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Theorien und Forschungsmethoden

3. Was ist Verstehen?

Das Wort „Verstehen“ hat nach dem freien Wörterbuch Wiktionary fünf Bedeutungen:

1. von etwas den Sinn erfassen 2. etwas hören

3. sich gut mit jemandem vertragen 4. etwas gut können

5. für etwas Einsicht zeigen.

Es ist klar, dass wir in diesem Fall die erste Bedeutung brauchen. Mit dem Prozess des Verstehens beschäftigen sich mehrere Wissenschaften, wie z.B. die Psychologie, die Textlinguistik und Psycholinguistik, die Überset-zungswissenschaft, die Kommunikationslehreund die Hermeneutik.

Etelka Joó

Verstehen kann nicht allein auf psychologische Prozesse reduziert werden. Vielmehr muss es als ein komplexes soziales und kognitives Geschehen zwischen den Kommunikationspartnern begriffen werden.

Die Literatur ist eine spezielle Art der Kommunikation. Die Kommunikation setzt das Verstehen voraus. Es ist nämlich das Ziel jeder Kommunikation, verstanden zu werden. Verstehen ist ein mentaler Konstruktionsprozess, der von der Zeichenebene ausgeht, und durch wis-sensbasierte Inferenzen (Schlussfolgerungen) angereichert wird. Ziel des Verstehensprozesses ist die Herstellung lokaler und globaler Kohärenz. Dabei spielt das Vorwisseneine wichtige Rolle. Dieses Vorwissen existiert nach Bußmann in der Form von Schemata, die im Verstehensprozess aktiviert und mit den Inhalten des Textes verbunden, bzw. auf diese Inhalte bezo-gen werden. Dies bedeutet, dass Textverstehen im Wesentlichen ein Rekonstruktionsprozess ist. Dies nannte Dilthey Hineinversetzten, Nach-bilden, Nacherleben.

Verstehen geschieht auf mehreren Ebenen, wie die linguistische, inhaltliche, ästhetische und die pragmatische Ebene. Wenn man einen Text sprachlich oder inhaltlich verstanden hat, ist noch nicht sicher, dass er ihn auch pragmatisch versteht, z.B. im Fall der Ironie.

Das Textverstehen kann die Aktivierung von entsprechenden Schemata fördern. Nach der Schementheorie ist das Lesen eine Wechselwirkung zwischen unseren Sprachkenntnissen und unserem Weltwissen. Die Struktur des Schemas macht es möglich, die neue Information mit den vorhandenen Informationen zu vergleichen. Dies geschieht beim Verstehen und beim Lernen.

Auch die Übersetzungswissenschaft untersucht den Prozess des Verstehens. Rosch (1973) sagt etwas Ähnliches, wie Bußmann und Dilthey: sie spricht über das prototypische Denkenund sie gibt dem Begriff

“Verstehen“ eine tiefere Bedeutung. Das Verstehen ist nämlich nicht die pure Auffassung des wortwörtlichen Textes und der grammatischen Strukturen, sondern viel mehr: der gedankliche Inhalt, das Begreifen der Aussage, die zugleich Teil einer Soziokultur ist. Ihre Thesen haben Snell-Hornby und Vannerem (1994) weiterentwickelt.

Das prototypische Denken bedeutet, dass die Erfassung der Bedeutung so geschieht, wie bei den Kindern, wenn sie ihre Muttersprache erlernen.

Zuerst lernen sie den Prototyp der Gegenstände, Sachen, Personen in ver-schiedenen Situationen kennen. Dann erfolgt die Abstraktion, und Bildung und Weltwissen

danach wird die abstrahierte Bedeutung in einer neuen Situation verwen-det. Bei dem Textverständnis spielt auch diese Erscheinung eine Rolle.

Die Kohärenz des Textes ist nichts anderes als der Aufbau einer Szene in uns, aufgrund der bereits existierenden Prototypen, Erfahrungen, Kenntnisse, oder mithilfe unserer Phantasie. Deshalb ver-steht jeder Mensch das gleiche Wort oder den gleichen Text ein bisschen anders, weil das Verstehen eigentlich die Schaffung einer neuen Textwelt ist. In diesem Prozess verwirklicht sich das holistische Prinzip, nach dem das Textganze nicht die pure Addition seiner Teile, sondern eine höhere Qualität, eine Syntheseist.

Ein anderer Wissenschaftszweig ist die Hermeneutik. Sie ist die Lehre vom Verstehen, Deuten oder Auslegen, und existiert schon seit dem Altertum. Der Name stammt vom griechischen Wort „hermeneuein“ mit den Bedeutungen: (Gedanken) „ausdrücken“, (etwas) „interpretieren“,

„übersetzen“. In der Antike und im Mittelalter des Christentums diente die Hermeneutik als Wissenschaft und Kunst der Auslegung (Exegese) grundlegender Texte, wie z.B. die Bibel. In der Neuzeit entwickelte sie sich zu einer Lehre der Interpretation und zu einer Philosophie des

"Verstehens". Wichtige Zweige der Hermeneutik sind die theologische, die juristische, die philologischeund die historische Hermeneutik.

Der einflussreichste Vertreter der philosophischen Hermeneutik im 20. Jahrhundert ist Hans Georg Gadamer, der das Problem des Verstehens nicht aus der Sicht des Verfassers oder des Textes, sondern aus der des Empfängers betrachtete. Nicht nur die Intentionen und die Formulierung des Textes sind beim Prozess des Verstehens entscheidend, sondern auch der Leser oder Hörer, der mit seiner Sprachkompetenz, Bildung, mit seinem Weltwissen den Text empfängt und interpretiert.

Der Leser oder Hörer ist Mitgestalter des Textes, demzufolge kann ein Text nie beendet werden: ein Werk ist nicht abgeschlossen, wenn es der Autor beendet hat. Zu jeder Zeit und jedem Menschen sagt derselbe Text etwas anderes: der Text beginnt selbständig zu leben. (Der alte Spruch hat viel Wahrheit in sich: „Die Bücher haben ihr Schicksal.“)

Gadamer spricht über die hermeneutische Differenz oder Distanz.

Dieser Begriff macht auf ein Grundproblem aller sprachlichen Kommunikation aufmerksam: Das, was verstanden, bzw. gedeutet wer-den soll, ist zunächst fremd, distanziert, und muss erst im Verstehens-prozess, bzw. im Deutungsakt „angeeignet“ werden. Hermeneutik findet Etelka Joó

demnach, einer berühmten Formulierung von Hans-Georg Gadamer fol-gend, zwischen Fremdheit und Vertrautheitstatt.2

Man kann drei verschiedene Varianten der hermeneutischen Differenz unterscheiden:

a. die linguistische Differenz – Verstehen und Auslegung setzten die ent-sprechende Sprachkompetenz voraus. Deshalb ist die Übersetzung von Werken in eine andere Sprache einerseits Voraussetzung der Inter-pretation, aber sie ist auch selbst schon ein interpretierender Akt.

b. die historische Differenz – Sie fällt oft als erste auf und bedeutet erheb-liche Schwierigkeiten für Textverständnis und Interpretation: Jeder ein-mal fixierte Text altert nämlich unaufhaltsam – die historische Differenz zwischen ihm und dem (gegenwärtigen) Interpreten wächst ständig.

Verständnisschwierigkeiten entstehen in sprachlicher Hinsicht (z.B. ver-altete Wörter und Ausdrucksformen, Bedeutungsänderungen,) wie in sachlicher (z.B. Fakten, Namen, Zusammenhänge, die einer Erklärung bedürfen).

c. die poetologisch/rhetorische Differenz – sie ist besonders für die lite-raturwissenschaftliche Hermeneutik relevant. Besonders (aber nicht nur) dichterische Texte benutzen solche Ausdrucksformen, z.B. rhetorische Mittel, deren Funktion und Bedeutung der Leser erkennen muss, wenn er den Text verstehen will. Die obigen Differenz-Komponenten können vielfach ineinander spielen, wie z.B. in der Bibel.

Auch für unseren Text sind diese Differenzen charakteristisch, vor allem die historische, aber auch die linguistische Differenz.

Von der ersteren lässt sich sagen, dass sie vor unseren Augen pro-blematisch geworden ist: was für meine Generation noch Wirklichkeit war – nämlich die Existenz der DDR –, wurde für die späteren Gene-rationen immer abstrakter. Sie kennen sie nur noch vom Hörensagen oder von Geschichtsbüchern, wenn überhaupt. Die DDR und ihre Literatur bedeuten für uns die nahe Vergangenheit, für die heutige Studentengeneration aber nur ein historisches Gebilde, von dem sie nichts wissen, und auch nichts wissen wollen. Dies ist gut daran zu erkennen, was ich vorhin über die Themenwahl gesagt habe. Auch die linguistische Differenz spielt hier eine gewisse Rolle, da die Studenten diese Novelle nicht in ihrer Muttersprache, sondern deutsch lesen müs-sen, aber sie ist leicht zu lemüs-sen, enthält keine schwere Lexik und keine komplizierten Satzkonstruktionen. Einige Schlüsselworte, wie z.B.

Bildung und Weltwissen

„Klassenfeind“, „internationale Friedensgrenze“ (Mauer), „drüben“ kön-nen als historische, aber auch als linguistische Differenzen aufgefasst werden.

4. Konklusion

Kehren wir zu unserer ursprünglichen Frage zurück! Woran liegt es also, dass diese Novelle immer weniger verstanden wird? Ist die Schule schuld daran, weil sie den Schülern das Lesen nicht richtig beibringt, oder weil sie die Geschichte der nahen Vergangenheit nicht unterrichtet? Liegt es an den Studenten, weil ihre Sprachkompetenz nicht genügend ist, oder ihre Hintergrundkenntnisse fehlen? Sind sie faul, nachzuschlagen, oder über gewisse Fragen gar nachzudenken? Fehlt ihnen die Fähigkeit, selb-ständig, das heißt, ohne die Krücke des Internets und der Fachliteratur ihre Meinung zu formulieren? Ich würde sagen: alles zusammen.

Sicherlich ist die DDR mit der Zeit immer ferner, und es ist eine Generation erschienen, die keine unmittelbaren Erfahrungen darüber hat. Aber wir haben vorhin gesagt: das Verstehen bedeutet auch Hineinversetzten, Nachbilden, Nacherleben (Dilthey), anders formuliert:

Zum Verstehen braucht man auch Phantasie.

Es scheint so, als wenn die heutigen Kinder und Studenten keine rege Phantasie hätten. Es kommt wiederum daher, dass sie nicht gern, oder gar nicht lesen. (Wenn man nicht kann, dann liest man auch nicht gern. Das ist ein Teufelskreis.) Wenn man nur (gute oder schlechte) Verfilmungen, Bilderromane oder Computerspiele sieht, statt zu lesen, wird man keine Phantasie haben. Hineinversetzen, Nachbilden, Nacher-leben: dies alles ist eine geistige Arbeit. Man muss sich Mühe geben, sich anstrengen, um etwas zu verstehen. Es ist auch die Frage der Einstellung, der Lebensauffassung. Und die neue Generation ist gewöhnt, alles fertig zu bekommen. Kein Zufall, dass das Bildungsniveau und das allgemeine Weltwissen der heutigen Studenten viel niedriger sind, als das der Generation vor 10–15 Jahren. Wenn diese Tendenz weitergeht – und sie wird weitergehen, solange die geschäftliche Betrachtungsweise im Bildungswesen vorherrschend bleibt – haben wir, Lehrer immer weniger Hoffnung, die Literatur den Studenten näher zu bringen und sie zum Leser deutschsprachiger Werke zu erziehen.

Etelka Joó

Anmerkungen

1 Brautfahrt. Geschichten über Begegnungen. Eine Anthologie. Berlin und Weimar:

Aufbau-Verlag, 1984.

2 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. 3. Aufl. Tübingen: J.C.B. Mohr, 1972, S. 279.

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