiz-Kalender berichten über das Leben von Arthur Holitscher sehr authentisch, detailliert, und lassen einen Menschen ganz frei vor uns stehen, der aber von bestimmten, für uns alle sehr gut bekannten menschlichen Schwächen nicht frei war, der aber die für ihn gültigen Normen immer aufzubewahren versuchte.

Eine ganz andere Funktion und ein ganz anderer Charakter haben die Kalender aus dem Jahre 1925. Aus diesem Jahr haben wir sogar zwei Kalender, der erste ist ein eigentlicher Notiz-Kalender, der zweite aber, weil Holitscher gerade in diesem Jahr eine Reise nach Osten unterge-nommen hat, ein Reisekalender. Dieser Reisekalender gilt als Ausgangspunkt für den Reisebericht des Autors, der auch in Buchform unter dem Titel Das unruhige Asien beim Fischer Verlag erschienen ist.

Mit diesem Buch und mit der Beziehung zwischen dem Buch und dem Reisekalender beschäftigt sich Andreas Herzog in seinem Aufsatz Zeitgeschichte und eigenes Schicksal

‚Writing Culture’. Poetik und Politik. Arthur Holitschers Das unruhige Asien.4

Der Aufbau der 17 Kalender weist auch einige Unregelmäßigkeiten auf, das heißt, dass sie am Anfang einen rein informativen Charakter haben, später werden sie aber auch mit Reflexionen ergänzt. So enthal-ten die Kalender von 1923 bis 1931 nur die verschiedenen täglichen Einträge, die eine sehr strenge Chronologie und Objektivität haben; aber die Kalender von 1932 bis 1938, die natürlich die Chronologie und Sachlichkeit auch behalten, sind am Ende mit sehr reflexiven, tagebuch-artigen Aufzeichnungen versehen.

Anspielungen auf die traurige Situation des Autors finden wir auch in einem Eintrag vom 25. Dezember 1932. Holitscher war damals schon seit dem 21. März weg von Deutschland, und findet seine eigene Situation als höchst tragisch, als Exil. In der Tabelle am Anfang steht ein Eintrag: „Ich möchte wissen, warum für unsereinen die Unruhe nie Aufhört?“

Ganz am Ende des Kalenders steht eine sehr merkwürdige „Bilanz“, die sehr kurz und bündig über die wichtigsten persönlichen Probleme dieser Periode im Leben von Holitscher spricht:

1932 / Januar 1933

Schwester vom Roten Kreuz, Zürich 7.

4 operationen beider Augen.-Reduktion Reserven, um 213.-Ratlosigkeit, wohin, was anfangen.-Fischer fast

Filmverhandlungen

0.-Gesundheit endgültig erschüttert.-Freundesbriefe.- zaghafte neue

Liebe.-Schon 1931 finden wir einen ähnlichen Eintrag: Chaos in der Welt – Auflösung (1. August). Und am 17. August des Jahres kann man noch einen viel sagenden Eintrag lesen: Am Rande der Gemütskrankheit, – Hoffnungslosigkeit, Überdruss, Unbeschlusslosigkeit (sic!).

Im Jahre 1933 ist Holitscher noch in Ascona. Dieses Jahr bedeutet eine starke und eindeutige Zäsur im Leben des Autors, er selbst verwen-det das Wort ‚Zäsur’ mehrmals im Kalender von 1933. Zwischen dem 9.

Januar und dem 21. Februar ist er in Ascona, er wohnt bei den Noémi Kordics

Schwestern vom Roten Kreuz, dann unternimmt er eine Reise nach Zürich, wo er nur eine kurze Zeit vom 22. bis zum 27. Februar bleibt.

Von Zürich fährt er nach Paris, dort verweilt er vom 28. Febr. Bis am 21.

August. Er trifft sich in Paris mit den Persönlichkeiten der ungarischen Emigration, wie Bölöni, Lengyel, Itóka und Gyomay. Der Eintrag vom 5. März berichtet über die politischen Geschehnisse in Deutschland:

Wahlen Deutschland. Sieg Nationalsozialisten. (Im Kalender steht an der Stelle des Wortes ‚Nationalsozialisten’ nur ein Hackenkreuz.)

Zwischen dem 29. – 31. August ist er wieder in Zürich, er beantragt hier an dem Ungarischen Konsulat als ungarischer Staatsbürger den Pass, dann fährt er nach Locarno und Ascona. In Ascona trifft er sich mit G.

Pohl, Löwenthal und Max Adler. Zu dieser Zeit arbeitet er an seinem Asconaromanund bis zum 16. September schreibt schon 54 Seiten. Am 23. Oktober finden wir im Kalender und auch in der Tabelle am Anfang des Kalenders einen ganz merkwürdigen Eintrag: Heimatgefühl Ascona, bzw. in der Tabelle Heimat Ascon.!! Schmerzen! Im Kalender finden wir auch Einträge über die finanziellen Probleme von Holitscher, am 2.

November zum Beispiel: Unruhe, letzte 2000. Über seinen unsicheren Status kann man hier einen weiteren Eintrag aus diesem Jahr zitieren:

„Das elende Gefühl, mehr Herr seiner Handlungen zu sein, mehr gehen können wohin will!“ (29. November 1933.)

In den Jahren zwischen 1932 und 1938 verliert er seine Freunde.

Dieser Prozess der Vereinsamung ist schon früher begonnen: 1926 stirbt Rilke, 1929 stirbt auch Hofmannsthal, 1931 stirbt Schnitzler, am 9.

Dezember 1933 nimmt er an der Beerdigung von Stefan George in Minusio teil, 1934 sterben Samuel Fischer und Oscar Cohn, 1935 Magnus Hirschfeld, 1936 Kurt Tucholsky und Karl Kraus, 1937 Alfred und Max Adler und Eleonora Kalkowska. Eine ganze Epoche verschwin-det endgültig, auch deswegen fühlt sich Holitscher immer einsamer und verlassen.

Das Verhältnis der Kalender zu den autobiographischen Werken von Arthur Holitscher

Die Kalender geben über das Leben des Autors sehr viele detaillierte und zuverlässige Informationen, erklären und ergänzen in vielen Hinsichten die Aussagen der beiden autobiographischen Werke, Lebensgeschichte eines Zeitgeschichte und eigenes Schicksal

Rebellen. Meine Erinnerungen und Mein Leben in dieser Zeit. So können wir zum Beispiel aus den verschiedenen Einträgen aus den 20er und 30er Jahren erfahren, dass Holitscher seine Beziehungen zu Ungarn und Budapest gar nicht aufgegeben hatte, als er 1907 nach einem langen Budapester Aufenthalt nach Berlin übersiedelte, wie darüber seine Lebenserinnerungen berichten. In den 20er und 30er Jahren trifft er sich mehrmals mit den Vertretern der ungarischen Emigration in Wien und in Paris, so z. B. mit Oszkár Jászi, Anna Lesznai, György Lukács, Béla Balázs, Andor Gábor, in Paris mit dem Grafen Mihály Károlyi und György Bölöni.

Aus den Notiz-Kalendern kommt auch die Tatsache zum Vorschein, dass Holitscher 1937 an dem Ungarischen Konsulat in der Schweiz die Gültigkeit seines Passes verlängert hatte. Er bleibt also unga-rischer Staatsbürger. Er starb 1941 ganz verarmt in Genf, wir können nur vermuten, dass er bis zu seinem Lebensende ungarischer Staatsbürger geblieben ist, seine Staatsbürgerschaft nie aufgegeben hat, obwohl er Ungarn nie als wahres Vaterland empfunden hat.

Die einzelnen Kalender-Einträge zeigen eindeutig den Prozess des Abbaus eines Menschen als Gesellschaftswesen, als Literat und – im engen Sinne des Wortes – als lebendiger Organismus. Die Zeichen der Alterung und die verschiedenen Krankheiten verhindern Holitscher etwas an seiner Situation zu ändern. Er ist mit der Zeit blind geworden, die Jahre zwischen 1932 und 1938 sind auch die Jahre der Krankheit.

Die Kalender-Einträge sind immer wieder von Berichten über die politische Lage Deutschlands und Europas durchgedrungen: so finden wir z. B. am 30. Januar 1933 den Eintrag „Hitler Kanzler“, und am Ende des Kalenders auch eine wiederholte Beschäftigung mit dieser Tatsache.

Natürlich enthalten diese Kalender nicht nur Einträge über den aktuellen Stand der Arbeit an verschiedenen Werken, Reflexionen über bestimmte kulturelle und politische Ereignisse der Zeit, sondern manch-mal auch zu detaillierte Informationen über das alltägliche Leben des Autors mit sehr intimen Einzelheiten: am Ende dieser Kalender finden wir sogar verschiedene Berichte über das Liebesleben von Holitscher, aber zu dieser intimen Sphäre gehören auch die Einträge, die Listen (s.

Kasse am Ende einzelner Kalender) über verschiedene Einkäufe. Die Kalender enthalten persönliche Notizen und Termine über Ausgaben für Fahrkarten, Trinkgelder sogar, persönliche Einkäufe und Geschenke, Noémi Kordics

sowie über die jeweiligen Bestände der Kasse, Wechselkurse wie über den gesamten Briefwechsel und Telegrammverkehr Holitschers.

Man kann beim Lesen dieser Liste mit dem Einkommen und Ausgaben die Frage stellen, warum Holitscher so regelmäßig solche Listen geführt hat? Die Antwort bekommen wir aus seinen Lebenserin-nerungen, wo er darüber spricht, dass er ganz große Ängste vor der Verarmung hat. Die Angst vor der Verarmung ist das typische Kennzeichnen der bürgerlichen Gesellschaft, deren Werte Holitscher im Laufe seines Lebens ständig kritisiert hatte, durch seine Erziehung aber bis zu seinem Lebensende nach deren Maßstäbe gelebt hat.

Mit der Hilfe der Kalender lässt sich genau feststellen, wann und wie lange Holitscher gereist ist, wo er seine Aufenthaltsorte gehabt hat, womit er sich in Städten wie Wien, München, Berlin, Paris oder Zürich beschäftigt hat, mit welchen Freunden, Literaten und Künstler er sich getroffen hat. Wir können mit der Hilfe der Einträge die Entstehungs-zusammenhänge einzelner Werke von Holitscher in Betracht ziehen, was und wann er geschrieben hat, bei welchem Verleger er sein Buch zu ver-öffentlichen beabsichtigt hat. Auf dieser Weise erfahren wir aus den Kalendern vieles über seine Beziehung zu dem ebenso aus Ungarn stam-menden Verleger Samuel Fischer. Natürlich steht uns hier in dieser Hinsicht auch der Briefwechsel der beiden zur Verfügung.

Er hat 1923 mit 54 Jahren das Schreiben der Kalender begonnen und 1938 mit 69 (3 Jahre vor seinem Tod) den letzten Eintrag geschrie-ben. Diese Periode umfasst auch die politischen Ereignisse des Zweiten Weltkrieges, die eine Reihe von Katastrophen mit sich gebracht hat. In seinen Aufzeichnungen über den Krieg und über die eigene Lebenssituation verschmelzen sich Weltgeschichte mit der eigenen Geschichte eines Menschen, so können wir dadurch die äußere Tragödie auch durch die eigenen, subjektiven Erlebnisse betrachten.

Als Fazit kann man feststellen, dass die Notiz-Kalender einen wesentlichen Teil des Nachlasses von Holitscher bilden, und als solche können diese unser Wissen über Holitschers Lebensweg und schriftstel-lerische Tätigkeit mit relevanten Aspekten ergänzen. Bei der Erforschung der Memoiren Holitschers aus kultur- und literaturgeschichtlichen Sicht sollen die Notiz-Kalender zusammen mit seinem Briefwechsel als unent-behrliche Kontrastmaterialien betrachtet werden.

Zeitgeschichte und eigenes Schicksal

Anmerkungen

1Siehe dazu noch: Szász, Ferenc:Disszimiláció a magányba. Arthur Holitscher magy-arországi német író életútja a pesti virilista családtól a genfi szegényházig. [Manuskript].

1Siehe dazu noch: Szász, Ferenc:Disszimiláció a magányba. Arthur Holitscher magy-arországi német író életútja a pesti virilista családtól a genfi szegényházig. [Manuskript].