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Braun, Peter

In document Gulyás Gyula tiszteletére (Pldal 54-65)

ÖSTLICHE LANDSCHAFTEN

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den Lebensformen in der früheren DDR befragt, antwortet Koepp zunächst allge-mein: „Auf der anderen Seite war das Leben östlich der Elbe, wenn man deutsche Geschichte überhaupt sieht, ohnehin immer anders. Es war eine andere Kultur-landschaft als am Rhein. Es war immer gröber und hatte eine stärkere Affinität zu den östlichen Nachbarn, den Russen und Polen. Preußen kommt von den Pruzzen, die im späteren Ostpreußen gelebt haben. Das war das Einflussgebiet. Das ging bis zur Elbe.“ (Voss, 103) Am Ende des Gesprächs spricht Koepp offen aus, dass er sich als „Osteuropäer“ versteht, der in seiner Mentalität von dieser östlichen Kul-turlandschaft geprägt ist: „Wir ‚Osteuropäer’ leben ja mehr in der Vergangenheit und nicht so sehr in der Gegenwart und schon gar nicht in der Zukunft. Man er-zählt sich Geschichten, die einmal passiert sind. Am Feuer sitzt der Geschichten-erzähler, die Jungen, die tagelang ihm lauschten, zogen davon.“

In dem Film Herr Zwilling und Frau Zuckermann taucht dieser letzte Satz aus dem Gespräch erneut auf. Hier bezieht ihn der Filmemacher jedoch nicht auf sich selbst, sondern auf jene, von denen er in seinem Film erzählt. Frau Zuckermann und ihr Sohn Felix sprechen über die Alten, die in Czernowitz bleiben, und die Jun-gen, die auswandern. Darauf hört man die Stimme Koepps aus dem off: „Die Alten sind die Geschichtenerzähler. Wie heißt es in einem Gedicht: Am Feuer sitzt der Geschichtenerzähler, die Jungen, die tagelang ihm lauschten, zogen davon.“ Und Frau Zuckermann hört zu und erwidert: „Sehr schön gesagt.“

IV.

Betrachtet man sich nun die Filme von Volker Koepp, so zeigen sich eine Rei-he von Gemeinsamkeiten, die ihnen einen einRei-heitlicRei-hen Stil verleiRei-hen. Alle Filme bestechen im Hinblick auf ihre Visualität durch eine exzellente Kameraarbeit. Das betrifft sowohl die Landschaftsbilder, deren Komponiertheit sogleich ins Auge fällt, als auch die Interviewpassagen, die versuchen, mit dem vorhandenen Tageslicht auszukommen und ansonsten dezent, orientiert an den natürlichen Lichtverhält-nissen, ausgeleuchtet sind. Favorisiert werden dabei feste Einstellungen, vom Sta-tiv aufgenommen; manchmal werden Kameraschwenks eingesetzt, einige wenige Male, wenn es die Situation erfordert, auch eine Handkamera. Damit wird die Be-wegung in das Bild und nicht in eine der BeBe-wegungsmöglichkeiten der Kamera verlagert, so dass sich alle Filme durch einen ruhigen Rhythmus auszeichnen.

Alle Filme sind in mehreren Drehphasen entstanden, zumeist orientiert am Zy-klus der Jahreszeiten. Die Kalte Heimat, die russische Enklave um Kaliningrad, das frühere Ostpreußen mit den Zentren Königsberg und Tilsit, sehen wir im Win-ter, im Frühling und im Sommer; Czernowitz, die Stadt von Herr(n) Zwilling und Frau Zuckermann lernen wir im Mai sowie im Spätherbst und Winter kennen, und auch auf die Kurische Nehrung entführt uns der Film zweimal, im Sommer und im Herbst. So entsteht ein dichtes und komplexes Bild der jeweiligen Landschaft,

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das sich nicht nur aus verschiedenen Ansichten zusammensetzt, sondern auch aus verschiedenen Jahreszeiten und damit aus den unterschiedlichen, sich wandelnden Atmosphären im Lauf eines Jahres. Schon damit ist – allein auf der Ebene der

Bil-der – ein lineares Zeitmodell zugunsten eines zyklischen aufgebrochen.

Eine weitere Auffälligkeit an den Filmen Koepps, die zur Einheitlichkeit des Bildstils beiträgt, ist der Verzicht auf Archivmaterial. Andere Bilder tauchen nur in Form alter Fotografien auf, die von den Protagonisten selbst präsentiert und kommentiert werden. Eindrücklich ist dieses Verfahren in Herr Zwilling und Frau Zuckermann umgesetzt. Herr Zwilling sitzt in einem Saal des Jüdischen Kultur-hauses in Czernowitz am Fenster. Das Licht fällt ihm schräg ins Gesicht. Auf der Fensterbank liegen eine Reihe alter Schwarz-Weiß-Fotografien und anderer Do-kumente seiner Familiengeschichte. Nach und nach nimmt er sie, hält sie vor sei-ne Brust in die Kamera und erzählt das Schicksal seisei-ner Großeltern und Eltern.

Beim ersten Mal versichert er sich durch ein fragendes „So?“ an den Kameramann, ob er die Fotografien richtig hält. Die sorgfältige Kameraführung zeigt sich auch daran, dass jedes Mal, wenn Herr Zwilling in seiner Erzählung eine Generation voranschreitet, der Ausschnitt der Kamera enger gewählt wird. Wenn er dann zu-letzt auf die Zeit der Deportationen zu sprechen kommt, die er selbst als 11-jäh-riger erlebt hat, dann quadriert ihn die Kamera im halbnahen Ausschnitt einer Porträtbüste. In der vorletzten Einstellung der Sequenz wird die Fensterbank ab-geschwenkt mit all den Materialien, die in den letzten 10 Minuten des Films von Herrn Zwilling präsentiert worden sind, eine Lebenscollage, die noch einmal Zeit gibt, das Gehörte nachwirken zu lassen. Die letzte Einstellung zeigt dann in einer Totalen, wie Herr Zwilling am Fenster stehend die Materialien einsammelt und in einer Mappe verstaut. Der Film maßt sich also bereits auf der Ebene der Bilder nicht an, in eine frühere Zeit zurückzublenden. Die Vergangenheit wird in den al-ten Fotografien nur zitiert, die Finger des Protagonisal-ten, die die Fotografien halal-ten, verweisen auf die Gegenwart und binden die Rückblende in die Vergangenheit an das Erzählen des Protagonisten.

Wechselt man von der Ebene der Bilder auf die der Narration der Filme, so zei-gen sich auch hier eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Auffällig ist zunächst, dass jeder Film um einige Menschen aufgebaut ist, die im Mittelpunkt stehen. Meistens handelt es sich dabei um zwei oder drei Menschen, niemals um einen einzelnen.

Die wiederholten Drehphasen erlauben, mit diesen Menschen häufiger zu drehen.

So begegnet man als Zuschauer nicht nur den Landschaften in wechselnden Jah-reszeiten, sondern auch den Protagonisten in unterschiedlichen Situationen und Zusammenhängen. Stück für Stück erhüllen sie dabei ihre Lebensgeschichten. Wie für die Landschaften, so gilt auch für die Protagonisten das Prinzip der Wieder-holung. Für den Zuschauer, der die jeweilige Jahreszeit erkennen kann, ergibt sich daraus ein komplexes Vergehen von Zeit: Auf der unmittelbar filmischen Ebene

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– der Ebene der Erzählzeit – schreitet der Film linear voran, während er auf der Ebene der erzählten Zeit einen zyklischen, mit den Jahreszeiten korrespondieren-den Ablauf nahe legt.

Seit den Filmen, die nach 1989 entstanden sind, wählt sich Koepp vorrangig und, wie es scheint, mit Vorliebe, ältere Menschen – Geschichtenerzähler. In Kurische Nehrung sind es für den nördlichen, litauischen Teil der langgestreckten Insel Re-nate Peleikis; für den südlichen, russischen Teil ein Mann, der seit 28 Jahren das Kino im Ort Rybatschij betreibt. In Uckermark stehen wiederum zwei Menschen und ein Ehepaar im Mittelpunkt. Das Ehepaar, bereits über 60 Jahre alt, sind vor kurzem in die Uckermark zurückgekehrt, um das alte Schloss Blankensee in Herz-felde wieder aufzubauen und landwirtschaftlich zu nutzen. Sie zählen ebenso wie der zweite Protagonist, ein 84-jähriger, idealistisch gesonnener politischer Akti-vist, der nach Gerswalde gezogen ist, zu der großen Familie der von Arnims. Der dritte ist ein ehemaliger Dramaturg der Volksbühne in Berlin, 30 Jahre mit Hei-ner Müller befreundet, der sich in die Uckermark zurückgezogen hat.

In Herr Zwilling und Frau Zuckermann wiederum sind die Protagonisten be-reits im Titel genannt, der 60-jährige Mathias Zwilling und die 90-jährige Rosa Roth-Zuckermann. Beide sind Überlebende der Deportationen und haben jeweils ihre Familie verloren. Beide arbeiten heute als Lehrer. Er unterrichtet Chemie an einem Gymnasium; sie gibt privat Sprachunterricht in Deutsch und Englisch. Ne-ben ihrer Freundschaft verbindet sie nicht zuletzt die deutsche Sprache. Täglich besucht Herr Zwilling in den Abendstunden Frau Zuckermann. Stärker als in den anderen Filmen gewinnen hier die beiden Protagonisten Züge, die über ihre Indi-vidualität und konkrete Lebensgesichte hinausgehen. Denn in diesem ungleichen Paar finden sich zwei Haltungen zum Leben wieder. Der Vitalität und geistigen Präsenz von Frau Zuckermann steht die bodenlose Traurigkeit und der Fatalis-mus von Herrn Zwilling gegenüber. An einer Stelle des Films, sie sitzen beide um den Kachelofen von Frau Zuckermann, charakterisiert Herr Zwilling ihre Bezie-hung selbst: „Ja, Optimist und Pessimist“. Frau Zuckermann schaltet sich sogleich ein: „Und ich red’s ihm aus. Es wird alles gut werden, sie werden sehen, sie werden noch in die Welt hinausfahren – und versuche ihn wieder in gute Stimmung zu bringen: nicht immer gelingt mir das.“ Darauf wieder Herr Zwilling: „Ich bin lei-der ein Pessimist, lei-der fast immer recht hat, so hat meine Mutter immer gesagt, du bist ein großer Pessimist, aber hast leider fast immer recht.“ Und er seufzt dabei mit einem Anflug von Selbstironie. Worauf Frau Zuckermann zurückgibt: „Und ich lass das nicht gelten – auf keinen Preis.“

Kalte Heimat hingegen folgt jenem anderen Grundmuster, das Volker Koepp in dem Gespräch mit Christoph Hübner als freie Bewegung in einem begrenzten Raum beschrieben hat. Etwa ein Dutzend Hauptfiguren tauchen darin auf, russi-sche Juden, Russlanddeutrussi-sche, Umsiedler aus Kasachstan, Litauer, Roma, Ukrainer, viele davon ältere Frauen. Öfters wird einmal der Ehemann oder andere Mitglieder

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der Familie miteinbezogen, die sich dann immer als mehrsprachige Mischfami-lien herausstellen. Bei dieser Fülle treten – auch bei einer Länge von 158 Minuten – die individuellen Lebensgeschichten zurück zugunsten eines Netzes aus Biogra-phien. Ebenbürtig darin verwoben sind die anderen Elemente, Besichtigungen von Königsberg und Tilsit, immer wieder verfallene, ruinöse Kirchen, ein orthodoxer Gottesdienst mit Prozession, eine alte Frau, die deutsche Lieder singt „An der Me-mel“ und „Der schwarze Zigeuner“, und immer wieder, als Leitmotiv, Aufnahmen von Störchen. Auch der off-Kommentar, obwohl er nur an vier Stellen erfolgt und damit immer noch spärlich eingesetzt wird, gewinnt gegenüber den anderen Fil-men ein stärkeres Gewicht. Darin wird die Geschichte dieses Raumes skizziert, von den Pruzzen um 1200 bis zur postsowjetischen Gegenwart und, in der letz-ten Passage, eine Erinnerung an den Schriftsteller Johannes Bobrowski, über den Koepp, sehr früh, schon einmal einen 14-minütigen Film gedreht hat: Grüße aus Sarmatien aus dem Jahr 1972.

Es ist deutlich geworden, dass die Filme von Volker Koepp nicht historische Ereignisse rekonstruieren und dem Zuschauer in Form einer stringenten Narra-tion präsentieren. Vielmehr bildet in allen Filmen die Gegenwart den Ausgangs-punkt. Das Interesse an den gegenwärtigen Verhältnissen, am aktuellen Befinden der Menschen, an ihren Hoffnungen und Wünschen sind immer ein Teil der Fil-me. Das führt zu einer Bestandsaufnahme der Gegenwart. Diese – und darauf bestehen alle Filme von Volker Koepp – wird jedoch von der Vergangenheit mit-bestimmt. Deshalb nehmen sie die Zuschauer mit auf eine Suche nach der Vergan-genheit, nach den Lebensgeschichten und Schicksalen derer, die im Mittelpunkt stehen, nach dem, was sich vom Gestern in ihrem individuellen Gedächtnis nie-dergeschlagen hat und nach den Spuren historischer Ereignisse, die heute noch sichtbar und hörbar sind, die sich an den Landschaften oder der Architektur ab-lesen lassen, bzw. im Idiom und der Klangfarbe der Sprache erhalten haben.

Als Zuschauer beobachten wir diese Prozesse des Erinnerns, des Hervor- oder Heraufholens alter, langer verschütteter Bruchstücke der früheren Lebenswelt und werden so hineingezogen in die Herstellung einer Beziehung zur Vergangenheit.

Die Filme Koepps begnügen sich jedoch niemals mit einem Protagonisten, sondern setzten, durch die Montage, mehrere Protagonisten in Beziehung zueinander. Aus der Unterschiedlichkeit der Erinnerungen ergibt sich so ein mehrperspektivisches Bild, das die Grenzen der individuellen Erinnerungsfähigkeit übersteigt.

Einen besonderen Stellenwert nehmen darin die Bilder der Landschaft ein.

Für den Zuschauer erfüllen sie zunächst einmal die Funktion, ein Gegengewicht zu den Interviewpassagen zu bilden und Pausen zu bieten, in denen das Gehörte nachwirken kann. Doch schlagen sich diese Bilder auch auf die inhaltliche Ebene durch. Denn sie entwerfen über den funktionalen Einsatz hinaus eben jenen Raum, in dem sich die Lebensgeschichten zugetragen haben. Der Umfang, den die Auf-nahmen der Landschaft innerhalb der Filme behaupten, und die Sorgfalt, mit der

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sie entstehen, weisen darauf hin, dass es Koepp um eben jene Beziehung zwischen Landschaft und Geschichte geht. Sie tragen den räumlichen Aspekt von Geschich-te in die Filme ein, indem sie ihre sichtbaren und unsichtbaren Spuren zeigen. Die Kirchen im ehemaligen Ostpreußen verfallen, viele davon sind bereits Ruinen – so im Film Kalte Heimat; manche Gebäude hingegen werden vor dem Verfall geret-tet – so Schloss Blankensee im Film Uckermark.

Die andere, unsichtbare Seite bilden jene Reste der Geschichte, die von der Landschaft bereits unter sich verdeckt worden und nur noch archäologisch aus-zugraben sind. Aber auch zwischen den porträtierten Menschen, ihren Lebensge-schichten und der Landschaft stellen die Filme eine Beziehung her. Diese spricht im Film Uckermark jener von Arnim aus, der mit seiner Frau zurückgekehrt ist, um dort Landwirtschaft zu betreiben. Koepp fragt ihn, erneut aus dem off, woher er seine unternehmerische Zuversicht schöpfe. Die Antwort: „Weil ich eine innere Beziehung zu der Landschaft habe und weil ich mich damit identifiziere.“ Darin ist das Konstruktionsprinzip der Vergangenheit, das den Filmen von Volker Koepp zugrunde liegt, prägnant zusammengefasst: das Ineinander von Landschaft, Le-bensgeschichten und Geschichte, das sich bruchstückhaft, in je individuellen Frag-menten und Färbungen zu einem losen, netzartigen Ganzen zusammenschließt.

V.

Das Konstruktionsprinzip von Vergangenheit und Geschichte in den Doku-mentarfilmen von Volker Koepp zu analysieren, verlangt auch, dieses Konstruk-tionsprinzip selbst historisch zu situieren und den Wandel, dem es unterworfen ist, zu reflektieren. Volker Koepp war von 1970 bis 1991 als Autor und Regisseur im DEFA Studio für Dokumentarfilm fest angestellt. Dort arbeiteten insgesamt, so führt Koepp in dem Gespräch mit Christoph Hübner aus, etwa 700 Menschen, wo-von allerdings nur etwa 10 Prozent im engeren Dokumentarfilmbereich tätig wa-ren. Die überwiegende Produktion bestand in Industriefilmen, Verkehrsendungen, Russisch-Lektionen und nicht zuletzt in der Herstellung des Sandmännchens. Ein-gespannt in die planwirtschaftliche Ökonomie der DDR stand ein festes Budget zur Verfügung, von dem – nach Jahresplan – einige wenige ‚abendfüllende’, vorwie-gend jedoch kürzere Dokumentarfilme hergestellt wurden, die zwischen 10 und 30 Minuten lang waren. In der Regel konnte ein Regisseur einen Dokumentarfilm im Jahr realisieren – was vor allem eines bedeutet: Sie hatten Zeit. Gezeigt wurden die Filme vor allem im Kino, gemäß der alten Kulturfilmtradition, als Vorprogramm zu den Spielfilmen. Außerdem wurden die Filme – als eine zweite Auswertung – auf bestimmten, von Filmclubs initiierten Veranstaltungen vorgeführt, in denen sich an die Projektion eine Diskussion anschloss. Koepp berichtet:

In Mecklenburg gab es immer einen Filmfrühling auf dem Land. Da fuhr man über die Dörfer mit den transportablen 35mm-Projektoren. Es war immer so, dass die Leute, die

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in den Filmvorführungen waren – manchmal waren das Bauern aus den landwirtschaft-lichen Produktionsgenossenschaften – sehr schnell abgehoben haben von der Filmebene.

Sie redeten darüber, was bei ihnen los ist im Leben, womit sie sich beschäftigten, worü-ber sie sich ärgerten. Da gab es oft ganz starke Diskussionen. Die Filme hatten eine ge-sprächsauslösende Funktion.3

Diese Schilderung belegt das grundlegend operative Verständnis von Doku-mentarfilm in der DDR. Die DEFA besaß einen klaren Auftrag: Die Filme, die ent-standen, sollten mithelfen am Aufbau der neuen, sozialistischen Gesellschaft. Das brachte innerhalb der DEFA ein intellektuelles Klima hervor, das in die Zukunft orientiert war; Geschichte gab es lediglich als Geschichte der DDR und wurde, zumeist zu den runden Jubiläumsfeierlichkeiten, in Form aufwendiger Kompila-tionsfilme behandelt.

Eduard Schreiber, ein Weggefährte Koepps und selbst von 1970 bis 1991 Sze-narist und Regisseur im DEFA-Studio für Dokumentarfilm, zeichnet in seinem umfassenden Überblick die Entwicklung des DDR-Dokumentarfilms der 1970er Jahre nach und entwirft sie als eine allmähliche Befreiung aus seinen propagan-distischen und ideologischen Klammern.4 Er beschreibt den Dokumentarfilm der 1970er Jahre als einen sich zaghaft Freiheiten herausnehmenden Grenzgänger zwischen Politik und Kunst, zwischen dem Aufzeigen, was sein sollte, und dem Aufzeigen, was ist. Die äußeren Voraussetzungen sieht er dabei einerseits in der li-beraleren Kunstpolitik unter Erich Honecker seit Beginn des Jahrzehnts, obwohl sich gegenüber der Malerei und der Literatur, an denen sich die Kunstdebatten in jener Zeit entzündeten, ein entsprechendes künstlerisches Selbstverständnis der Autoren und Filmemacher im Dokumentarfilm – nach Schreibers Wahrnehmung – erst mit 10-jähriger Verspätung zu Beginn der 1980er Jahre entwickelte. Anderer-seits, und darin liegt wohl die wichtigere Vorraussetzung, nahm die gesellschaft-liche Bedeutung des Fernsehens rasch zu. Die Partei erkannte schnell, dass hier das weit größere propagandistische Potential liege, dass es aber auch durch seine weit größere Verbreitung strenger kontrolliert werden müsse. So wurde das Fern-sehen direkt der Agitationsabteilung des ZK der SED unterstellt, während der Do-kumentarfilm weiter in der Obhut des Ministeriums für Kultur geblieben ist.5 In den Freiräumen, die sich seitdem auftaten, entwickelte sich ganz langsam eine we-niger operative als vielmehr beobachtende Haltung, die das Vorgefundene nicht auf das Ideal und Vorbildhafte zurechtstutzte, sondern die Konflikte und Wider-sprüche zuließ. Ganz allmählich tauchten Menschen in den Filmen auf, die nicht bereits den „neuen Menschen“ verkörperten und die sodann mit einem belehren-den Kommentar präsentiert wurbelehren-den, sondern Menschen, deren Hoffnungen un-erfüllt geblieben sind, die Probleme haben und zweifeln, Menschen zuletzt, deren Lebensentwürfe gescheitert sind. Eduard Schreiber erwähnt ein Detail, das die-se Lage beleuchtet:

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Die Personen im Dokumentarfilm waren durchweg die „Helden“, ein Begriff der sich bis zum Schluss hartnäckig hielt, wenn auch die Bereitschaft gewachsen war, den Inhalt dieses Begriffs differenzierter und widersprüchlicher zu sehen. Den „Helden“ haftete im Selbstverständnis der Ästhetik des sozialistischen Realismus immer etwas Makelloses an, eine Scheu, ihn zu beschädigen, und dieser Sachverhalt lag ja bereits vor, wenn der Do-kumentarist etwas in Frage stellte, sich distanzierte oder kritisch zu seiner Person ver-hielt. So erschienen die Filme immer als etwas Statisches, Endgültiges, als Ergebnis, nie als Prozess.6

Eine ‚beobachtende Position’ im Dokumentarfilm, die mit den ideologischen Vorgaben brach, stärker auf das Bild vertraute und die vorgefundene Alltagsreali-tät problematisierte, musste innerhalb des DEFA-Dokumentarfilms also zuallererst gewonnen werden. Im Hinblick auf die dominante Auffassung von Dokumen-tarfilm und auf die Machtstrukturen innerhalb der Institution, die über die Er-laubnis für Filmprojekte, die Zuteilung der technischen Geräte bis zur Anzahl der gezogenen Filmkopien und damit über die Auswertungsmöglichkeiten reich-te, stellte eine solche Auffassung eine abweichende, wenn nicht sogar widerstän-dige Haltung dar.

Die Entdeckung des Alltags, die sich seit Anfang der 1970er Jahre vollzog – Vol-ker Koepp macht darauf aufmerksam, dass in dieser Zeit innerhalb der DDR-Ge-schichtswissenschaft Jürgen Kuczynski Die Geschichte des Alltags des deutschen Volkes herausgegeben hat7 –, setzt mit der Darstellung der Arbeitswelt an, zunächst jener, wie sie sich auf Großbaustellen und in anderen, am Aufbau einer neuen

Die Entdeckung des Alltags, die sich seit Anfang der 1970er Jahre vollzog – Vol-ker Koepp macht darauf aufmerksam, dass in dieser Zeit innerhalb der DDR-Ge-schichtswissenschaft Jürgen Kuczynski Die Geschichte des Alltags des deutschen Volkes herausgegeben hat7 –, setzt mit der Darstellung der Arbeitswelt an, zunächst jener, wie sie sich auf Großbaustellen und in anderen, am Aufbau einer neuen

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