Der intertextuelle Dialog der rumäniendeutschen Lyrik mit Bertolt Brecht
I.
In der zweiten Hälfte der sechzigerJahre durchzitterte ein Windhauch Hoff
nung die verödete und uniformierte Literaturlandschaft Rumäniens. 1965 war aus der Riege der kommunistischen Spitzenfunktionäre ein geradezu unorthodox junger, 47jähriger Mann namens Nicolae Ceau§escu zum Er
sten Parteisekretär aufgestiegen, der die Rolle des Hoffnungsträgers für sich reklamierte und sich als kühner Verteidiger rumänischer Interessen gegen sowjetische Hegemonieansprüche profilierte. Ein reformwilliger Sozialis
mus schien mit seinen selbstkritischen Ansätzen, innenpolitischen Locke
rungen und außenpolitischen Öffnungstendenzen auch neue Lebensper
spektiven zu eröffnen. Nur wenige sahen damals voraus, daß Liberalisie
rung im Kultursektor und populistische Anbiederung Komponenten eines machtpolitischen Kalküls bildeten, dessen Endergebnis die absolute Verfü
gungsgewalt über ein Land war.
In rascher Folge wurden mehrere Verbotstafeln beseitigt und die eng
geschnürten Schreibkonzepte des Sozialistischen Realismus als unbrauch
bar verworfen. Die Informationsschranken fielen. Ein. reiches Angebot in
ternationaler Literatur bescherte Überraschungen, beschleunigte W andlun
gen, weckte Nachholbedürfnisse. Jüngste Vergangenheit durfte als eine Ära des „Dogmatismus“ und tragischer Irrtümer kritisiert werden, die langjäh
rig vergitterten Traditionen der Zwischenkriegszeit befreite man zu neuem Leben, marginalisierte und verfemte Schriftsteller konnten wieder in Er
scheinung treten, zahlreiche junge Autoren drängten unter günstigen Publi
kationsmöglichkeiten an die Öffentlichkeit.
Auch der kleine, staatlich kontrollierte und subventionierte rumänien
deutsche Literaturbetrieb - laut der Volkszählung des Jahres 1966 lebten noch rund 383.000 Deutsche in Rumänien - war schrittweise zu einem funk
tionierenden Subsystem ausgebaut worden, das alle Elemente enthielt, aus denen sich eine literarische Kultur zusammensetzt: Verlage in Bukarest, Klausenburg und Temeswar mit einem breit aufgefächerten Programm, Zei
tungen und Zeitschriften mit umfassenden Kulturbeilagen, Rundfunk- und Fernsehsendungen, zwei Theater, in Temeswar und Hermannstadt, Autoren
vereinigungen und Literaturzirkel. Die Bukarester deutschsprachige Mo
natsschrift des rumänischen Schriftstellerverbandes Neue Literatur war mit 139
Erfolg bemüht, ihren Mitarbeiterkreis zu erweitern, sie wurde zur Stätte der Reintegration totgeschwiegener Schriftsteller, zum Übungsfeld für Neulin
ge und diente als Sprungbrett in die Verlage.
Doch schon im Juli 1971, heimgekehrt von einer offensichtlich lehrrei
chen Reise in die Bruderländer China und Nordkorea, schickte Nicolae Ceau§escu ohne Vorwarnung 17 Thesen zur Verbesserung der politisch-ideologi
schen Arbeit, der kulturellen und erzieherischen Tätigkeit in den Kampf gegen lite
rarische Vielfalt und Mehrstimmigkeit. Führungsanspruch und Weisungs
berechtigung der kommunistischen Partei sowie die Unfehlbarkeit der staats
ideologischen Doktrin wurden darin ausdrücklich bekräftigt. Auf dem Weg aus der Kommandozentrale in die kulturellen Institutionen büßten die The
sen indessen einiges an Schärfe ein. Das literarische Leben ließ sich nicht schlagartig umprogrammieren und durch einen Gewaltakt verstümmeln.
II.
Im Sommer 1970 hatte der Prosaautor Paul Schuster (geb. 1930), langjähri
ger Redakteur der Neuen Literatur, die Beilagen für Schüler und Studenten der im westrumänischen T emeswar erscheinenden Neuen Banaler Zeitung durch
forstet und in dem Aufsatz Nichtprovinzielles aus der Provinz seiner überbord
enden Begeisterung über die gemachten Entdeckungen beredten Ausdruck verliehen:
Am erstaunlichsten, geradezu phantastisch ist die große Zahl der Dichter, die auf den Seiten der Schülerbeilage zu einer Kon
kurrenz an treten, die in den letzten zwanzig Jahren innerhalb der deutschen Literatur unseres Landes nicht ihresgleichen hat [...]. 31 neue Namen in einem halben Jahr [...], und es ist kei
neswegs ausgeschlossen, daß die eine oder die andere der NBZ- Schülerseiten nachjahren bibliophilen W ert haben wird, weil in ihr das erste Gedicht eines bedeutenden Lyrikers abgedruckt wurde.1
Wenige Monate später, im Februar 1971, brachte die Neue Literatur eine aufsehenerregende Schüler-Sondernummer m it Texten von Banater Gymna
siasten heraus. Die Erfahrungsberichte, Kommentare, Reportagen, Kurz
erzählungen und Gedichte dieses Heftes zeichnen sich durch den Anspruch auf Mitspracherecht und Selbstbestimmung, durch generationsspezifische Unverblümtheit und unumwundene Kritik an bestehenden Verhältnissen aus. „So knisterte es reichlich brisant aus vielen der 128 Druckseiten der Neuen Literatur“2, vermerkte der dpa-Korrespondent Bruno Sobczak in ei
nem ausführlichen Bericht, dem ersten, den die Informationszentrale der bundesdeutschen Presse der rumäniendeutschen Zeitschrift widmete.
140
Ein Gedicht des 18jährigen Zwölftklässlers aus der Kleinstadt Großsankt- nikolaus Richard Wagner (geb. 1952) lautete:
dialektik
w i r haben die Verhältnisse erkannt
w i r haben beschlossen sie z u verändern
wir haben sie verändert dann kamen andere
die haben die veränderten Verhältnisse erkannt und haben beschlossen
sie zu verändern
sie haben die veränderten Verhältnisse verändert
dann kamen andere
die haben die veränderten veränderten Verhältnisse erkannt und haben
beschlossen sie zu verändern
s i e h a b e n d i e v e r ä n d e r t e n v e r ä n d e r t e n V e r h ä l t n i s s e v e r ä n d e r t
dann kamen andere3
Wagner greift im Titel einen Begriff in seiner marxistischen Semantik auf und aktualisiert das 3. Grundprinzip dieser zentralen Kategorie einer ma- terialistischen-gesellschaftlichen Entwicklungskonzeption — die Negation der Negation —, das von der Doktrin des real existierenden Sozialismus in ihrer nationalrumänischen Variante ausgeblendet worden war.4 Mit dem Conducator Nicolae Ceau§escu hatte der „Kampf der Gegensätze“ in einer vermeintlich unzerstörbaren höheren Einheit sein glückliches Ende gefun
den. In dem vorliegenden Text ist ein solches nicht in Sicht, soziale Prozes
se verlaufen weiterhin im Zeichen unaufhörlicher Veränderungen.
Die Revolutionärin Pelagea Wlassowa aus Twer ließ Brecht in seinem Stück Die Mutter (1931) ein Lied der Hoffnung anstimmen, das er später unter den Titel Lob der Dialektik veröffentlichte: „Wer noch lebt, sage nicht nie- mals!/Das Sichere ist nicht sicher./So, wie es ist, bleibt es nicht/W enn die Herrschenden gesprochen haben/W erden die Beherrschten sprechen [...].“5
„Dialektik“, definierte Brecht als „jene Einteilung, Anordnung und Betrach
tungsweise der Welt, die durch die Aufzeigung ihrer umwälzenden Wider
sprüche das Eingreifen ermöglicht“.6 Und hatte der Novize Richard Wag
ner nicht die Realität auf eine verkürzende Weise abgebildet, die soziale 141
Veränderungen als Ergebnis menschlicher Erkenntnis und eingreifenden Handelns interpretiert?
Wie bis dahin in keinem anderen Gedicht der rumäniendeutschen Li
teratur hat an diesem Bertolt Brecht gleichermaßen stil- und konzeptions
bildend mitgewirkt: die lakonische Diktion und das systematisch strukturier
te Kommunikationsmuster; die Raffungstechnik und der offene Schluß, der mit der Beiehrbarkeit eines mitdenkenden Lesers rechnet; der Einsatz von metonymischer statt metaphorischer Rede; der Vorrang des allgemeinen, als gesetzmäßig begriffenen Bewegungsablaufes vor dem sinnenhaft erleb
ten und unmittelbar angeschauten Weltausschnitt.
Offensichtlich haben dabei die Schlußworte des gelernten Chores aus Brechts Badener Lehrstück vom Einverständnis (1929) als unmittelbare Anregung ge
dient, zu Entlehnungen gereizt und verführt:
[...]
Der gelernte Chor
Habt ihr die Welt verbessert, so Verbessert die verbesserte Welt.
Gebt sie auf!
[...]
Habt ihr die Welt verbessernd die Wahrheit vervollständigt, so
Vervollständigt die vervollständigte Wahrheit.
Gebt sie auf!
[•••]
Habt ihr die W ahrheit vervollständigend die Menschheit verändert, so
Verändert die veränderte Menschheit.
Gebt sie auf!
[...]
Ändernd die Welt, verändert euch!
Gebt euch auf!
Auch hierin erwies sich Richard Wagner als gelehriger Schüler Bertolt Brechts, der 1929 den Vorwurf des Plagiats durch knappes Eingeständnis seiner „grund
sätzlichen Laxheit in Fragen geistigen Eigentums“8 abgewehrt und immer wieder Vorgesprochenes und Überliefertes systematisch auf seine Verwend
barkeit, seinen „Materialwert“ geprüft und ausgeschlachtet hatte.
142
Anläßlich eines Gesprächs junger Autoren, das am 2. April 1972 in der Neuen Banater Zeitung veröffentlicht wurde, erklärten sich die Diskussionsteil
nehmer, deren Durchschnittsalter knapp über 20 Jahre lag, zu Trägern ei
nes neuen Realitätsbewußtseins und breiteten ihre weitgehend angelesenen Vorstellungen von einer sozial verbindlichen und politisch engagierten, einer wirklichkeits- und wirkungsorientierten Literatur aus, in der Kunst- und Gebrauchswert als Partner zusammenfinden müßten. Eine eindeutige Vorreiterrolle wurde dabei Bertolt Brecht eingeräumt: „Brecht experimen
tiert mit den Möglichkeiten einer sozialistischen Literatur“, formulierte apo
diktisch derselbe Richard Wagner, „darum ist er die einzige Grundlage, von der man hier und heute ausgehen kann. [...] Das ist kein Dogma, son
dern eine Notwendigkeit“.9
Wenige Monate später erschien im Temeswarer Facla Verlag die „An
thologiejunger Lyrik aus dem Banat“ Wortmeldungen. Der Herausgeber Edu
ard Schneider hatte die 22 Lyriker und Lyrikerinnen gebeten, ihre „Vor
zugsautoren“ zu nennen, seinem Wunsch hatten 17 entsprochen. Neunmal wurde Bertolt Brecht und achtmal die in Bukarest lebende Dichterin Ane
mone Latzina (1942-1993) genannt. Ihr 1971 erschienener Gedichtband mit dem salopp formulierten Titel Was man heute so dichten kann{ 1971) erkundet in aufmüpfigen Texten von widerspenstiger Klarheit, die das Recht auf Un
zufriedenheit und Entscheidungsfreiheit einfordern, den realsozialistischen Alltag. Anemone Latzina war die erste rumäniendeutsche Autorin, die es verstand, die Angebote Brechts produktiv umzusetzen, indem sie Brechtsche Formen - vom parodistisch verfremdeten Lied zum epigrammatischen Gleich
nis - mit eigenen Beobachtungen und Erfahrungen füllte und mit einem Schuß schwärzlichen Humors würzte.
Einige der Koautoren der Anthologie —Johann Lippet (geb. 1951), Ger
hard Ortinau (geb. 1953), Anton Sterbling (geb. 1953), William Totok (geb.
1951), Richard Wagner und Ernest Wichner (geb. 1952) — hatten inzwischen in der Universitätsstadt Temeswar die Aktionsgruppe Banat gegründet, eine Solidargemeinschaft von Schreibenden, die wie Bertolt Brecht Gewicht auf Teamarbeit legten und sich, wohl auch in dessen Selbstverständnis, als Marxi
sten bezeichneten. Durch ihre literarischen Optionen emanzipierten sie sich von dem ideologischen Drill der Institutionen und dem Konformitätsdruck, den konservativen Wertvorstellungen und Denkweisen der Elternwelt — wie der junge Berthold Eugen Brecht. „Bertolt Brecht war der Autor, der [...]
die politischen und literarischen Diskussionen jener Zeit wie unsere gleich
zeitigen Schreibversuche am nachhaltigsten beeinflußt hat“,10 vermerkte Ernest Wichner rückblickend in dem Aufsatz Erinnerung an Landschaftsbil
der (1988).
Zur Bezugsperson wurde Bertolt Brecht auch für andere rumäniendeutsche Lyriker, vor allem für Bernd Kolf (geb. 1944), Franz Hodjak (geb. 1944),
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W erner Söllner (geb. 1951), Rolf Bossert (1952-1986) und Hellmut Seiler (geb. 1953), die sich von den Harmonieschablonen der Aufbaupoesie, von der gutgereimten Landschaftsidylle und von den Verdunkelungsmanövern der hermetischen Moderne wegschrieben.11 Auch ältere Autoren wie Franz Storch (1927-1982) und Nikolaus Berwanger (1935-1989) zollten dem Aus
druckszwang, der von den Brechtschen Schreibmustern ausging, ihren Tri
but.
III.
Der Siegeszug Brechts durch die kleine rumäniendeutsche Literaturszene vollzog sich mit einiger Verspätung, er erfolgte nicht ausschließlich im Al
leingang, war von dem anderer Autoren flankiert, die ihrerseits Brecht ver
arbeitet und weitergedacht hatten, in ein dialogisches Verhältnis mit diesem getreten waren. Sein Durchbruch als Vorbildfigur wurde gleichsam in die Wege geleitet durch einen Generationswechsel, durch kulturelle Verände
rungsbewegungen sowohl im eigenen Umfeld als auch in den beiden deut
schen Staaten. Parallel und gleichzeitig mit Brecht, der die Abwendung von der pontifikalen zur profanen Sprechweise vorantrieb, war es die Ausstrah
lung der Konkreten Poesie, vor allem die der W iener Gruppe, die zu einer spielerischen und selbstironischen Auflockerung der intendierten Botschaft, zur gezielten Zersäbelung von Sprachregelungen, zur Unterwanderung der öffentlichen Diskurse führte.
Der nach seinem frühen Tod zum Kulturdenkmal der DDR zurechtge
meißelte weltberühmte Dramatiker war in dem sozialistischen Bruderland Rumänien alles andere als ein unbekannter Autor.12 Seine Stücke wurden seit 1956 auch auf den beiden deutschen Bühnen des Landes gespielt, seine Texte hatten Eingang in die Lehrbücher der deutschen Schulen gefunden, die Brecht-Lektüre gehörte zum Pflichtpensum der Germanistikstudenten an rumänischen Universitäten. Schon 1960 war in Bukarest eine höchst ein
seitige Werkauswahl erschienen, 1970 folgte ein Band Gedichte und 1986 eine sachkundig kommentierte zweibändige Ausgabe.13 Brecht-Editionen aus DDR-Verlagen konnte man in Rumänien käuflich erwerben, zum An
gebot der Buchhandlungen in den siebziger Jahren gehörten auch seine frü
hen Tagebücher 1920-1922(1976) und das Arbeitsjournal (1977), die nun aller
dings - ebenso wie die Buckow er Elegien — mit zur folgenreichen Entdeckung eines „anderen“ Brecht beitrugen.
W ährend in der DDR die Wirkungsgeschichte der Lyrik Brechts schon in den fünfziger Jahren einsetzte14, ohne jedoch zu diesem Zeitpunkt dem dominierenden Modell Becher den Rang abzulaufen, stellte jene für die rumäniendeutsche Literatur bis zu Anemone Latzina offensichtlich keine trag- und ausbaufähige Form zeitgemäßer Poesie dar. Aussparende Argu
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mentationstechnik und unterkühlte Überzeugungsstrategien waren mit der geforderten Eindeutigkeit einer parteilich-volkstümlichen und hymnisch
feierlichen Affirmationsdichtung nicht kompatibel. Ein früher und eindring
licher Appell aus dem jahre 1958 fand in der literarischen Praxis so gut wie kein Echo. Am 21. Februar d. J. hatte der Erzähler und Publizist Hans Bergei (geb. 1925) in dem Aufsatz Das Alte und das Neue in der Lyrik eindringlich auf den innovativen Charakter von Brechts Lyrik hingewiesen:
Mehr als jemals geht es heute um neue Ausdrucksformen, weil Umbrüche hinter uns liegen, weil wir mitten in Aufbrü
chen stehen, die nicht recht mit überkommenen Formen arbei
ten können. [...]
Damit bin ich bei Bert Brecht. Denn ich bin der Meinung, daß die künstlerisch gültigste Aussage in der deutschen Spra
che unserer Tage die Lyrik Brechts ist. [...] Groß, lapidar, schmuck
los, in ihrer Sachlichkeit, fast an ein technisches Wörterbuch erinnernd, voll der Schrecken dieses Jahrhunderts, der Rück
sichtslosigkeiten, der Brutalitäten, oft furchtbar als Spiegel un
serer selbst, aber ungeheuer voll wieder einer großen, tiefen, ungespreizten Menschlichkeit, eines Willens zur Menschlich
keit, der vielleicht die kennzeichnendste Eigenheit der moder
nen Kunst überhaupt ist - wie das XX. Jahrhundert selber, so steht Brechts, im übrigen nicht nur lyrische, Sprache da [...].15 Achtzehn Jahre später hingegen teilten viele rumäniendeutsche Autoren durchaus die Meinung von Bernd Kolf. „Ich behaupte und glaube“, erklär
te dieser in seinen scharfsinnigen Zeitgemäßen Betrachtungen von Bertolt Brechts ,Gesammelten Werken1 (1976), „daß man heute Brecht gelesen haben muß.
Gilt das vor allem für Literaten, dann für alle Menschen in der Form: man sollte Brecht heute gelesen haben.“16
Und man las nicht nur die Gedichte, Dramen und Geschichten Brechts, sondern auch seine richtungsweisenden Aufsätze über Weite und Vielfalt rea
listischer Schreibweise, über Lyrik und Logik, Über Formalismus und neue Formen, Uber reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen und fand, daß Brechts Fünf Schwierigkeiten beim Sagen der Wahrheit aus dem jahre 1939 praktikable Hin
weise für das eigene Schreibprogramm auch unter „veränderten Verhältnissen“
(Richard Wagner) enthielten.
Inzwischen war Brecht längst in die Verse seiner mündig gewordenen DDR-Nachfahren „eingegangen“. „Um Brecht“, notierte der 1935 gebore
ne Heinz Czechowski, „ist wohl niemand von unserer Generation herum
gekommen — außer merkwürdigerweise Sarah Kirsch“.17 Rumäniendeutsche Autoren rezensierten des öfteren Lyrikbände dieser Generation, die Gele
genheiten zu persönlichem Meinungsaustausch wurden anläßlich von Be
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suchsreisen hier wie dort genutzt und trugen zur Erkenntnis der Gemein
samkeiten und Unterschiede bei. Nicht nur dem Lehrmeister Brecht wid
meten die deutschen Lyriker Rumäniens Gedichte, sondern auch Volker Braun, Heinz Czechowski, Reiner Kunze und W ulf Kirsten.
In der Bundesrepublik hatte in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre eine umfassende Politisierung der Literatur eingesetzt. Verstärkt strebten junge Lyriker Hinterfragung konkreter sozialer W idersprüche und Entlar
vung „falschen“ Bewußtseins an - in einer Sprache, die deren Mitteilungs
charakter und die Gegenständlichkeit des Textes rehabilitierte. Vorgeformt fand man diese Tendenz nicht zuletzt auch hier bei Bertolt Brecht. Es ist bezeichnend, daß Peter Hamm, der 1966 in der auch in Rumänien viel ge
lesenen Anthologie Aussichten junge Lyriker des deutschen Sprachraums vorstellte, in seinem Nachwort-Essay Die Wiederentdeckung der Wirklichkeit18 wiederholt auf Brecht verweist und ihn als theoretischen Vordenker und ästhetischen Wegbereiter „realistischer“ Poesie häufig zitiert.
Als solchen empfanden ihn nun auch viele rumäniendeutsche Autoren.
Anhand ihrer Reflexionen über Brecht und ihres Umgangs mit Brechttex
ten lassen sich zwei miteinander verzahnte Kapitel deutscher Lyrik in Ru
mänien - die zum Großteil von denselben Dichtern geschrieben wurden - wie in einem Brennspiegel bündeln und fassen. Schon die eingegrenzte Form des innerliterarischen Dialogs, wo der Bezug zwischen Prätext und Folge
text im praktizierten Verfahren der Intertextualität19 erkennbar bleibt, do
kumentiert den Wandel von der Annahme und Umsetzung der Brechtschen Vorschläge zur Abstandnahme, ja zur Zurücknahme, zur Ablehnung der unterweisenden Haltung und des damit verbundenen Sprachgestus.
IV.
Es brechtete in den siebziger Jahren augenfällig von Temeswar über Klau
senburg und Hermannstadt bis Bukarest. An den pointieren Verfremdun
gen, den parabelhaften Konstruktionen, den gerafften Situationsprotokol
len, den wortspielerischen Epigrammen, die geradezu ins Kraut schossen, schreibt Brechts Methode, seine pathosfeindliche Sachlichkeit, sein ge
schickt dosiertes Besserwissertum mit. Weniger der junge, der anarchisch
vitalistische Brecht mit seinem individualistischen Glücksverlangen und schon gar nicht der zarte und obszöne Dichter der Liebe war es, dem man sich vorerst lernend zuwandte, sondern der durch die Schule marxistischen Denkens hindurchgegangene Neo-Aufklärer, der verschleierte Zusammen
hänge erhellen und eingefrorene Wahrnehmungen aufbrechen, zu genaue
rem Hinsehen auf sattsam Bekanntes, aber noch nicht Erkanntes anregen wollte.
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Brecht hatte sich andererseits die Überzeugung erarbeitet, daß die sozia
listische Gesellschaft in sich das Potential berge, die beste aller möglichen zu werden, daß im Rahmen der neuen Produktions- und Eigentumsverhält
nisse die zwischenmenschlichen Beziehungen freundlicher gestaltet würden.
Nicht das System, sondern was in diesem an anachronistischen Denkwei
sen, an Restbeständen der „alten Ordnung“ weiterwuchert oder die dog
matische Engstirnigkeit der Funktionärskaste sind Zielscheiben seiner kriti
schen Eingriffe. Der Pädagoge des begrenzten Zweifels hielt an einer Zu
kunftsprojektion fest und vererbte auch diese an die deutschen Dichter im rumänischen Sprachraum, die in ihren Köpfen mit dem Gedankengut links
liberaler Kritiker des Spätkapitalismus und der Verfechter eines Sozialis
mus mit menschlichem Gesicht verschmolz. In Brecht glaubten sie, einen gefunden zu haben, auf den man bauen könne, in seinem Sinne sei die Di
stanz zwischen Erreichtem und Erreichbarem zu durchleuchten und schrei
bend auf deren Verringerung hinzuwirken.
Ideologisch präformiert war auch die Realitätsvorstellung seiner Eleven im südöstlichen Einparteienstaat. Ursprünglich wollten sie keine andere Gesellschaft als jene, in die sie hineingeboren waren, die einzige, die sie aus eigenem Erleben kannten. Bei den Bestandsaufnahmen der Diskrepanzen zwischen Tatsachen und Verheißungen paart sich in vielen Texten skepti
sche Nüchternheit mit dem Vertrauen in die Macht der Vernunft und in die Produktivkraft Poesie.
Gemessen werden die Vorgefundenen Zustände an dem Phantasieentwurf eines freiheitlich-demokratischen Sozialismus und zu dessen Grundlagen zählte nicht zuletzt das, was die allgegenwärtige Zensur immer wieder ein
dämmte: die freie Meinungsäußerung. In seinem Gedicht siebenbürgischesprech- übung(l976) plädiert Hodjak in parataktisch-elliptischen Reihungen für die unbehinderte Rede, „auch über das einfache das falsch gemacht wurde“.
Abgewandelt werden dabei die zwei Schlußverse aus Brechts Lob des Kom
munismus: „Er ist das Einfache/Das schwer zu machen ist“20 Zweifellos war der Zensor nicht brechtfest, sonst hätte er sicherlich eingegriffen, obwohl Hodjak nicht das „Einfache“ an sich, sondern dessen mißglückte Verwirk
lichung anvisiert und und auch darüber ein offenes Gespräch fordert: „spre
chen über die grenzen/der gespräche und auch über die grenzen//der gren
zen//^..] sprechen/in drei sprachen und etlichen/dialekten aber/von mensch zu mensch.“21
„Und Sie meinen nicht“, fragt der kleine Mönch in Leben des Galilei, „daß die Wahrheit, wenn es W ahrheit ist, sich durchsetzt, auch ohne uns“. „Nein, nein, nein“, lautet die Antwort des großen Physikers. „Es setzt sich nur so viel Wahrheit durch, als wir durchsetzen; der Sieg der Vernunft kann nur der Sieg der Vernünftigen sein.“22 Und Richard Wagner schließt sich 1972
„Und Sie meinen nicht“, fragt der kleine Mönch in Leben des Galilei, „daß die Wahrheit, wenn es W ahrheit ist, sich durchsetzt, auch ohne uns“. „Nein, nein, nein“, lautet die Antwort des großen Physikers. „Es setzt sich nur so viel Wahrheit durch, als wir durchsetzen; der Sieg der Vernunft kann nur der Sieg der Vernünftigen sein.“22 Und Richard Wagner schließt sich 1972