Der mit seinem Theaterimperium weit über den deutschen Sprachraum hinaus bedeutend gewordene Regisseur Max Reinhardt (1873-1943) gönn
te sich nahezu kein Privatleben; persönliche Kontakte waren zugleich auch künstlerisch-fruchtbarer Natur, so daß ein möglicher Freundeskreis eben in Fachkreisen zu suchen ist. Freundschaft verband ihn denn auch nur mit We
nigen, und zu einem „Du“ kam es selten.
Mit dem BudapesterJuristen Miksa Märton (1871-1936)1 hat er sich, wie Briefe belegen, nicht nur geduzt, sondern laut dem ungarischen Dramatiker Ferenc Molnär war dieser auch sein bester, wenn nicht einziger Freund.2 Selbst wenn hier ein gewisses Maß an Übertreibung nicht ausgeschlossen werden kann, so zeigen verschiedene Vorkommnisse und Dokumente doch, welche wichtige Rolle er in Reinhardts Leben wie Schaffen spielte, und zumindest was dessen Verbindungen zu Ungarn betrifft, hatte er eine Schlüs
selrolle inne. Auch der ungarische Theaterhistoriker Dr. Mihäly Cenner betont,3 daß Reinhardts erste Frage nach seiner Ankunft im von ihm häu
fig besuchten Budapest stets Miksa Märton gegolten habe.
Sofort stellt sich die Frage, wie der anscheinend Fachfremde in den en
geren Kreis des Theatermannes gelangen konnte. Der Jurist erscheint aber nur auf den ersten Blick als Fremdkörper in der Theaterwelt Reinhardts;
bei genauerer Betrachtung entpuppt er sich nicht nur als sehr bewandert auf vielen für Reinhardt künstlerisch relevanten Gebieten, sondern auch als wichtiger Vermittler und Wegbereiter, was die Kontakte zu Budapester Thea
tern sowie ungarischen Theaterschaffenden betraf. Neben anderen bestä
tigt der Journalist und Herausgeber verschiedener Theaterzeitschriften,4 Sändor Incze, Märtons enorme Fachkenntnis auf dem Theater: „Jobban er- tett a szinhäzkoz, mint bärki mds. “ [Er verstand mehr vom Theater als irgendwer sonst. I. K.]5
Wie dies möglich war, soll ein biographischer Exkurs erhellen: Geboren wurde der zweiJahre Ältere in Budapest, wo er auch starb. Sein (Jura-)Studium betrieb er abwechselnd in Budapest und Wien. Beide Ehefrauen des An
walts waren Schauspielerin: Hedvig Harmath (1884-1911) und Margit Makay (1891-1989); aber auch er selbst bewegte sich unablässig in Theater- und Literaturkreisen: um die Jahrhundertwende betätigte er sich, selbst ein gu
ter Klavierspieler, als Musikkritiker, und zusammen mit dem Schriftsteller und Dramatikerjenö Heltai (1871-1957) übersetzte er Operettenlibretti und Theaterstücke vom Deutschen ins Ungarische.6 Als Journalist war er Mit
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arbeiter der Nachrichtenblätter Magyar Hirlap [„Ungarische Nachrichten“]
und Budapesti Naplo [„Budapester Tagebuch”]. Zudem leitete er von 1910- 192 7 die Vereinigung ungarischer Bühnenautoren [Magyar Szinpadi Szerzök Egye- sülete], die als internationale Agentur wirkte.
Bereits sehr früh fungierte der Anwalt auch als Reinhardts persönlicher Rechtsvertreter, wie die Nennung seines Namens als eben solcher auf der Übersetzung einer beglaubigten Abschrift bezüglich der Namensänderung von Goldmann in Reinhardt vom Oktober 1904 zeigt.7
Ein Phänomen jener Zeit war es offenbar, daß nach einem Jurastudium eine künstlerische bzw. schriftstellerische Laufbahn eingeschlagen wurde, wie dies zahlreiche Lebensläufe belegen. Miksa Märton ist insofern den
noch ein Sonderfall, als er es verstand, beide Bereiche miteinander zu ver
knüpfen, anstatt sie gegeneinander einzutauschen. So spezialisierte er sich auf Theater- und Urheberrecht, hielt 1906 in seiner Funktion als Vertreter der Vereinigung ungarischer Bühnenautoren^ or juristischem Fachpublikum einen Vortrag über die Gesetzesreform des Autorenrechts [A szerzöi jogröl szölö tör- veny reformja], der mit den Beiträgen anderer Referenten in der Vierteljah
resschrift der „Ungarischenjuristenvereinigung“ publiziert wurde,8 und schuf somit die fachlichen Voraussetzungen für seine spätere Wahl zum Rechts
vertreter des Landesverbandes von Bühnenautoren. Zugute kam ihm nicht nur seine Beherrschung der deutschen Sprache, sondern auch die detail
getreue Kenntnis der in Deutschland bereits vorangetriebenen Reformbe
strebungen, welche eine Vorbildfunktion für die in Ungarn zu schaffenden (Neu-)Regelungen haben sollten.
Im Zusammenhang mit Reinhardts Mitautorenschaft(en) bei einzelnen Dramatikern und seinen Regieeinfällen könnte es ergiebig sein zu unter
suchen, welche Anregungen ihm hierzu Märton lieferte, möglicherwiese auch auf „Bestellung“ respektive Wunsch. Den Hinweis zu dieser Vermu
tung finden wir bei Incze: „Legnagyobb csodalöja Max Reinhardt [...] volt. Ügy rendelte näla a törteneteket, mint a mulatos üriemberek a cigänynäl a nötäkat. ”[Sein größter Bewunderer war Max Reinhardt. Er bestellte bei ihm die Geschichten, wie beim Mullatschag die vornehmen Herren beim Zigeuner die Notenp Auch ist von Zetteln und Postkarten die Rede, auf denen Märton dem Freund seine neue
sten Einfälle und Pointen notierte; diese sind im Reinhardt-Archiv in Bing- hamton zu vermuten - oder aber nicht erhalten.
Ihr Kennenlernen fällt in die Zeit von Reinhardts ersten Ungarn-Gast- spielen, die er als junger Schauspieler in Berlin, noch unter der Leitung von Otto Brahm, dem Förderer des deutschen Naturalismus, in den späten 90er Jahren unternahm. Seine Regie-Ambitionen waren bereits am Keimen, doch dem Publikum wie der Presse fiel er zunächst als glänzender Darsteller al
ter M änner (er war damals Anfang zwanzig) auf. Im Jahre 1900 aber wurde er bereits auch als Regisseur erwähnt. Der in den Anfangsjahren entstan
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dene Kontakt hielt sich, mündete in Besuche und Gegenbesuche und war zur Entstehung der Salzburger Festspiele bereits so eng, daß der Budape
ster während des Sommers jährlich auf Schloß Leopoldskron, Reinhardts 1918 erworbenem Wohn- und Repräsentationssitz, als Gast des Hauses zu
gegen war. Dies bestätigt auch Reinhardts Privatsekretärin und Biographin Gusti Adler:
Mischka Marton, ein Anwalt aus Budapest, ein wirklich fei
ner, besonders aufrechter Mensch, ein wahrer Freund, der an Reinhardt mit abgöttischer Liebe hing, war während der Fest
spielzeit alljährlich einer der Hausgäste. Reinhardt hatte ihn bei seinem allerersten Gastspiel in Budapest kennen und lieben gelernt.10
Der Dramaturg, Schriftsteller undjournalist Lajos Bälint weiß auch zu be
richten, daß Reinhardt nicht auf die Besuche Märtons verzichten wollte und sich einmal, als dieser mitteilte, in jenem Sommer nicht kommen zu kön
nen, kurzerhand selbst nach Budapest begab, um den Freund persönlich mit dem Auto abzuholen.11
Daß der Kontakt sich auch auf Max Reinhardts Familie ausgedehnt ha
ben muß, davon zeugen die Beileidsbekundungen von Bruder Edmund und Max’ erster Ehefrau, der Schauspielerin Else Heims, anläßlich des frühen Todes von Märtons erster Frau, der Schauspielerin Hedvig M. Harmath.
Reinhardt selbst schreibt 1911 folgende Trostworte:
Mein lieber, lieber Freund! Eben in Berlin angekommen er
fahre ich von dem schweren Verlust, der Dich betroffen hat.
Wir empfinden ihn ganz mit Dir und sind mit allen Gedanken bei Dir. Es umarmt Dich in treuer Freundschaft Dein Max Rein
hardt.12
Welches Gewicht der Name Marton Miksas, bzw. ein Empfehlungsschrei
ben von ihm, in Berlin hatte, wie bekannt sein Name sogar bei den Mit
arbeitern in den Reinhardt-Theatern war und welches Ansehen er auch bei Reinhardts Bruder Edmund genoß, verdeutlicht eine tagebuchartige Auf
zeichnung von Jenö Rejtö',13 der im Herbst 1927 mit einem Brief von Mär
ton bei Edmund Reinhardts Sekretärin vorstellig wurde. Ihrer Reaktion beim Lesen entnahm er, daß es sich um kein gewöhnliches Empfehlungsschrei
ben handelte, und sie versicherte ihm, er habe großes Pech, daß „Herr Max“
oder „Herr Edmund“ nicht in Berlin seien, denn Herrn Dr. Märtons Emp
fehlung würden sie keinesfalls unbeachtet lassen - zum Trost versorgte man ihn mit Freikarten nach Wunsch.
Von den Sommeraufenthalten zur Festspielzeit zeugen zehn erhaltene Briefe aus denjahren 1927-1933,14 die Märton aus Leopoldskron an seine
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in Budapest oder Abbazzia weilende zweite Ehefrau, die Schauspielerin Margit Makay, schrieb. Diese Dokumente spiegeln das Verhältnis der je
weils anwesenden Personen zueinander wider, lassen Schlüsse auf die Gäste
liste (insbesondere der ungarischen Gäste) zu15 und geben Einblicke in den Ablauf der Salzburger Festspiele jener Jahre und das gesellschaftliche Le
ben im Hause Reinhardt; gleichzeitig wird aber auch die Budapester Thea
tersituation dargestellt, soweit sie Reinhardt und seine Gastspielpläne, Mar
git Makay und ihre Engagements oder Miska Märton und seine Agenturan
gelegenheiten betrifft. Es geht zudem mehrfach daraus hervor, daß Reinhardt großen Wert darauf legte, Märton stets im besten (Gäste-)Zimmer des Schlos
ses unterzubringen; der Freund bekam eigenes Personal zugeteilt und wur
de gegebenenfalls nach Sonderwünschen (einer speziellen Diät) verköstigt.
Sowohl der Hausherr als auch dessen Gefährtin Helene Thimig16 lasen ihm jeden Wunsch von den Augen ab.17
Nicht immer und nicht durchgehend war auch Reinhardt während Mär
tons Aufenthalt in Salzburg anwesend, aber wenn er dort weilte und, oft erst spät abends nach den Festspielproben, ins Schloß kam, bestand er unbe
dingt auf Märtons Gesellschaft, tauschte mit ihm Gedanken und Ideen aus und lud, nicht unbedingt verbal, die Kümmernisse des Tages bei dem Freund ab.Auch von dem im jahre 1933 aufziehenden Schatten, der Bedrohung durch die an die Macht gekommenen Nationalsozialisten und Reinhardts damit verbundenen Sorgen, berichtet Märton nach Hause: die Stimmung in Salzburg sei gedrückt, der deutsche Nachbar verderbe alles. Die deut
schen Schauspieler und Sänger sagten reihenweise ab, nur unter größter Pein könnten die Aufführungen stattfinden.18 Eine Woche darauf noch eine Steigerung, wobei durch das Zitieren seiner Worte „Wer weiß, ob wir noch einmal herkönnen?“ auch die Klarsicht Reinhardts über seine Lage zum Ausdruck kommt, der mit jenem Satz seine vorangegangene Bitte, der Freund möge mit ihm bis zum Monatsende in Salzburg bleiben, erläutert. Märton berichtet weiter, daß eine beunruhigende Spannung herrsche und die Rein
hardt erreichenden Drohbriefe auch auf ihn nicht ohne Wirkung geblieben seien.19
Vielfältige Einblicke gewähren auch zwei erhaltene Briefe Märtons an Reinhardt. Der erste wurde am 13. August 1930, offenbar vor der Abreise aus Leopoldskron (nach dem üblichen Sommeraufenthalt) verfaßt; er bein
haltet verschiedene Bitten und nennt uns drei weitere ungarische Namen, die mit dem Theatermann in Verbindung gebracht werden können. Dem
zufolge sollte ein Reinhardt-Buch an den einstmaligen Direktor des Kiräly SzinhäznnA Magyar Szinhäz{Königs- und Ungarischen)-Theaters Läszlö Beöthy gesendet werden, der in Salzburg weilende Ferenc Molnär war aufzusu
chen, und die sich auch als Dramatikerin versuchende Baronin Lily Hat-100
vany (1892-169 7) sowie ihre aus New York eingetroffene Schwester wünsch
ten zur nächsten Soiree (anscheinend nicht zum ersten Male, denn Märton formuliert es als eine „sich immer wiederholende, unerquickliche Bitte”) eingeladen zu werden.20
Der zweite erhaltene Brief stammt vom 29.10.1935 und offenbart mit sei
ner dringlichen Bitte um Vermittlung in Hollywood bezüglich einer geschäft
lichen Verbindung mit W arner Brothers teilweise, was Märton und seine Gattin lange Zeit hindurch vor dem Freund zu verbergen bestrebt waren:
die wirtschaftliche Krise, das Bangen um die zunehmend gefährdete Exi
stenz, die steigende Hoffnungslosigkeit. Märton hatte bereits ein schrift
liches Angebot an einen Mr. Wilk gerichtet, worin er vorschlug, die Gene
ralvertretung für Österreich, Ungarn, Schweiz, Tschechoslowakei, Polen usw. zu übernehmen und im Gegenzug W arner Brothers fast alle Neuer
scheinungen der Budapester und Wiener Verlagshäuser mit einem Priori
tätsrecht zuzusichern. Da eine Amerikareise zwecks persönlichen Vorspre
chens, die ihm als letzter Rettungsanker erschien, nicht in Frage kam, war er auf Vermittlung angewiesen.
Dieser Hilferuf an Reinhardt erging neun Monate vor Märtons Tod; ob sich Reinhardt, der in jenenjahren selbst Verhandlungen mit W arner Bro
thers führte,21 für den Freund bemühen konnte, ist uns nicht bekannt, zu einem Resultat sollte es jedenfalls nicht mehr kommen. Lediglich ein Ab
sagebrief jenes erwähnten Mr. Wilk, datiert am 30. 08. 1935, aber offenbar erst nach Märtons Brief an Reinhardt eingetroffen, liegt vor.
Der Theatermann und der Jurist: freundschaftliche Verbundenheit und beruflich-schöpferisches Aufeinanderangewiesensein lassen sich hier kaum trennen, sondern erscheinen, bei allen Höhen und Tiefen, eher als ideale Symbiose, die nicht nur ungarischen Dramatikern (z.B. Sändor Brödy) dazu verholfen hat, von einem Regisseur ersten Ranges auf deutschen Bühnen inszeniert zu werden, sondern auch mit dazu beigetragen hat, daß Ungarn das von Max Reinhardt bei seinen Gastspielreisen in Europa eindeutig be
vorzugte Land wurde.
Anmerkungen
1 Auf einigen offiziellen Briefköpfen findet sich auch die verdeutschte Va
riante Max Marton.
2 MOLNÄR, Ferenc: Gefährtin im Exil. Aufzeichnungen für eine Autobiographie. — Bad Wörishofen: Kindler u. Schiermeyer 1953. S. 153.
3 Während verschiedener Telefongespräche im November/Dezember 1997.
4 U.a. Szinhäzi Het [Theaterwoche] und Szinhäzi Eiet [Theaterleben]
5 INCZE, Sändor: Szinhäzi eleteim. Egy üjsägirö karrierregenye. — Budapest: Mü- zsäk 1987. S. 136.
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6 U.a. von Wilhelm Meyer-Förster (1862-1934) Alt Heidelberg / Didkelet (1904) 7 Eine Kopie des Dokuments befindet sich im Institut für Theaterwissenschaft,
Reinhardt-Archiv, Wien: R 6014 R. Mat.
8 In: Magyar Jogäszegyleti Ertekezesek. Szerkeszti: Dr. Szaladits Käroly. - Bu
dapest: November 1906, Nr. 261, Heft 4. Märton Miksa S. 3-20, 80-81.
9 INCZE, Sändor: a.a.O., S. 140.
10 ADLER, Gusti: Max Reinhardt - sein Leben. Biographie unter Zugrundelegung seiner Notizen für eine Selbstbiographie, seiner Briefe, Reden und persönlichen Erin
nerungen. - Salzburg: Festungsverlag 1964. S. 143.
11 Vgl. Reinhardt es a magyarok. In: BÄLINT, Lajos: Müveszbejärö. - Budapest:
Szepirodalmi Kiadö 1964. S. 296-300.
12 Zitiert in: GYÖNGYÖSI Nändor: M. Harmath Hedvig Emlekezete. [Vorwort von] Molnär Ferenc. - Budapest: Singer & Wolfner 1912. S. 94.
13 Jenö Rejtö-Nachlaß [feldolgozäs alatt], Petö'fi Literatur-Museum Budapest.
14 In der Ungarischen Nationalbibliothek Szechenyi (OSZK), Theatersamm
lung, Makay Margit-Nachlaß; unveröffentlicht.
15 Das Gästebuch von Leopoldskron war im Helene Thimig-Nachlaß angekün
digt, ist jedoch spurlos verschwunden; Namen der Besucher sind daher nur über andere Quellen (wie z.B. diesen Briefnachlaß) zu erschließen.
16 Helene Thimig (1889-1974), Schauspielerin, seit 1917 an Reinhardts Seite, nach der langwierigen Scheidung von Else Heims ab 1935 seine rechtmä
ßige Ehefrau.
17 Vgl. Brief vom 25.07.1931, OSZK, Makay Margit-Nachlaß, unveröffentlicht.
18 Brief vom 05.08.1933, OSZK, Makay Margit-Nachlaß, unveröffentlicht.
19 Brief vom 12.08.1933, OSZK, Makay Margit-Nachlaß, unveröffentlicht.
20 Vgl. Autograph Theatermuseum Wien, ÖNB A 13250 ReM.
21 Es kam 1935-36 zu diversen, Filmprojekte betreffenden, Vertragsabschlüs
sen, die aber nicht realisiert, bzw. nach umfangreichen Vorarbeiten aufgege
ben wurden.
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Läszlö Koväcs