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Zur Frage der Kontinuität in der älteren deutschen Literatur Ungarns

In document 34 . Budapest 1999 (Pldal 33-53)

Einen wichtigen Topos der deutschen Kultur und Literaturgeschichtsschrei­

bung in Ungarn bildet die Annahme, daß die Wurzeln dieses Schrifttums in die ältesten Zeiten, bis ins Frühmittelalter zurückreichen. Eine solche symbolische Verwendung des Wortes „Wurzel“ deutet - unterschwellig - auf eine kontinuierliche Tradition der schriftlichen Kultur hin und wird mit Material bewiesen, das unterschiedliche Texte und Texttypen aneinander­

reiht: Für die Existenz einer deutschen Kultur in Ungarn in den frühen Jahr­

hunderten führt man archäologische Funde mit Inschriften an, deren Da­

tierung auf die Periode vor der ungarischen Landnahme im jahr 895 n.Chr.

fällt; auf die Werke spätmittelalterlicher Hofdichter folgen die Humanisten, die Reformatoren und die einzelnen Barockdichter. Einen gewissen Son­

derstatus besitzt die Volksdichtung, denn sie läßt sich nur schwer datieren, und deshalb steht sie zwischen den Epochen. Außerdem ist zu vermuten, daß diese Texte erst mit der letzten Einwanderungswelle unter Maria The­

resia undjoseph II. nach Ungarn kamen, wenn ihre Entstehungsorte nicht in Ungarn lokalisierbar sind. Selbstverständlich kann man keine kontinuier­

liche - ununterbrochene - Tradition über eine so lange historische Periode hinweg verfolgen, keine der literarhistorischen Thesen behauptet dies expli- cit verbis, dennoch werden diese Entstehungsetappen immer wieder aufge­

stellt. Die Analyse der Entstehungsprozesse des ungarndeutschen Schrift­

tums führt uns zur theoretischen Frage nach einer Kontinuität in der Kul­

tur, zur Frage des - gewollten oder ungewollten - Traditionsbruchs bzw.

der Selbständigkeit einer Literatur. Diese Probleme möchte der Aufsatz an­

schneiden.

Die deutsche Literatur Ungarns entfaltete sich offensichtlich parallel zum entstehenden ungarischen Schrifttum; die Rezeption bzw. die Darstellung dieses Prozesses weisen ähnlich Züge auf. Beide sind fünf-sechs Jahrhun­

derte nach der „binnendeutschen“ Literatur entstanden und bei beiden ver­

sucht man vorliterarische Formen nachzuweisen: die Runeninschriften. Im Falle der ungarndeutschen Literatur greift die Forschung auf Schriftdenk­

mäler zurück, die auf dem Gebiet des heutigen Ungarns entdeckt wurden.

Die Inschriften entstanden in der Zeit der Völkerwanderung und wurden bei archäologischen Ausgrabungen freigelegt. Die Vorgefundenen kurzen Texte wurden in verschiedenen germanischen Sprachen angefertigt und über­

lieferten der Nachwelt nur einige Wörter, wie z.B. im Falle des Fidelpaars 31

von Bezenye den Namen des Besitzers eines verzierten Gegenstandes (Goda- hild) oder magische Wörter und Zauberformeln. (Arsipoda segun) Ähnli­

ches ist auch in der ungarischen Kultur zu beobachten. Diese Funde zeu­

gen von keiner stabilen deutschsprachigen Kultur, denn die Stämme, in deren Umkreis diese Texte entstanden sind, gingen unter. Diese Kulturtradition ist durch die chaotischen Zustände der Völkerwanderungszeit abgebrochen worden. Dennoch werden sie in manchen wissenschaftlichen Arbeiten und belletristischen Werken als die ersten Quellen des deutschen Schrifttums erwähnt: die Kulturauffassung des 19. Jahrhunderts, fortgeführt auch im 20., stellt diese Text- und Sprachdenkmäler in eine Traditionslinie, wie etwa bei Bela Pukänszky (1895-1950). Zwar gibt es keinen textologischen Zusammen­

hang, einen genetischen dürfte es aber durch den Umweg nach Deutsch­

land geben, denn diese Stämme, die diese Texte (eigentlich die Gegenstän­

de) hinterließen, sind vorwiegend auf das Gebiet des heutigen Deutschlands gezogen. W enn man diese Funde überhaupt als Anfang nennen kann, so ist es eine lang andauernde Entstehungsperiode des deutschen Schrifttums in Ungarn festzustellen.

Nach diesem zähen Anfang trifft man erst einige Jahrhunderte später, etwa ab dem 13.-14. Jahrhundert im Karpatenbecken wieder auf deutsch­

sprachige Texte und literarische Schriften. Es ist die Periode, die als Anfang der kontinuierlichen schriftlichen Kultur gilt, auch wenn kleinere oder grö­

ßere Brüchen und Unterbrechungen festzustellen sind. Immerhin ist zu be­

obachten, daß man mit einem Neuanfang zu tun hat. Es bleibt dahingestellt, ob die Literaten, die diese herbeiführten, von ihren Vorgängern gewußt haben, oder nicht, denn die das Land betreffenden historischen Ereignisse wirkten nicht nur auf die Merhheit sondern auch auf die deutsche Nationa­

lität wie auf alle Minderheiten und zerstörten die Existenzbedingungen und die Kontinuität der Literatur. Außerdem ist die allgemeingültige Feststel­

lung der Literaturtheorie zu beachten, daß sich die schöngeistige Literatur im Rahmen der schriftlichen Kultur nur langsam entwickelt, es ist eine lan­

ge Entwicklungsphase der Schriftlichkeit nötig, bis es zum Entstehen litera­

rischer Werte kommen kann.

Die Zeit vom 13. Jahrhundert wird zu einer Einheit von etwa 800Jahren umgedeutet. Dieses Vorgehen geht auf die Insel-Theorie (wie etwa bei Karl Kurt Klein) zurück, wonach die Minderheitenliteraturen - wie eine Insel im Ozean - von ihrer Umgebung unbeeinflußt ihre kulturellen Wesensmerk­

male über Jahrhunderte hinweg behalten können. Die ersten Literaturdenk­

mäler des ungarndeutschen Schrifttums weisen - im Gegensatz zu dieser Theorie - einen sozio-kulturellen Mischcharakter auf, denn sie standen mit dem ungarischen Königshof in Verbindung: die Herrscher riefen nicht nur deutsche Bauern, Kaufleute, Handwerker und Bergleute in die verschiede­

nen Gegenden des historischen Ungarn, sondern auch Wissenschaftler und 32

Dichter. Wir treffen an den Wurzeln der deutschen Kultur in Ungarn meh­

rere Schriftsteller österreichischer Abstammung, die sich kürzer oder län­

ger am königlichen Hof aufhielten und durch diesen Aufenthalt literarisch beeinflußt wurden. Nun stellt sich die Frage, ob diese Werke zum deut­

schen Schrifttum in Ungarn zu zählen sind, oder nicht, denn die Autoren waren hier nicht beheimatet. Zuerst sei die Dichtung von Peter Suchenwirt (um 1320/30-nach 1395) erwähnt, der nach der Überlieferung sogar der un­

garischen Sprache mächtig war, obwohl dies nicht bewiesen werden konn­

te. Suchenwirt schrieb ein wichtiges Werk über König Ludwig den Großen mit dem Titel Von Chunik Ludwig von Ungerlant. Die lange gereimte Erzäh­

lung, die frühneuhochdeutsch geschrieben wurde, bewahrt die Erinnerung an die glänzende Ritterwelt und malt ein glorreiches Bild vom ungarischen Königshof, von Rittern und schönen Hofdamen. Eine ähnliche, obwohl et­

was lockerere Beziehung hatte Oswald von Wolkenstein (um 1376-1445) zu Ungarn, der damit prahlte, „huss majerul“ gelernt zu haben, was heißt, daß er die ungarische Sprache im Handumdrehen erlernt hätte. Er schrieb je­

doch nicht ausführlich über seinen hiesigen Aufenthalt. Heinrich von Mügeln (drittes Viertel des 14. Jh.), und noch früher Ottokar von Steiermark (wahr­

scheinlich um 1260/65-1320) hielten sich nicht in Ungarn auf, sie berichte­

ten aber in ihren langen Chroniken in bedeutsamen Kapiteln über die Ta­

ten der Ungarn. Beide zeigten eine Abneigung gegen die Ungarn, weil sie sich die feinen deutschen ritterlich-höfischen Sitten nicht entsprechend an­

geeignet hätten. Obwohl die beiden Schriftsteller nur indirekt mit Ungarn in Verbindung standen, kann man von ihnen behaupten, daß auch sie - wie ihre Schriftstellerkollegen aus dem ungarische Königshof - die deutsche Minderheit zu einem kulturellen Bewußtsein geholfen haben. Der Hypo­

these kann man die Tatsache entgegensetzen, daß die Deutschen zu dieser Zeit im Land zerstreut, nicht nur in Ofen sonder auch in Westungarn, Sie­

benbürgen und in der Zips lebten.

Diese Literatur entstand nicht nur in der höfischen Welt sondern auch im Umkreis von Bürgern und Adligen. Diesen Aspekt bietet das Tagebuch (1439) der W iener Bürgersfrau Helene Kottannerin. Die in Ödenburg/Sop- ron mit einem Ungarn verheiratete Frau verwickelte sich während ihres be­

wegten Lebens in die Ränke der Aristokraten um die Erbfolge und brachte die unter abenteuerlichen Umständen entwendete Stephanskrone nach Stuhl- weißenburg/Szekesfehervär, wo der neugeborene „König“ auf Befehl der Königin gekrönt wurde. Das Tagebuch Die Denkwürdigkeiten der Helene Kottan­

nerin ist eine spannende Chronik der Ereignisse und ein breit gemaltes ge­

sellschaftliches Tableau. Die ungarische Gesellschaft und die Sitten in Pan­

nonien tun sich vor dem Leser auf und man lernt dabei eine tapfere und kluge Frau kennen. Dieses Tagebuch wurde von der Verfasserin nur für persönliche Zwecke, nicht zur Veröffentlichung aufgeschrieben, so unter­

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blieb eine Wirkung des Textes in der Minderheitenkultur; Anbindungen an die deutsche Minderheit bzw. ein kultureller Hintergrund läßt sich ebenfalls nicht entnehmen, so kann man unschwer das Urteil fällen, daß hier mit ei­

nem Text zu tun hat, der zwischen den Kulturen - zwischen der W iener Kulturlandschaft und der Kultur der Ungarndeutschen - seinen Platz ein­

nimmt.

Die genannten Autoren wirkten und arbeiteten vereinzelt, von einer Grup­

penbewegung und Gruppenidentität ist kaum zu sprechen. Herkunft - wenn überhaupt feststellbar -, Aufenthaltsform in Ungarn, Anbindung an die Min­

derheit weisen divergierende Formen auf. Dennoch ist dies kein Gegenar­

gument gegen die Verselbständigung der ungarndeutschen Literatur, denn die Literatur des Hoch- und Spätmittelalters war eine Epoche der isoliert wirkenden und arbeitenden Autoren. Eine diesbezügliche Veränderung ge­

schieht erst mit dem Auftreten der Humanisten und Reformatoren.

Die in Ungarn geborenen deutschen Humanisten gaben der Nationali­

tätenkultur und der Literatur einen erneuten Aufschwung: Johannes Rei- cherstorffer (um 1495-1554), der Geheimsekretär von Maria aus Ungarn, Johannes Honterus (1498-1549), der Reformator der Siebenbürger Sachsen, Valentin Wagner (um 1510-1557), Johannes Sommer (1542-1574) und Lo­

renz Koch von Krumpach (16. Jh.) schrieben solche Werke, die die V er­

breitung des Humanismus sicherten. Ihre Tätigkeit bzw. die günstige poli­

tische Lage in Ungarn, die dieses Land am Ende des 15. bzw. am Anfang des 16. Jahrhunderts zu einer Großmacht emporwachsen ließ, lockten H u­

manisten aus Deutschland hierher: Jakob Piso (um 1480-1527), der Erzieher Ludwig II. Johannes Regiomontanus, Nikolaus Schricker, Stefan Taurinus- Stieröchsel (1485-1519) waren diese Gäste. Sie gehörten nicht zur europäi­

schen Elite, hinterließen aber in Ungarn interessante W erke über ihre Er­

fahrungen sowie über historische und gesellschaftliche Ereignisse. Ihre dem Brauch des Zeitalters gemäß auf Latein geschriebenen Werke konnten da­

mals alle Leser erreichen, die für den südöstlichen Winkel von Europa In­

teresse hatten. Johannes Sommer beschrieb zum Beispiel nach antikem Ide­

al die blutige Geschichte des Dözsa-Aufstandes. Das in zierlicher Sprache verfaßte Werk entstand auf das Zureden der ausländischen Freunde des Verfassers, der auf diese Weise die Welt über die ganz besonderen Ereig­

nisse in Ungarn informieren wollte. Ein Höhepunkt des Werkes bildet Dözsas Cegleder-Rede, in der der Bauernanführer die Ungerechtigkeiten der da­

maligen Gesellschaft bloßlegt und die Reichen wegen ihrer Übergriffe an­

prangert. Sommer ließ den Bauernführer mit so einer flammenden Stimme sprechen, daß man fragen kann, ob er nicht hinter diesen Ideen stand. Der Schriftsteller stellte aber nicht nur die gesellschaftlichen Spannungen dar.

Er beschrieb auch den Tod von Dözsa in beklemmenden Bildern: seine Krönung mit der Feuerkrone und das Essen seines Fleisches, zudem seine 34

Mitstreiter gezwungen wurden. Die ästhetische Wirkung wird aus der Ver­

mischung des Hochsinnigen und des Schrecklichen erreicht. Die lateinisch verfaßten Texte der Humanisten gehören heute nicht mehr zum Kanon der ungarndeutschen Literatur, denn die Lateinkenntnisse sind zurückgegan­

gen. Das bedeutet einen weiteren Bruch in der Traditionslinie.

Das Zeitalter der Reformation brachte neue Möglichkeiten für das deut­

sche Bürgertum in Ungarn. Die früher politisch zurückhaltenden Bürger wirkten nunmehr bei der Herausbildung der neuen geistigen Kultur aktiv mit. Hier sei nur auf die Druckerei von Andreas Hess in Ofen/Buda hinge­

wiesen, wo zahlreiche - auch für die ungarische Kultur - wichtige Drucke entstanden sind. Die Reformation bildete ein Modell für das geistige Leben in Ungarn, immer mehr Ungarn studierten auch in Deutschland: die heimge­

kehrten Priester verbreiteten die Gedanken des neuen Glaubens. Die Grund­

lage ihres Wirkens war nicht das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl, sondern die religiöse Überzeugung. Die Tätigkeit der Siebenbürger Sach­

sen Franz Davidis (um 1520-1579) und Kaspar Helth (um 1510-um 1574) strahl­

te auf das ganze geistige Leben Ungarns aus, schließlich integrierten sie sich als ungarische Intellektuelle in die Kultur. Die Tätigkeit vonJohannes Hon- terus beschränkte sich nur auf die Sachsen, obwohl die Reformation auch auf die Ungarn in Siebenbürgen eine große Wirkung ausübte. Leonard Stöckel (1510-1570) wirkte nur in Nordungarn, wo er aber eine umso wichtige Rol­

le spielte. Der Humanist, Reformator und Dramenautor Stöckel ist in Bart- feld/Bärtfa geboren, er studierte in Krakau/Krakkö und Kaschau/Kassa.

Ab 1530 studierte er an der Universität in Wittenberg, wo er mit Luther und seinem Kreis in Verbindung stand. Sein Leben lang war er mit Melanch- thon verbunden. Obwohl er 1536 die begehrte Stelle eines Direktors der Schule in Eisleben bekam, kehrte er nach einigen Jahren doch heim und schrieb das erste größere deutschsprachige literarische Werk Ungarns, das protestantische Schuldrama Historia von Susanna, das im jahre 1559 in Wit­

tenberg herausgegeben wurde. Das Werk fügt sich ungebrochen in die lite­

rarische Tradition des Zeitalters: das Susanna-Thema wurde nach Luther, Hans Sachs und Burckhard Waldis das Symbol des attackierten, aber schließ­

lich siegreichen Protestantismus. Stöckel behandelt das Thema nach der Auffassung seiner Vorbilder, gerade deshalb wird am Ende des Dramas der Sieg des wahren Glaubens gefeiert.

Die geschichtlichen Schicksalswendungen verursachten auch in der Kul­

tur der Minderheiten zahlreiche Brüche. Das Bürgertum in Ofen/Buda litt unter der türkischen Herrschaft, Nordungarn war von den religiösen Strei­

tigkeiten des 17.-18.Jahrhunderts stark betroffen und die Deutschen in Sie­

benbürgen wurden wechselweise von den türkischen, tatarischen und rumä­

nischen Armeen bedroht. In dieser Zeit ging die literarische Produktion zurück, ein Neubeginn erfolgte erst während der Habsburgischen H err­

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schaft. W ährend der Regierungszeit von Maria Theresia wurden Bauern angesiedelt, die ihre Lieder und Sagen mitbrachten. Diese wurden zuerst nur mündliche überliefert, und erst im 19. Jahrhundert erfuhren sie eine Verschriftlichung. Dieser Schatz lebte in der Folklore der verschiedenen süddeutschen Siedler weiter und erwachte zu einem selbständigen Leben.

Trotz der Qualen der Heimatlosigkeit bezeugen die Werke den Glauben an die Zukunft. Aber auch Liebe, Tod, Geburt - die ewigen Themen also - wurden besungen, wie in den folgenden schönen Zeilen:

Es blühen zwei Rosen im Garten, sie blühen gar so schön.

[...]

Sie stehen bei einander bis mitterhalbe Nacht,

da kommt ein schwarzbrauns Vögelein, und pfeift bis hellen Tag.

Die Zeit des Humanismus und der Reformation sowie die geistigen Ereig­

nisse der Ansiedlungen ließen bedeutende Spuren in der deutschen Kultur in Ungarn zurück. Zu dieser Zeit erschien und entwickelte sich das Hun- garus-Bewußtsein, das bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, und in einzelnen Fällen bis zu unseren Tagen eine bedeutende Rolle im Allgemeindenken und bei der Herausbildung einer positiven Beziehung zum Ungarntum spiel­

te. Diese Identitätsform bedeutete ab dem Mittelalter das bewußte und loya­

le Bekenntnis zur Stephanskrone und gleichzeitig zu einer lokalen Identi­

tät. Dieses Bewußtsein zeigt sich in der Überzeugung von einer gemein­

samen Heimat, gemeinsamen Geschichte und von der Notwendigkeit, ge­

meinsame Anstrengungen für das Vaterland zu machen.

Es stellt sich die Frage nach der Einheit dieser Dichtung und nach der Kontinuität dieser Kulturtradition, die viele Brüche erleben mußte. Offen­

sichtlich sind die Anfänge der ungarndeutschen Dichtung plurizentrisch ge­

wesen, man schöpfte sowohl aus der Volksdichtung als auch aus der gelehr­

ten Dichtung. Die Vertreter des Schrifttums waren nicht immer hier behei­

matete Menschen, sehr oft kamen sie nur für einigejahre nach Ungarn. Den­

noch konnten sie Impulse geben, deren Wirkung noch zu untersuchen ist.

Die Dichterkreise standen miteinander oft nicht im Kontakt, des öfteren haben sie völlig unterschiedliche Kulturtraditionen fortgesetzt: Dennoch ist es ihnen gelungen, die literarisch-ästhetischen Leistungen ihrer Vorgänger aufzugreifen und fortzuführen, auch wenn zwischen ihnen Jahrhunderte ver­

strichen sind. Diese mehrmaligen Neuanfänge machen den Reiz dieser Kul­

tur und Literatur aus.

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Anmerkungen

1 Siehe ihre Auswertung in Pukänszky, Bela von: Geschichte des deutschen Schrift­

tums in Ungarn. Erster Band. Von der ältesten Zeit bis um die Mitte des 18.

Jahrhunderts. [Mehr nicht ersch.] - Münster: Aschendorffsche Verlagsbuch­

handlung 1931. (= Deutschtum und Ausland. Schriftenreihe des Deutschen Instituts für Auslandkunde H. 34/36) S. 5.

2 Ebenda.

3 Siehe etwa die Grundkonzeption des Buches Sienerth, Stefan und Joachim Wittstock (Hrsg.): Die deutsche Literatur Siebenbürgens. Von den Anfängen bis 1848. I. Halbband: Mittelalter, Humanismus und Barock. - München: Süd­

ostdeutsches Kulturwerk 1997. (Reihe B: Wissenschaftliche Arbeiten Bd. 81) 4 Klein, Karl Kurt: Literaturgeschichte des Deutschtums im Ausland. Schrifttum und

Geistesleben der deutschen Volksgruppen im Ausland vom Mittelalter bis zur Gegenwart. - Leipzig: Bibliographisches Institut 1939.

5 Siehe das zusammenfassende Werk von Pukänszky, Bela: A magyarorszdgi nemet irodalom törtenete. A legregibb idöktöl 1848-ig. [Die Geschichte der deut­

schen Literatur aus Ungarn von den ältesten Zeiten bis 1848.] - Budapest:

Budaväri Tudomänyos Tärsasäg 1926. (= Nemet Philologiai Dolgozatok) 6 Siehe auch Vizkelety, Andräs: Fragmente mittelhochdeutscher Dichtung aus Un­

garn. - In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur. Jg. 102 (1973) S. 219-235.

7 Mollay, Karl (Hg.): Die Denkwürdigkeiten der Helene Kottannerin (1439-1440). - Wien: Österreichischer Bundesverlag für Unterricht, Wissenschaft und Kunst

1971. (= Wiener Neudrucke Bd. 2)

8 Siehe in Capesius, Bernhard (Hg.): Sie förderten den Lauf der Dinge. Deutsche Humanisten auf dem Boden Siebenbürgens. - Bukarest: Literaturverlag 1967.

9 Siehe V. Ecsedy Judit; Pavercsik Ilona: A könyvnyomtatäs Magyarorszägon a kezisajtö koräban 1473—1800. [Das Druckwesen in Ungarn im Zeitalter der Handpresse.] - Budapest: Balassi Kiadö 1999. S. 10.

10 Szilasi, Klara: Stöckel Lenärd Zsu&anna-drdmäja. [Das Susanna-Drama des Leo­

nard Stöckel.] - Budapest: 1918.

11 In: Manherz, Karl (Hg.): Holzapfels Bäumlein, wie bitter ist dein Kern. Aus der Folklore der Ungarndeutschen. Zusammengestellt und Nachwort von K.M.

Übersetzung Märton Kaläsz. Vadalma, vadalma, magva de keserü. A magyar- orszägi nemetek nepköltese. Välogatta es az utöszöt irta Manherz Käroly.

Fordftotta Kaläsz Märton. - Budapest: ELTE Germanistisches Institut 1995.

S. 116.

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Werner Biechele

Interkulturelle Grenzgänge

Schreiben im nichtdeutschen Raum zwischen alter und neuer Heimat Die deutschsprachigen Literaturen des Auslands haben eine lange Tradi tion in der Folge der Migrationsbewegungen in den vergangenen Jahrhun­

derten, diese W anderung dauert bis in die Gegenwart des ausgehenden 20.

Jahrhunderts an. Heute ist das regionale Phänomen ‘auslandsdeutsche Lite­

ratur’ zu einer neuen Provinz der deutschen Literatur geworden.1 Diese Literatur zeigt ebenso wie die von Ausländern in Deutschland geschriebene Literatur Symptome einer wachsenden Produktion, die Germanistik widmet der Erforschung deutscher Literatur jenseits der engeren deutschsprachigen Welt zunehmende, wenn auch insgesamt noch zu geringe Aufmerksamkeit.2 Das literarische Werk dieser Autoren gibt Einblicke in Schaffenswelten vol­

ler Identitätsfragen, wenn das fremde Land schon Heimat für sie geworden ist, so geschieht dies in der Regel nicht problemlos. „Man erkennt bei allen Autoren einen Wandel des Selbst- und Fremdverständnisses, ein Fremd­

empfinden oder eine Ambivalenz der Gefühle gegenüber dem deutschen Europa, sowie eine Entfremdung und Verfremdung ihrer Literatur, die bei allen Gegensätzen doch als deutsch zu gelten hat.“3 Die Ursachen dafür sind vielfältiger Natur; es stellt sich z.B. die Frage, wie die Einwanderer durch ihre neue Umwelt verändert werden, zugleich aber ihrerseits zur Verände- rung dieser neuen Umwelt beitragen wollen. In einem Spannungsfeld, in dem die Assimilation an die Mehrheitskultur einerseits als bequeme Alter­

native erscheinen könnte, sind den Autoren die mit einer solchen Haltung verbundenen Verluste für die eigene Identität doch nur zu bewußt. Nicht selten werden sie zu W anderern zwischen zwei Welten. Das lyrische Ich in dem Wanderer4 überschriebenen Gedicht des deutschamerikanischen Autors Albrecht Classen reflektiert genau diese Lebenssituation:

Wanderer Auf einer Brücke

zwischen hüben und drüben wandre ich

zwei Sprachen als Brückenköpfe pfleg ich

bin ich hier

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will ich dorthin bin ich dort will ich hierhin das eine lieb ich das andre haß ich das andre lieb ich das eine haß ich Freunde hab ich hier und dort Familie hab ich dort und hier in der neuen Welt leb ich

in der alten Welt steh ich

Heimat ist ein seltsam Wort find sie ja

Heimat ist ein seltsam Wort find sie ja

In document 34 . Budapest 1999 (Pldal 33-53)