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„An eine vortreffliche schöne und Tugend begabte Jungfraw“

In document 34 . Budapest 1999 (Pldal 131-141)

Untersuchung eines Gedichts.

Literaturwissenschaft hat es mit Texten zu tun. Das ist in unseren theorie­

süchtigen Zeiten keine banale Feststellung, sondern zuweilen schon fast eine notwendige Erinnerung. Genaues In-Augen-schein-Nehmen, Überprüfen, Ausmessen und Abklopfen eines dichterischen Wortgebildes sollte Basis des Begreifens und Deutens sein, von Versdichtung zumal. Erst dann mag Theo­

rie vom Zügel gelassen werden.

Schauen wir uns unter dieser Prämisse einen Text an, ohne zunächst über dessen Verfasser und seine Entstehungszeit etwas Näheres zu sagen!

Hier der Wortlaut in einer zeitgenössischen Wiedergabe:

An eine vortreffliche schöne vnd Tu=

gend begabte Jungfraw 1.

Gelbe Haare, güldene Stricke, Tauben=Augen, Sonnen=

blicke, schönes Mündlein von Corallen, Zähnlein, die wie Perlen fallen

2

.

Lieblichs Zünglein in dem Sprachen, süsses Zörnen,

süsses Lachen, Schnee= vnd Lilgen weisse Wangen, die voll rohter Rosen hangen.

3.Weisses Hälßlein, gleich den Schwanen, Aermlein, die mich recht gemahnen, wie ein Sehne, der frisch gefallen, Brüstlein wie zween Zucker=Ballen.

Lebens voller Alabaster, grosse Feindin aller Laster; 4.

frommer Hertzen schöner Spiegel, aller Freyheit güldner Zügel.

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Außbund aller schönen Jugend, auffenthaltung aller Tugend, Hoff=statt aller edlen Sitten, jhr habt mir mein Hertz bestritten.

Was haben wir vor uns? Eine bedeutende dichterische Leistung? Ein origi­

nelles Produkt? Eine Talentprobe? Zu welcher Gattung wäre der Text zu rechnen? Aus welcher Zeit könnte er stammen? Und wenn es sich offenbar um den Lobpreis eines weiblichen Wesens handelt: ist er vielleicht, erleb­

nishaft getönt, ein Liebesgedicht? Was macht seine Eigenart aus? Wer könn­

te der Autor sein?

Beginnen wir mit dem Äußerlichsten, mit der Schreibweise des Texts! ,Jung- fraw“, „Lilgen“, „Hertzen“, „roht“, „Sehne“, „Freyheit“, „Außbund“, „auff­

enthaltung“, „Hoff==statt“, „jhr“: das ist typographisch altertümlich, auf das 16. oder 17. Jahrhundert deutend und - bis auf „Freyheit“ - in der Mitte des 18. Jahrhunderts in deutschen Texten nicht mehr zu erwarten. Alter­

tümlich ist auch das „v“ statt eines „u“ im „vnd“ der Überschrift, altertüm­

lich ferner der Doppelbindestrich („Tauben=Augen“, „Zucker=Ballen“), der, typisch für die Schreibung eiens Kompositums in der Barockzeit, höch­

stens noch um die Mitte des 18.Jahrhunderts in deutschen Texten zu beob­

achten wäre. Auffallend daneben übrigens auch die Trennung eines Kom­

positums ohne Bindestriche in „Lilgen weisse“ und „Tugend begabte“.

Als altertümlich ist aber gleichzeitig die Sprache, das sprachliche Geba­

ren überhaupt, zu qualifizieren. „Außbund aller schönen Jugend“: diese Hyperbel wäre in neueren Texten nur noch ironisch verwendbar. Und „auff­

enthaltung“ für Sitz, Ort, Aufenthalt? Das Substantiv tirtt alt-ehrwürdig da­

her. — „Zween“ statt „zwei“, „Zören“ statt Zürnen, „Schwanen“ mit fehlen­

dem Umlaut statt „Schwänen“, — auch darin manifestiert sich älterer Sprach­

gebrauch. Und ganz altertümlich-ungewöhnlich präsentiert sich ein Wort in der ersten Zeile der zweiten Strophe: „Lieblichs Zünglein in dem Sprachen“.

Das Sprachen? Der Sprachen? Hier hilft nur ein Blick ins Grimm’sche Deut­

sche Wörterbuch. „Sprachen“ erweist sich dort als ein substantivierter Infini­

tiv für das Verbum Sprachen gleich Sprechen, Reden, Sich unterhalten. So heißt es etwa, im „Grimm“ als Beispiel angeführt, in Georg Rollenhagens

„Froschmäuseler“ vom Ende des 16.Jahrhunderts: „... und dergleichen man­

cherlei Sachen, / die zu lang sind zu unserm Srachen“.1 Unser Text findet sich nicht unter den Beigen des Deutschen Wörterbuchs. Den typographi­

schen und sprachlichen Befunden nach muss er jedenfalls älteren Datums sein. Wie aber steht es nun mit dem Versmaß? Ganz offenkundig handelt es sich um ein Gedicht, — ein Gedicht von 5 Strophen im Metrum des vier- hebigen Trochäus. Dabei sind die einzelnen Verszeilen nicht, wie im

allge-5.

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meinen üblich, auch typographisch zu Zeilen angeordnet, nur die Strophen sind von einander abgesetzt und überdies numeriert. Die vierhebigen Tro­

chäen aber erweisen sich in allen Versen als vollständig, d.h. der jeweilige Verausgang ist unverkürzt, — „akatalektisch“, wie der Metriker sagt. Die Verse fießen in regelmäßigem Wechsel von Hebungs- und Senkungssilben, wobei der natürliche Wortakzent stets mit der metrischen Hebung zusam­

menfällt. Handwerklich ist das Gedicht also „einwandfrei“ und regelmäßig gebaut.

Dieser Befund aber lässt zugleich Rückschlüsse auf die Zeit der Gedicht­

abfassung zu. Denn das Versifizieren war im deutschprachigen Bereich nicht immer so geregelt, daß natürlicher Wortakzent und metrische Hebung zu­

sammenfielen. Einige Zeit lang galt vielmehr das romanische „alternieren­

de“, d.h. silbenzählende Prinzip; noch Hans Sachs hat so gedichtet. Und in der Antike hatte zudem das „quantitierende“ Prinzip gegolten: man unter­

schied nicht betonte und und unbetonte Silben, sondern lange und kurze,

„natura“ oder „positione“ lange und kurze Silben, was zusätzlich bei huma­

nistisch gebildeten deutschen Autoren Verwirrung stiftete. Es war Martin Opitz, der dem alternierenden bzw. silbenzählenden und dem quantitie- renden Versbau-Verfahren im deutschsprachigen Raum ein Ende machte und stattdessen das „akzentuierende“, der natürlichen Wortbetonung fol­

gende Prinzip als das der deutschen Sprache angemessene postuliert hat.

Er tat das in seiner Poetik, dem Buch von der Deutschen Poeterey von 16242, - mit solcher Autoriät, daß man tatsächlich für die deutsche Versdichtung an metrischen Kriterien erkennen kann, ob sie vor oder nach Opitz’ Poetik verfasst wurde. Georg Rudolf Weckherlin beispielweise hat seine Oden und Gesänge von 1618 später, nach 1624, Opitz’ Anweisungen folgend, metrisch umgearbeitet.

Wir dürfen nach dem metrischen Befund ziemlich sicher sein, daß das Ge­

dichten eine vortreffliche schöne vnd Tugend begabteJundfraw nach 1624 nieder­

geschrieben worden ist.

Was wäre zu den Reimen des Gedichts zu sagen? „Spiegel“ und „Zügel“ in Strophe 4 konstituieren fraglos einen „unreinen“ Reim, wie ihn strenge Kunst­

richter, auch Opitz, verwarfen. Doch durfte derartiges als läßliche Sünde gelten. Im übrigen reimt das Gedicht völlig korrekt. Die Reime sind durch­

gehend paarig angeordnet. Und die 5 Strophen sind durchgehend gleich gebaut: je zwei gereimte Doppelzeilen im vierhebigen Trochäus bilden eine Strophe. Der Text ist also von daher „handwerklich“ nicht zu beanstanden.

Wie aber steht es mit dem Rhythmus? Metrum und Rhythmus, daran wäre zu erinnern, sind nicht dasselbe. Das Metrum ist das zugrundeliegende — hier trochäische - Versschema, der Rhythmus konstituiert sich in der

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sehen Ausfüllung dieses Schemas. Und die erweist sich hier als keineswegs ganz gleichförmig, - was eher von Vorteil ist: der einzelne Vers kann durch Einschnitte („Zäsuren“) vor eintönigem Leiern bewahrt werden. In den er­

sten drei Strophen unseres Gedichtes sind diese Einschnitte durch Komma­

ta kenntlich, wobei diese Einschnitte wechseln, einmal nach dem zweiten, einmal nach dem dritten Verstakt statthaben. Die Stropen 4 und 5 dagegen weisen im Versinneren keine Zäsuren mehr auf, die Verse laufen gleichför­

mig parallel auf den Schluß zu. Das wirkt beschleunigend. Strophe 3 weist zudem ein Enjambement auf („... die mich recht gemahnen/wie ein Sehne...“).

Der Effekt des Beobachteten: ein peinlich gleichmäßiges Leiern ist vermie­

den. - Hinzu kommen schließlich leichte „Tonbeugungen“: vom Gehalt­

lichen her eingentlich zu betonende Silben stehen in metrischen Senkungs­

stellen, - so in Strophe 2 „voll“, in Strope 3 „zween“, in Strophe 5 „habt“.

Dies letzte Tonbeugung sorgt zugleich für Nachdrücklichkeit in der Schluß­

zeile des Gedichts.

Die nächste Überlegung: wie nimmt sich das Gedicht nun eigentlich ins­

gesamt syntaktisch aus? Zu konstatieren ist: alle Verse und zugleich alle Strophen sind auf die Schlußzeile des Ganzen zugeordnet. Es handelt sich - über alle fünf Strophen hin - um Subjekte und Attribute, die aneinander­

gereiht und zum Teil durch Relativsätze erweitert sind, und sie sind alle bezogen auf den abschließenden Prädikatsatz „jhr habt mir mein Hertz be­

stritten“. Das Gedicht hat also, wenn man so will, eine Pointe.

Liedhaft ist das eigentlich nicht zu nennen, und schon gar nicht ist es locker abgefasst wie etwa ein Volkslied. Der Text ist vielmehr streng durchkom­

poniert in der gehaltlichen Abfolge seiner Strophen. Keine der Strophen 1 bis 4, die ja grammatisch ganz gleichartig sind mit Subjekten und Attribu­

ten bzw. erweiternden Relativsätzen, wäre unter einander zu vertauschen, ohne die Konsequenz der Beschreibung zu stören. Es ist offenkundig: die Würdigung der schönen und tugendbegabtenjungfrau beginnt mit dem Preis der Schönheiten und Reize des Hauptes, um sich zu verbinden mit dem Preis seelischer Anmut und sodann - sozusagen von oben nach unten - weiterer körpelicher Reize und weiterer weiblicher Tugenden, bis die 5. Strophe alles resümierend - auch grammatisch - zusammenfasst: „jhr habt mir mein Hertz bestritten.“. - Das Gedicht ist damit ganz klar gegliedert.

Befassen wir uns mit Einzelnem, - mit Kunstmitteln und bestimmten Spe- zifica des Textes! „Mündlein“, „Zähnlein“, „Zünglein“, - das sind Diminu­

tive, die an die Manier des Volkslieds erinnern. Doch von seiner ganzen Struktur her ist der Text, wie schon gesagt, nicht volksliedhaft. Er erweist

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sich vielmehr als äußerst künstlich. - Eigenartig nimmt sich für den heuti­

gen Leser das „gelbe Haare“ aus. Er würde „blond“ als Farbbezeichnung erwarten. Doch ist „blond“, aus dem Französischen entlehnt, erst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in deutscher Dichtung gebräuchlich. Und „güld- ne Stricke“ als Apposition zu „gelbe Haare“? Die Bezeichnung erscheint uns heute ein wenig gesucht mit der Bedeutung „bestrickend“, „fesselnd“

„umgarnend“. - Die M etapher „Tauben=Augen“ nimmt sich dagegen we­

niger künstlich aus, eher konventionell metaphorisch für sanfte Augen. Das Nebeneinander mit „Sonnen=Blicke“ ergibt einen gewissen antithetischen Reiz.

Und die sonstige Methaphorik und Vergleichstechnik? Korallenmund, Per­

lenzähne, schneeweiße und lilienweiße Wangen, Wangen voll roter Rose, schwanenweißer Hals, schneeweiße Arme: das ist durchweg alles andere als charakterisierend oder realistisch individuell beschreibend. Das Gedicht verfährt klar typisierend, idealisierend, wobei es sich oft konventioneller Bildlichkeit und fester Topoi bedient. Die berufenen Eigenschaften derjung- frau können idealtypisch gennant werden. Entfaltet wird, mit ausgesuchter Künstlichkeit, ein weiblicher Schönheitskatalog, wobei dem Verfasser mit

„Brüstlein wie zween Zucker=Ballen“ ein besonders artifizieller Vergleich gelingt: dieser spielt auf die gewölbte Form der damaligen Zuckerhüte an und kombiniert das mit der Vorstellung von Süßem. — Konventionell ist der Schönheits-Jugend- und Tugendpreis: Jugend und Tugend und Schönheit sind vereint. Die besungene Jungfrau verkörpert idealtypisch das, was ähn­

lich einst das Minneideal von „schoene und guete“ ausmachte.

Die Farbigkeit: „gelbe“, d.h. blonde bzw. „güldne“ Haare, korallenroter Mund, perlenweiße Zähne, schnee- und lilienweiße und rosenfarbige W an­

gen, schwanenweißer Hals, schneeweiße Arme: nirgends ein individuell- charakeristischer, vom Idealtypischen abweichender Zug! - Rhetorisch wird das gern in Parallelismen vorgestellt: „Gelbe Haare, güldne Stricke“, „Süsses Zör- nen, süsses Lachen“: Substantiv mit Attribut neben Substantiv mit Attribut!

Aber auch die umgekehrte Stilfigur, der Chiasmus, wird genützt: „grosse Feindin aller Laster,/ frommer Hertzen schöner Spiegel“: Substantiv mit Genetivattribut und Genetivattribut mit Substantiv! Der Dichter beherrscht sein Handwerk.

Die in Barocklyrik gern exerzierte Antithetik findet sich in unserem Text nur im Gegenüber von „Zörnen“ und „Lachen“ in der Strophe 2, sie ist aber durch die den beiden Substantiven beigegebene Bestimmung „süß“ entschärft, wobei „süsses Zörnen“ wiederum zugleich ein reizvolles Oxymoron ergibt.

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Vielleicht ist übrigens aus „Lebens voller Alabaster“ in Strophe 4 als Oxy­

moron ansprechbar - im Sinn von: lebendige Marmorstatue.

Das in barocker Verskunst oft zu beobachtende Prinzip der Häufung ist, wenn man so will, in der Aufzählung der vielen verschiedenen Qualitäten der besungenen Schönen, ansonsten nur in der Wangenkennzeichnung „Schnee vnd Lilgen weiss“.

Wie wäre nach alledem der Stil unseres Gedichts zu qualifizieren? Schlicht ist er sicher nicht und volksliedhaft erst recht nicht, — aber übersteigert, gar

„schwülstig“, wie manches Urteil barocker Verskunst zu attestieren belieb­

te, ist der Text nun auch wieder nicht. Sicherlich, eine gewisse Hyperbolik tritt zutage: „grosse Feindin aller Laster“, „aller Freyheit güldner Zügel“

(wobei „Freyheit“ hier Frechheit, Ungezogenheit bedeutet), „Außbund al­

ler schönen Jugend“, „Auffenthaltung aller Tugend“. Gleichwohl exzelliert der Autor hier nicht in Wortprunk, er gefällt sich nicht in Spitzfindigkeit, in angestrengter Artistik, wie das etwa bei Hofmannswaldau zu beobachten wäre. So verzichtet er auch auf den ganzen gelehrten Apparat, mit dem andere zeitgenössische Dichtung ideale Weiblichkeit zu rühmen wusste, - die Berufung von Dianas Keuschheit, Aphrodites Liebreiz,Junos Fülle oder auch - weniger ideal - Lunas (Selenes) Wankelmut. Der Text tritt eher ga­

lant, gemäßigt künstlich-zierlich einher, wohl dem seit der Renaissance ent­

wickelten Elegantia-Ideal verpflichtet.

Ein „Erlebnis“ dahinter zu vermuten, wäre sicherlich abwegig. Das „jhr habt mir mein Hertz bestritten“ am Schluß ist Formel, nicht Konfession. Wir ha­

ben kein Seelenlied vor uns, wie es die Goethezeit hervorzubringen wusste.

Der Text ist in Diktion, Bildlichkeit, Motivik und Metaphorik durchaus kon­

ventionell, er steht in der Tradition herkömmlicher Liebesdichtung, die ge­

nuin Kunstübung war, nicht persönliches Bekentnis. Das Geliebtenpreis­

gedicht war eine eigene Gattung, so wie es die Trauerode oder das gereimte Fürstenlob oder die Vanitaspoesie gab. Es stand in ehrwürdiger Tradition, rückführbar auf die erotische Dichtung der Antike mit der Sappho, mit Ca- tull und Ovid, im Mittelalter verwirklicht im Minnesang und in der Trou- badour-Dichtung, weitergeführt und zu einem förmlichen System ausge­

baut im „Canzoniere“ des Petrarca.

Einer anderen Quelle abendländischer Liebeslyrik muß daneben freilich noch gedacht werden, die sich im Petrarkismus einiger Beliebtheit erfreute und für die Beschreibung weiblicher Schönheit musterhaft werden konnte.

Sie ist morgenländischen, genauer: biblischen Ursprungs. Gemeint ist das Hohelied Salomonis.

Hier der Text in der Übersetzung Martin Luthers (in neuerer Fassung):

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1. Siehe, meine Freudin, du bist schön! Siehe, schön bist du!

Deine Augen sind wie Taubenaugen zwischen deinen Zöpfen.

Dein Haar ist wie eine Herde Ziegen, die gelagert sind am Berge Gilead herab.

2. Deine Zähne sind wie eine Herde Schafe mit beschnittener Wolle, die aus der Schwemme kommen, die allemal Zwillin­

ge haben, und es fehlt keiner unter ihnen.

3. Deine Lippen sind wie eine scharlachfarbene Schnur und deine Rede lieblich. Deine Wangen sind wie der Ritz am Granatapfel zwischen deinen Zöpfen.

4. Dein Hals ist wie der Turm Davids, mit Brustwehr gebaut, daran tausend Schilde hangen und allerlei Waffen der Star­

ken.

5. Deine zwei Brüste sind wie zwei junge Rehzwillinge, die unter den Rosen weiden.

[...]

7. Du bist allerdinge schön, meine Freudin, und ist kein Flecken an dir.

[...]

9. Du hast mir das Herz genommen, meine Schwester, liebe Braut, mit deiner Augen einem und mit deiner Halsketten einer.

Unser Gedicht von der vortrefflichen, schönen und tugendbegabten Jung­

frau erweist sich hier in wesentlichen Zügen ganz offenkundig als weltliche Kontrafaktur zum zitierten Text aus dem Hohenliedl\ Die preisende Körper­

teilbeschreibung von den Taubenaugen und den Haaren im ersten Vers über Lippen und Wangen, Hals und Brüste bis zum „Du hast mir das Herz genommen“ im 9. Vers, — sie findet sich in unserem Gedicht deutlich wie­

der, — offenkundig ohne jeden frommen Bezug! Der biblische, von den Ex- egeten geistlich gedeutete Schönheitskatalog ist offenkundig weltlicher Hul­

digung dienstbar gemacht worden. Er war für den Verfasser offenbar ver­

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fügbar wie die weltlichen Topoi, Bilder und Schemata, die der Petrarkismus ansonsten bereitstelle.4 Der Dichter unseres Textes spielt mit dem Vorge­

gebenen, seine Leistung ist Kunstübung, Exerzitium des Witzes und der Kombiantion. Bedenken ob der Profanierung eines Textstücks aus der Heili­

gen Schrift scheinen nicht bestanden zu haben. Ja die Hohelied-Yassagen wa­

ren offenbar so sehr poetisches Spielmaterial, daß der Autor zu seinen von ihnen inspirierten Strophen gleich auch noch die Parodie liefern konnte.

Sie folgt in der Vorlage unserem Text unmittelbar.

Gegen=satz.

An eine sehr häßliche Jungfraw.

In voriger Melodey 1

.

Grawes Haar voll Läuß und Nisse, Augen von Schab=

lack, von Flüsse, blawes Maul voll kleiner Knochen, halb verrost vnnd halb zerbrochen.

2

.

Blatter=Zunge, kranck zu sprachen, Affischs =[247]zörnen, Narren=lachen, Runtzel volle mager Wangen, die wie gelbe Blätter hangen.

3.Halß=Haut gleich den Morianen, Arme, die mich recht gemahnen, wie ein Kind ins Koth gefallen, Brüste, wie zween Drucker=Ballen.

4.Du bist so ein Alabaster, als ein wolberegntes Pflaster, aller Ungestallt ein Spiegel, aller Schönen Steigebügel.

5.Schimpff derjungfern und der Jugend, Unhuld aller lieben Tugend, Einöd aller plumpen Sitten, lästu dich zum freyen bitten.

Der Gegen=satz erweist sich als genaue Umkehrung des Huldigungsgedichts ins Schimpfgedicht. Wir verzichten auf eine eingehende Analyse und kon­

statieren: der Preis weiblicher Körperschönheiten und Tugenden von den Haaren bis zum Gesamtanblick mit der „Alabaster“-M ethapher ist im

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Gegensatz verkehrt in Häßlichkeits- und Lasterhaftigkeitsschelte, das ab­

schließende Liebesbekenntnis ist durch Schimpf und Spott ersetzt.

Die Überschrift des Gegen=satzesbesagt übrigens: „in voriger Melodey“.

Offenbar dienten die Strophen also dem Gesang (was auch ihre Numerie­

rung verständlich macht), — dem Gesang in gesellschaftlicher, vielleicht stu­

dentischer (burschikoser) Runde. Wir können das nicht entscheiden.

Das Resümee: Das Ganze ist, recht gekonnt, ein Exerzitium in Poesie, - Kunstübung, ein übermütiges Gesellenstück im Dichthandwerk. Es stammt aus der Mitte des 17. Jahrhunderts. Sein Verfasser war Georg Greflinger,5 der den Text zunächst 1651 in einer Sammlung unter dem Titel Seladons weltliche Lieder. Nebst einerm Anhang Schimpfund Ernsthafter Gedichte in Frank­

furt am Main veröffentlicht hatte. Der Text figurierte dann in der Samm­

lung Venus—Gärtlein: Oder Viel Schöne, außerlesene Weltliche Lieder, allen züchti­

genJungfrawen undJungen=Gesellen zu Ehren, und durch Vermehrung etlicher newer Lieder zum andernmahl in Druck verfertigt. Gedruckt im Jahr J656“.(>

Vielleicht bietet sich unser Text nun am Ende auch zu theoretischer Re­

flexion an, und Beflissene der Gender-Forschung werden hier gewiß Indi­

zien für eine genuin maskuline Optik erkennen. Wir gedenien dies freilich nicht zu vertiefen.

Anmerkungen

1. Deutsches Wörterbuch vonJakob und Wilhelm Grimm, Bd. 16, Sp. 2744.

(Fotomechanischer Neudruck der Erstausg. 1905, München: DTV 1984) 2. Vgl. den Neudruck: Martin Opitz, Buch von der deutschen Poeterei, Ab­

druck der ersten Ausgabe (1624), Halle 1949, S. 31 ff.

3. Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten u. Neuen Testaments nach der deutschen Übersetzung D. Martin Luthers, neu durchgesehen nach dem vom Deutschen Evangelischen Kirchenausschuß genehmigten Text, Stutt­

gart 1952, S. 548f.

4. Vgl. dazu Hans Pyritz, Paul Flemings deutsche Liebeslyrik, Berlin 1932.

5. Zu Greflinger s. Gerhard Dünnhaupt, Personalbibliographien zu den Druk- ken des Barock, 2. verb. u. wesentlich vermehrte Auflage des Bibliographi­

schen Handbuchs der Barockliteratur, 3. Teil Stuttgart 1991, S. 1680-1751.

6. Wir zitieren nach der Fassung der Halleschen Neudrucke: Max Frhr. von Waldberg (Hrsg.): Venus-Gärtlein. Ein Liederbuch des XVII. Jahrhunderts, nach dem Druck von 1656, Halle 1890. Unser Text dort auf S. 178f. - Man vergleiche zur allgemeinen Thematik auch v. Waldbergs Studie „Die galante Lyrik. Beiträge zu ihrer Geschichte und Charakteristik“, Straßburg 1885.

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Peter Motzan

In document 34 . Budapest 1999 (Pldal 131-141)