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Ein Dialog oder ein unauflösliches Spannungsfeld am Beispiel der Novelle Stefan Zweigs

Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau

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In den beiden Novellenbänden Amok. Novellen einer Leidenschaft (1922) und Verwirrung der Gefühle(1927) wendet sich Stefan Zweig ausschließlich dem gesellschaftlich verpönten Thema der Leidenschaft zu. Die Vorliebe des Schriftstellers für die Schilderung der Leidenschaft lässt sich durch sein Leiden an der doppelbödigen Moral und Sittlichkeit des 19. Jahrhunderts erklären, in welcher er aufgewachsen ist. Auch der Einfluss Sigmund Freuds auf den Schriftsteller, vor allem die epochenspezifische Überschät-zung der Sexualität durch den Psychoanalytiker, ist als Erklärung für das Hauptthema der Zweigschen Novellistik nicht auszuschließen.

Während Zweig im ersten Novellenband die Leidenschaft mit der Gefühlsfähigkeit überdurchschnittlicher Menschen gleichsetzt2, erscheint sie im zweiten durch den unüberbrückbaren Zwiespalt zwischen Verstand und Gefühl ins Tragische gewandelt.3Sie bringt den Menschen von seiner geregelten Lebensbahn ab und stürzt ihn ins Unglück und ins Verderben.

Gerade die Schilderung der triebhaften und vernichtenden Macht der Leidenschaft führte dazu, dass der Novellenband Verwirrung der Gefühle (1927) die Aufmerksamkeit sowohl des psychoanalytischen Kreises wie auch des Schöpfers der Psychoanalyse auf sich lenkte.4

Die Novelle Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Fraustammt aus dem Band Verwirrung der Gefühle(1927). Auch in ihr verwendet Zweig wie in der Novelle Der Amokläuferoder in der Schachnovelledie Form der Rahmennovelle. Einem Ich-Erzähler, der seine psychologische Neugier kaum bezwingen kann und der deswegen mit dem Schriftsteller selbst gleichzusetzen ist, wird mit rückhaltloser Offenheit die Geschichte einer Leidenschaft anvertraut.

Im Falle der Novelle Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Fraubietet der Rahmen den eigentlichen Anlass zum Erzählen der Titel gebenden Binnengeschichte.

Im Jahre 1904 bricht am Tisch einer kleinen Pension an der fran-zösischen Riviera eine erbitterte Diskussion über ein kurz zuvor stattge-fundenes Ereignis aus. Die Frau eines Fabrikanten verließ ihren Gatten und ihre beiden Töchter zugunsten eines jungen, gutaussehenden Franzosen, den sie einen Tag vorher kennengelernt hatte.

Die „durchaus bürgerliche Tischgesellschaft“5, vertreten vor allem durch ein deutsches und ein italienisches Ehepaar, weist die Möglichkeit entschieden zurück, dass „jenes zweistündige abendliche Gespräch auf der Terrasse und jener einstündige schwarze Kaffee im Garten genügt haben sollten, um eine etwa dreiunddreißigjährige, untadelige Frau zu bewegen, ihren Mann und ihre zwei Kinder über Nacht zu verlassen und einem wildfremden jungen Elegant auf das Geratewohl zu folgen“6. Sie nimmt vielmehr eine „perfide Täuschung“ und „ein listiges Manöver des Liebespaares“7an.

Demgegenüber vertritt der Ich-Erzähler gerade die Wahrscheinlich-keit eines solchen Ausbruchs einer Frau aus einer jahrelang enttäuschen-den und langweiligen Ehe und hebt die Tatsache hervor, „dass eine Frau in manchen Stunden ihres Lebens jenseits ihres Willens und Wissens geheimnisvollen Mächten ausgeliefert sei“8.

Die Diskussion, die auszuarten droht, wird durch das Eingreifen einer vornehmen siebenundsechzigjährigen englischen Dame, Mrs. C.s, beendet. Sie richtet sich mit der Frage an den Ich-Erzähler, ob er tatsäch-lich glaube, dass eine Frau zu Handlungen fähig sei, die sie eine Stunde vorher für unmöglich gehalten hätte und für die sie kaum verantwort-lich gemacht werden könne. Der Ich-Erzähler bestätigt dies. Seine Weigerung, in diesem Falle zu urteilen oder zu verurteilen, zeugt von der toleranten Haltung eines Menschen, der die Handlungen eines anderen aufgrund von dessen unbewussten Regungen nicht als moralisch verwerf-lich einordnet.

Die Duldsamkeit, die Zweig vor den Regungen des Unbewussten bekundet, lässt an die wiederholten Mahnungen Freuds denken, der seine Schüler dazu aufforderte, in der Analyse Toleranz walten zu las-sen.9Gleichzeitig zeugt aber der Respekt des Schriftstellers, den er einem Menschen entgegenbringt, der sich mutig seiner Leidenschaft ausliefert, anstatt sie zu unterdrücken und zu beherrschen, von dessen Faszination von Individuen, die eine überdurchschnittliche Gefühlsintensität aufwei-sen. Zweig plädiert damit für das Ausleben der unbewussten Regungen Beate Petra Kory

und Triebe. Dies steht im Widerspruch zu Freuds Auffassung. Der Psychoanalytiker forderte die Bewusstmachung der unbewussten Triebe und empfahl im Anschluss daran ihre normale Unterdrückung, also die Diszplinierung des Affektes.10

Diese tolerante Haltung des Ich-Erzählers lässt ihn in den Augen der englischen Dame zum geeigneten Zuhörer werden, dem sie eine Episode ihres Lebens anvertrauen möchte, die sie „seit mehr als zwanzig Jahren innerlich quäl[t] und beschäftig[t]“11. Die Dame erhofft sich von dem In-Worte-Fassen dieser Lebensepisode einem unbekannten Menschen gegenüber das Aufhören der unablässigen Selbstanklagen, zumal ihr als Anhängerin der anglikanischen Konfession der Trost der Beichte versagt bleibt.

Die Ähnlichkeit dieses Sich-von-der-Seele-Redens mit der psycho-analytischen Situation wird durch die Bitte des Ich-Erzählers hervorge-hoben: „Aber was Sie erzählen, erzählen Sie sich und mir ganz wahr“12. Auf diese Bitte geht Mrs. C. auch ein, wenn sie zugibt: „Die halbe Wahrheit ist nichts wert, immer nur die ganze.“13

Eine Analogie zur psychoanalytischen Sitzung wird auch dadurch hergestellt, dass Zweig die Schwierigkeiten der Dame, mit dem Erzählen zu beginnen, aus dem Ringen eines großen Widerstandes mit einem star-ken Willen erklärt. Die Lehre vom Widerstand ist einer der Haupt-bestandteile des psychoanalytischen Lehrgebäudes.14 Der Arzt hat die Aufgabe, den Widerstand des Patienten gegen die Bewusstwerdung des Verdrängten niederzukämpfen und diesen dadurch zur Preisgabe seines innersten Geheimnisses zu veranlassen.

Die Episode, welche die englische Dame erzählt, bezieht sich auf einen einzigen Tag ihres Lebens. In ihrem zweiundvierzigsten Lebensjahr gelangt die verwitwete Frau und Mutter zweier Söhne, die verzweifelt nach „äußeren Reizmittel“15sucht, um der Langeweile und einer peini-genden inneren Leere zu entfliehen, in ein Kasino in Monte Carlo. Hier beobachtet sie mangels eigener Gefühle die Gesichter und Hände der spielenden Menschen. Ihr verstorbener Mann, dessen private Leiden-schaft die Chiromantie war, hat ihre Aufmerksamkeit auf das besondere Benehmen der Hände gelenkt. Während der Mensch darauf bedacht ist, das Mienenspiel seines Gesichts zu beherrschen, vernachlässigt er es, seine Hände im Zaum zu halten und gibt dem aufmerksamen Beo-bachter durch ihre unbewussten Gesten seine innersten Regungen preis.

Literatur und Psychoanalyse

Bei ihrem perspektivischen Blick lediglich auf die Hände auf dem Roulettetisch wird sie zweier Hände gewahr, die sich durch den Ausdruck intensivster Anspannung, krass von den anderen abheben:

Und da sah ich – wirklich, ich erschrak! – zwei Hände, wie ich sie noch nie gesehen, eine rechte und eine linke, die wie verbissene Tiere ineinanderge-krampft waren und in so aufgebäumter Spannung sich ineinander und gegeneinander dehnten und krallten, dass die Fingergelenke krachten mit jenem trockenen Ton einer aufgeknackten Nuss.16

Als sie ihren Blick schließlich auch zu dem Gesicht des Menschen emporhebt, erschrickt sie erneut, „denn dieses Gesicht sprach dieselbe zügellose, phantastisch überspannte Sprache wie die Hände, es teilte die gleiche entsetzliche Verbissenheit des Ausdrucks mit derselben zarten und fast weibischen Schönheit.“17

In dem Augenblick, da der junge Mann mit einem einzigen Ruck vom Tisch aufsteht, so dass der Stuhl hinter ihm krachend zu Boden pol-tert und er den Spielsaal taumelnd verlässt, versteht die Frau sofort, dass er so nur in den Tod gehen kann. Sie wird unbewusst in den Strudel sei-ner Leidenschaft hineingerissen:

Aber dann riss es mich fort, ich musste ihm nach: ohne dass ich es wollte, schob sich mein Fuß. Es geschah vollkommen unbewusst, ich tat es gar nicht selbst, sondern es geschah mit mir, dass ich, ohne auf irgend jemanden zu achten, ohne mich selbst zu fühlen, in den Korridor zum Ausgang hinlief.18 An dieser Stelle stockt sie zum ersten Mal in ihrem Bericht, um den mög-lichen Beweggründen ihrer unbewussten Handlung nachzuspüren. Sie schließt ein Gefühl der Verliebtheit vollkommen aus und führt den Zwang, diesem jungen Menschen zu folgen, auf eine Mischung von Neugier und „Angst vor etwas Entsetzlichem“ zurück, auf ein Gefühl, das sie „unsichtbar von der ersten Sekunde an um diesen jungen Menschen wie eine Wolke gefühlt hatte“. Der magische Zwang ist dem-nach nichts anderes als „die durchaus instinktive Geste der Hilfeleistung, mit der man ein Kind zurückreißt, das auf der Straße in ein Automobil hineinrennen will“19.

Beate Petra Kory

Suggestiv für das nachfolgende Geschehen erweist sich die Analogie mit der instinktiven Hilfe von Nicht-Schwimmer, die einem Ertrinkenden von einer Brücke nachspringen. Gerade so wie Stürzende den Helfenden mit sich reißen, gerät auch die Frau in den Bann der Leidenschaft dieses jungen Mannes und handelt innerhalb dieses Bannkreises unbewusst wie eine Schlafwandlerin.

Ein zweites Mal hält Mrs. C. in ihrem Bericht inne, nachdem sie dem Ich-Erzähler mitgeteilt hat, dass sie dem jungen Mann auf sein Hotelzimmer gefolgt ist. Der Kampf um Leben und Sterben, der sich nachts zwischen ihr und dem jungen Mann in diesem Hotelzimmer abspielt, vermittelt ihr eine Ahnung von den dämonischen Mächten des Daseins, in welche sie sonst nie Einblick gewonnen hätte.

Der Höhepunkt der Novelle beschreibt das Glücksgefühl der Frau am Morgen, als sie die entspannten knabenhaften Gesichtszüge des jun-gen Mannes sieht, den sie vor dem Tod gerettet hat. Sie fühlt sich wie eine Mutter, die ein Kind „in das Leben zurückgeboren hatte“20. Dieser Höhepunkt wird durch wirkungsvolle Kontraste in Szene gesetzt. Das stürmische nächtliche Gewitter hat sich ausgetobt und ein neuer, in sei-ner Reinheit erstrahlende Tag bricht an. Riviera-Landschaft und Seelenlandschaft stimmen miteinander überein, vereinen sich zu einer Feier der Dankbarkeit, die mit dem Schwur des jungen Mannes in einer Kirche, seiner Spielleidenschaft Herr zu werden, abgeschlossen wird.

Doch der Wendepunkt der Novelle bringt den jungen Mann wieder an den Roulettetisch zurück.

Von einer Verabredung mit Verwandten aufgehalten, gibt Mrs. C.

dem Mann das versprochene Geld für die Fahrkarte und für die Auslösung des Schmuckes, den er von seiner Tante gestohlen hat. Doch dieser fährt mit dem Geld nicht ab, sondern geht ins Kasino, wo ihn die Frau wieder antrifft, die aus Verzweiflung über seine Abfahrt, noch ein-mal jede Minute des vergangenen Tages in ihrer Erinnerung auffrischen möchte.

Ihrem Versprechen treu, sich selbst und dem Zuhörer nichts vorzu-enthalten, legt sie einen ihrer verschwiegensten Wünsche offen, nämlich an der Seite des jungen Mannes geblieben, mit ihm bis an das Ende der Welt gegangen zu sein, im Falle dass er sie dazu aufgefordert hätte.

Dieser war jedoch von seiner Spielsucht dermaßen gefangen genommen, dass er die ihm Helfende gar nicht als Frau wahrnahm. Die Literatur und Psychoanalyse

Enttäuschung der Frau über die Fügsamkeit des jungen Mannes, der sich nicht dagegen auflehnt, Monte Carlo allein mit dem Zug zu verlassen, wird auf ihren Höhepunkt getrieben, als sie erkennt, dass ihr Opfer nutz-los war und es ihr nicht gelungen ist, den Menschen seiner Spielleidenschaft zu entreißen. Entrüstet über ihre Versuche, ihn vom Spieltisch wegzureißen, wirft ihr der junge Mann das Geld vor die Füße und demütigt sie vor allen Leuten.

Das Scheitern ihres Hilfeversuchs, bei dem sie sich ohne zu überle-gen mit Leib und Seele eingesetzt hat, prägt der ganzen Episode den Stempel „einer tollen und wahnwitzigen Leidenschaft“21auf, von der sie sich hat willenlos treiben lassen. Sie fühlt sich von einem Unwürdigen geschändet.

Am Ende ihres Berichts wird die Analogie zur Rahmenhandlung hergestellt, denn diese Episode aus dem Leben der englischen Dame bestä-tigt die Auffassung des Ich-Erzählers, dass eine Frau sich zu Handlungen kann hinreißen lassen, die sie nie für möglich gehalten hätte. An dieser Stelle wird auch die Funktion der Rahmenhandlung deutlich, nämlich zur Toleranz gegenüber den unbewussten Regungen aufzufordern. In der Novelle erscheint die Leidenschaft in ihrer ganzen Ambivalenz. Einerseits ist sie eine positive Kraft mit der Fähigkeit, aus der alltäglichen Monotonie und Seichtheit der Gefühle herauszureißen. Die englische Dame erlebt ihr Abenteuer „als einen Akt der Befreiung von ihrem bishe-rigem gefühlsarmen und konventionellen Leben und als einen Durchbruch zu den Quellen des Lebens selbst“22. Einer gefühlisch erstarr-ten Welt, die sich in Konventionalität und Heuchelei erschöpft, wird die Intensität des Gefühls entgegengesetzt, die auch dann bewundernswert ist und Respekt für sich beansprucht, wenn sie den Menschen irreleitet.

Andererseits aber erweist sich die Spielleidenschaft des jungen Polen als eine destruktive Macht, die sein Leben zerstört.

Die letzten Worte der englischen Dame bestätigen die heilende Kraft der Selbstaussprache: Der auf der Seele lastende Bann und „die ewig rückblickende Starre“23werden gelöst und der Hass gegen den ande-ren und gegen sich selbst verflüchtigen sich. Die Reflexion über die Vergangenheit verhindert ihre Wiederkehr. Darin liegt auch der Endzweck der Psychoanalyse.

Die Ähnlichkeit dieser Beichte mit der psychoanalytischen Situation liegt auf der Hand. Daher verwundert es auch nicht, dass Freud Beate Petra Kory

gerade auf diese Novelle aufmerksam wurde und sie zusammen mit der Titelnovelle des Bandes Verwirrung der Gefühle(1927) als ein Meisterwerk betrachtete.

Freud spricht über diese Novelle Zweigs sowohl in seinem an den Schriftsteller gerichteten Brief vom 4. September 1926, als auch in seiner Studie über Dostojewski Dostojewski und die Vatertötung(1928).

Er geht jedoch nicht zweckfrei an den literarischen Text heran. Für ihn reduziert sich der Wert der Literatur auf die Bestätigung seiner psychoanalytischen Theorien. Dies betont er auch ausdrücklich, wenn er in dem Brief an Zweig präzisiert, dass alles, was er sage, analytisch sei und keinen Versuch darstelle, der Schönheit der Dichtung gerecht zu werden.24Dadurch grenzt er seine psychoanalytische Perspektive auf die Dichtung streng von jener des Schriftstellers ab und entgeht somit ganz besonders taktvoll dem möglichen Missverständnis, ein literarisches Urteil der Novelle geben zu wollen.

Ausgehend von den Analysen, die er an seinen Patienten durchge-führt hat, vermutet der Psychoanalytiker, dass sich auch die vom Dichter behandelten Probleme und Situationen auf eine kleine Anzahl von

„Urmotiven“ zurückführen lassen, die aus dem verdrängten Erlebensstoff des Kinderseelenlebens stammen. Er sieht in der Novelle Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau einen „unbewussten Kern“ „in tadelloser Verkleidung zum Ausdruck gebracht“. Dabei ist es für ihn von Bedeutung, sich im Gespräch mit Zweig davon überzeugt zu haben, dass der Schriftsteller von diesem geheimen Sinn seines Textes nichts gewusst und ihn trotzdem verhüllt zum Ausdruck gebracht hat.

Bevor er diesen unbewussten Kern der Novelle nennt, äußert Freud die Vermutung, dass Zweig eine solche Deutungsmöglichkeit nicht anerken-nen oder sogar verabscheuen werde. Er schickt auch die Warnung vor-aus, dass dieser unbewusste Kern unverblümt ausgesprochen abstoßend wirke.25

Freuds psychoanalytische Deutung lautet wie folgt:

Das Motiv ist das der Mutter, die den Sohn in den Sexualverkehr durch Preisgabe ihrer eigenen Person einführt, um ihn vor den Gefahren der Onanie zu retten, die dem Kinde riesengroß lebensbedrohlich erscheinen.

[…] In der poetischen Bearbeitung muß die Onanie als völlig unbrauchbar durch anderes ersetzt werden, in Ihrer Novelle ist das Spiel der richtige Literatur und Psychoanalyse

Ersatz. Die Zwanghaftigkeit, Unwiderstehlichkeit, die Rückfälle trotz der stärksten Vorsätze, die Lebensbedrohung sind direkt Züge des alten Vorbildes [der Onanie, Anm. d. Verf.] […] – und die bei Ihnen mit so unheimlicher Meisterschaft durchgeführte Betonung der Hände und ihrer Tätigkeit ist geradezu verräterisch. […] In Ihrer Novelle ist die Sohnesrolle des jungen Spielers so unverkennbar angedeutet, dass es schwer wird zu glauben, Sie hätten keine bewußte Absicht befolgt. Ich weiß aber, daß es nicht so war und daß Sie Ihr Unbewußtes haben arbeiten lassen.26 Für Freud hat demnach die Spielsucht in der Novelle nur die Funktion des Ersatzes für eine andere, wie er sagt, „poetisch unbrauchbare“ Sucht.

„Zwanghaftigkeit, Unwiderstehlichkeit, die Rückfälle trotz der stärksten Vorsätze, die Lebensbedrohung“, die er als spezifische Merkmale der Onanie anführt, sind aber ganz allgemeine Charakteristika jeder Sucht.

Schlüssige Argumente für die Eingrenzung der Novelle auf die Perspektive der Sexualität sind für ihn die meisterhafte Beschreibung der Aktivitäten der Hände und die von Zweig hergestellte Analogie zu einer Mutter-Sohn-Beziehung.

Betrachtet man die Zweigsche Novelle aus literarischer Sicht so darf man die Spielsucht nicht als Ersatz für etwas anderes sehen, sondern muss ihr ihre eigenständige Berechtigung zusprechen. Seit dem Jahre 1980 ist das „pathologische Glücksspiel“ als eigenständiges Störungsbild anerkannt und in die internationalen psychiatrischen Klassifikations-systeme aufgenommen worden.27

Es wird zu den Impulskontrollverlust-Störungen hinzugerechnet. In Deutschland leiden mindestens 30.000 Menschen an pathologischer Spielsucht.28

Allerdings spricht für Freuds Sichtweise, dass Zweig das Entstehen der Spielsucht psychologisch unzureichend motiviert. Notfalls kann diese Unterlassung mit der Perspektive der Dame entschuldigt werden, die nur das weitergibt, was ihr der junge Pole mitgeteilt hat. Ihr geht es um die Aufschlüsselung der eigenen Gedanken und Gefühle in Bezug auf diese Lebensepisode und nicht um die Ausleuchtung der Hintergründe, die zur Enstehung der Spielsucht geführt haben.

Der letzte Teil der Novelle, als Mrs. C. dem jungen Mann wieder im Kasino begegnet, bietet eine eindringliche Schilderung der Verhal-tensweisen eines süchtigen Glücksspielers. Gerade dieser Teil der Novelle Beate Petra Kory

plädiert dafür, dass es dem Schriftsteller um die Glücksspielsucht an sich ging. Außerdem taucht die Spielleidenschaft in mehreren Novellen Zweigs auf. In Unvermutete Bekanntschaft mit einem Handwerkbeschreibt er die Gefahren des Handwerks eines Taschendiebs. Der Protagonist der Novelle Phantastische Nachtwettet bei einem Pferderennen und verstrickt sich demzufolge in Leidenschaft und Schuld. Auch in der letzten Novelle Zweigs Schachnovelle geht es um Spielleidenschaft, nämlich um eine „Schachvergiftung“.29

Die vielfältigen Aktivitäten der Hände ausschließlich auf die Praktiken der Masturbation einzugrenzen, ist eine für die Freudsche Psychoanalyse typische sexuelle Verengung des Blickwinkels.

Die Betonung der unbewussten Bewegungen der Hände motiviert Zweig selbst in der Novelle, wenn er erklärt:

Aber gerade, weil alle ihre Aufmerksamkeit sich krampfig konzentriert, ihr Gesicht als das Sichtbarste ihres Wesens zu bemeistern, vergessen sie ihre Hände und vergessen, dass es Menschen gibt, die nur diese Hände beobach-ten und von ihnen alles errabeobach-ten, was oben die lächelnd gekräuselte Lippe, die absichtlich indifferenten Blicke verschweigen wollen.30

Daher erweist sich die Konzentration eines begabten Psychologen auf die unbewussten Bewegungen der Hände als sinnvolle und aufschlussreiche Arbeitsmethode. Diese setzt Zweig auch in seiner Biographie Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt (1936) ein, um aus der Beschreibung der Hände des Reformators Schlüsse auf seinen Charakter zu ziehen.31

Die unbewussten Impulse, durch welche die Frau in den Sog der Leidenschaft gerät, und die in der Novelle stufenweise aufgeschlüsselt werden, bestimmt Freud durch den Inhalt des Textes näher als „unbe-wusste Libidofixierung der Mutter an den Sohn“32. Die Frau könne gegen diese Impulse nicht ankämpfen und unterliege ihnen schließlich, gerade weil sie ihr nicht bewusst seien.

Es erweist sich aber aus literarischem Standpunkt vollkommen

Es erweist sich aber aus literarischem Standpunkt vollkommen