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Der Weltanschauungsroman

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Academic year: 2022

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B U D A PESTER BEITRÄGE Z U R G ER M AN ISTIK

Schriftenreihe des Germanistischen Instituts der Loránd-Eötvös-Universitat

Miklós Salyámosi

Der Weltanschauungsroman

Der Entwicklungroman in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

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M iklós Salyámosi

Dér W e l t a n s c h a u u n g s r o m a n

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/ S & J f J i )

Bu d a p e s t e r Be i t r ä g e'z ű r G e r m a n i s t i k 3 3

AU'-iM

M iklós Salyámosi

Der W e lta n s c h a u u n g sr o m a n

Der Entwicklungroman in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Buda pest 1998

M T A K

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0 í 5 S 8 5

Salyám osi, M iklós: D er W e lta n sch au u n g sro m a n . Der Entwicklungrom an in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (= Budapester Beiträge zur Germ anistik 33).

ELTE Germanistisches Institut, Budapest 1998.

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ISSN 0138-905X ISBN 963-463-211-4

Nach dem Tode des Verfassers durchgesehen von György W alkó

© Miklós Salyámosys Erben Alle Rechte Vorbehalten.

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Budapester Beiträge zur Germanistik Herausgegeben vom Institutsrat Direktor Prof. Dr. Karl Manherz Tipográfia: SCIU Kft.

Nyomtatás és kötészet: Perfekt Nyomda

M . TU D . A K A D É M IA K Ö N Y V Á R A

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M iklós Salyám osy (géb. Budapest, 6. 12. 1926) war von 1963 D ozent, von 1987 bis zu seinem Tode (20. 03. 1990) Professor, am Lehrstuhl für deutsche Sprache und Literatur der Lorind-Eötvös-Universität Budapest und lehrte mehrere G enerationen von D eutschlehrern in Ungarn. Sein wissenschaftliches Interesse galt der deutschen Literatur nach 1945 sowie dem deutschsprachigen Roman des 20. Jahrhunderts. Seine an der Berliner H um boldt-U niversität verteidigte D oktordissertation Ungarische Lite­

ratur in Deutschland 1913-1933 wurde au f Ungarisch 1973 vom Budapester Akademie- Verlag veröffentlicht. Das Ergebnis seiner jahrzehntelangen Beschäftigung m it Le­

ben und W erk des naturalistischen Dram atikers und Erzählers W ilhelm von Polenz liegt in m ehreren Einzelstudien u n d in der M onographie Wilhelm von Polenz. Prosa­

werke eines Naturalisten (Budapest: Akadém iai Kiadó 1985) vor.

Vorliegende A rbeit ist eine um fassende U ntersuchu ng u nd eine neue Systema­

tisierung der deutschsprachigen R om anliteratur im ersten D rittel des 20. Ja h rh u n ­ derts. Für sie erhielt ih r Verfasser 1986 bei der U ngarischen A kadem ie der W issen­

schaften den Titel D o k to r scientiarium . Das M anuskript wurde vom B udapester Akademie-Verlag zur V eröffentlichung angenom m en. M iklós Salyámosy starb aber kurz vor dem A bschluß der Druckfassung. Die letzten K orrekturen w urden im Auf­

trag des Verlags noch du rch seinen F reund György W alkó durchgeführt. Aber die Privatisierung des Akademie-Verlages nach der politischen W ende füh rte zu einer langen V erzögerung u n d zuletzt zu einem V erzicht des Verlages a u f das R echt der V eröffentlichung. T ro tz der vergangenen vielen Jahre seit dem E ntstehen dieses Werkes h ält das G erm anistische In stitu t der Loränd-Eötvös-U niversität für seine Pflicht, diese große w issenschaftliche Leistung der Ö ffentlichkeit zu übergeben.

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Inhalt

I. V orgesch ich te...9 II. D ie Ideologen — D ie geistigen Wegbereiter

[Karl Marx, Friedrich Nietzsche, Ferdinand Tönnies,

Paul de Lagarde, Julius Langbehn, Oswald Sprengler]*...21 III. Gesellschaftlich-literarische Vorbedingungen

[W ilhelm von Polenz: Liebe ist ewig, Wurzellocker, Rainer Maria Rilke;

G erhart H auptm ann; Max Halbe u.a.m.] ... 61 IV. Der Jugendstil im organischen Prozeß der deutschen Literatur

[H einrich M ann: Die Göttinnen-, Frank Wedekind;

Die frühen Novellen Thom as M a n n s ]... 74 V. D ie Geburt des Romans aus dem Geist des Jugendstils

[H erm ann Hesse: Peter Camenzind, Thom a M ann: Buddenbrooks-, Felix H ollaender: Der Weg des Thomas Trucks-, Paul Ernst: Der schmale Weg zum Glück-, Carl H a u p tm an n: Einhart der Lächler,

H erm ann Hesse: D em ian]... 103 VI. Der W eltanschauungsrom an... 126 VII. Im U m feld des W eltanschauungsromans: Erzählungen

(Emil Strauß [: Freund Hein], H erm ann Hesse [: Unterm Rad\,

R obert M usil [: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß\)... 143 VIII. Verwandtes: zwei Klassiker

(R obert W alser [: Jakob von Gunten],

Franz Kafka [: Der Prozeß, Das Schloß]... 149 IX. D rei Romane: deutsche Identität im G eiste der Innerlichkeit

(Ernst W iechert [: Der Totenwolf, Der Knecht Gottes

Andreas Nyland\ und Emil Strauß [: Das Riesenspielzeug]... 158 X. D ie passive Innerlichkeit

[R udolf Borchardt: Vereinigung durch den Feind hindurch, E rnst W iechert: Das einfache Leben, Die Majorin, Die M agd des Jürgen Doskocil; W ilhelm Lehmann: Der Sturz a u f die Erde,

Georg B rittin g :Der törichte Knecht, H ans C arossa.D erA rzt G ion]...170

* [Die in eckigen K lam m ern angegebenen N am en un d Titel sind zu r O rie n tieru n g des Lesers vom H erausgeber hinzugefügt worden]

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XI. D ie klassischen Werke

[Thomas M ann: Der Zauberberg, Alfred D öblin: Berlin Alexanderplatz:,

H erm ann Hesse: Das Glasperlenspiel, Thom as M ann: Doktor Faustus]... 183

XII. Um schau und A u sb lic k ...214

A n m erk u n gen ... 218

Literaturverzeichnis... 232

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Vorgeschichte I.

Es ist ein G em einplatz der Literaturgeschichte, der als solcher nicht einm al m ehr begründet zu werden braucht, daß die neueste deutsche Literatur m it dem N atu ­ ralismus beginnt. Das Selbstverständliche verführt uns zur Oberflächlichkeit, nicht zu bedenken, was dieser Sachverhalt an gedanklichen Folgen enthält: Was begon­

nen hat, m uß auch enden, und wenn wir dieses Ende zeitlich n ich t bestim m en können, m üssen wir sagen, daß das dam als Begonnene auch heute noch besteht.

U nd gerade darum handelt es sich hier. W ir leben, was die deutsche Literatur be­

trifft, in der literarischen Epoche, die vor h u n d ert Jahren begann.

Diese Folgerung ist alles andere als selbstverständlich, wenn wir die verschie­

denen kontroversen Form en und die — a u f den ersten Blick jedenfalls — einander w idersprechenden Inhalte vor Augen halten, wie sie im Laufe der Zeit nach ein an­

der entstanden und vergingen. N ichts scheint weiter voneinander en tfern t zu sein als G erhart H au p tm an n s, Vor Sonnenaufgang au f der einen und Thom as M anns Der Zauberberg a u f der anderen Seite oder die frühen Gedichte von A rno H olz un d die

des reifen gottfried Benn. Wieso gehören sie in dieselbe Epoche?

In diesem ersten w irklichen oder scheinbaren W iderspruch liegt ein anderer.

K ann den n — d ürfen wir wohl fragen — eine literarische S tröm ung oder eine Pe­

riode als Beginn einer Epoche gelten, die in sich selbst kaum etwas Bleibendes her­

vorgebracht hat? A ußer einigen D ram en und der Novelle Bahnwärter Thiel von G erhard H a u p tm an n und der frühen Lyrik von A rno H olz gibt es kaum etwas, was heute außerhalb des engen Kreises der Experten bekannt wäre. Bei anderen, halb­

wegs zugänglichen P rodukten der Zeit wie den frühen D ram en M ax Halbes oder den N ovellen O tto Erich H artlebens müssen wir uns außerdem fragen, inwiefern sie relevante naturalistische C harakteristika aufweisen. N u r wenig k o n n te Urusla M ünchow an dieser Sachlage dadurch ändern, daß sie die R om ane von W ilhelm von Polenz in literarhistorische E rinnerung rief.1 N icht wesentlich anders ist es, wenn wir nach den G estaltungsm itteln fragen, die sich als Entdeckung oder E rru n ­ genschaft des N aturalism us a u f die ganze angeblich von ihm eingeleitete Epoche ausgewirkt h ätten bzw. seine diesbezügliche Bedeutung dadurch signalisierten, daß sie Epochenm erkm ale geworden wären. Als einziges und auch nicht besonders wich­

tiges wäre vielleicht der eine Zeitlang fast pflichtgem äße, auch später m ögliche G ebrauch der Dialekte und Soziolekte in der Personenrede zu nennen. Es gibt kein einziges, du rch den N aturalism us geprägtes Genre der Literatur des 20. J a h rh u n ­ derts, und in keiner G attung m üssen wir h in ter 1900 zurückgehen, wenn wir den Stam m baum einer Form oder einer poetischen Verhaltensweise nachvollziehen wol­

len.

W ieso d an n N aturalism us als Beginn der Epoche, die wir als L iteratur des 20.

Jah rh u n d erts bezeichnen?

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Die Auflösung dieser W idersprüche ist nur möglich, wenn wir im N aturalism us, genauer gesagt: in der Literatur des N aturalism us bzw. im literarischen N aturalis­

mus, n u r ein, wohl das sichtbarste Zeichen eines Erscheinungskom plexes sehen, der viel breiter u nd tiefer ist, als daß diese Literatur ihn adäquat widerspiegeln könn ­ te. Im m erh in birgt dieses Zeichen die unverkennbaren M om ente des Komplexes in sich.

Es geht um die E ntstehung der m odernen Industriegesellschaft in D eutschland, die hier später, deshalb zum Teil aber auch rasanter u nd massiver erfolgte als in vergleichbaren Ländern W esteuropas, und um die Begegnung dieses w irtschaftli­

chen und das ganze gesellschaftliche Gefüge erschütternden Prozesses m it dem Welt­

bild einer jungen und infolgedessen sensiblen und reaktionsfreudigen intellektuel­

len G eneration. N aturalism us ist in erster Linie nicht belletristische L iteratur und nicht einm al Essayistik und höhere Publizistik — das im m erhin noch eher —, son­

dern zeit- u n d ortsbedingter Bewußtseinszustand eines signifikanten Teils der Ge­

sellschaft, eben der dam aligen jungen Intelligenz. Das zeigen überzeugend gesell- schafts- un d kultursoziologische Begleiterscheinungen, die den N aturalism us von jeder späteren vergleichbaren Kulturbewegung unterscheiden. N aturalism us ist z.B.

zum indest ebensoweit Vereinsleben wie belletristische Literaturproduktion. Ein Blick au f die m ehr oder weniger bekannt gewordenen un d zweifelsohne zum Kern des N aturalism us gehörenden Vereine wie „D urch“ und den ihn ablösenden „Ethischen C lu b “ zeigt, daß wenigstens die H älfte ihrer M itglieder m it Literatur nichts zu tun hatte u n d im Sinne einer belletristischen oder sogar publizistischen A ktivität auch nichts zu tu n haben wollte, oder zur juristischen oder naturw issenschaftlichen In­

telligenz gehörte. Die d ort diskutierten Them en behandelten n ur zum Teil Literatur und Kunst. Den lebendigsten und m itreißendsten Bericht über die alltägliche W irk­

lichkeit, den für ih n jedenfalls hohen Geist des naturalistischen Tuns un d H an­

delns, über die P rotagonisten u n d den T roß des Berliner N aturalism us h at ein da­

maliger M edizinstudent und späterer G ehirnspezialist, Carl Ludwig Schleich, ver­

faßt.2 M an behauptete dam als schon, und heute ist es ein (richtiger) G em einplatz, daß sich der literarische N aturalism us vor allem im Stofflichen verwirklichte. W ir hören aber seltener, daß dieses Stoffliche sich am breitesten und in sachgerchtester Form nicht in der belletristischen Literatur, sondern in der höheren Publizistik und Essayistik, in M anifesten und Zeitschriftenartikeln artikulierte. N icht so sehr auf­

grund der schöngeistigen Literatur als vielm ehr der K ulturzeitschriften können wir dieses Stoffliche auffächern, d.h. eine W eltanschauung oder ein zeittypisches Be­

w ußtsein in ih rem /seinem konkreten In h alt beschreiben. Eine solche Auffäche­

rung oder them atische Beschreibung kann lauten: der P rim at oder die alles über­

treffende B edeutung der N aturw issenschaften, der Technik u nd der naturwissen- schaflichen W eltanschauung, ihre alles beherrschende W ichtigkeit unter den mensch­

lichen T ätigkeitsform en in der G estaltung der Welt, im Leben der Gesellschaft und des Individuum s, die Freiheit u n d /o d e r D eterm iniertheit des Individuum s, die Ab­

lehnung u n d B ekäm pfung der Philosophie, Literatur, Religion, K ultur und Sitten

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der unm ittelbaren Vergangenheit, die erhoffte u n d /o d er befürchtete Z u ku nft (auch letzteres gibt es!); die Erziehung der Jugend, das Schulwesen, das Bestrafungssystem und seine In stitu tio n en , die sexuelle Freiheit, die E m anzipation der Frau, das gei­

stige und physische Elend in den Industrievierteln, die B odenreform , die Land­

flucht usw. All das sind Probleme einer neu strukturierten Gesellschaft bzw. Form u­

lierung einer neuen Sicht a u f die Gesellschaft, die als Ü berbau eben dieser Gesell­

schaft entstand.

A ufgrund der jüngsten Forschungen und der Erschließung zeitgenössischer Be­

richte dokum entarischer Relevanz kennen wir sogar im Detail un d in sehr plasti­

schen Farben die G eburt dieses neuen Bewußtseins: den Prozeß, in welchem zu Beginn der 60er Jahre geborene junge Intellektuelle in überraschend ähnlicher Wei­

se und zu gleicher Zeit aus entsprechend ihrer Erziehung großdeutsch-national be­

geisterten und Bismarck ergebenen K indern der 70-er Jahre oppositionell gesinnte .N aturalisten’ wurden. Die Lebenswege näm lich, in die wir einen tieferen un d ge­

naueren Einblick haben, zeigen in ihrem inneren und äußeren A blauf und in ihren räum lichen und zeitlichen Begleitum ständen verblüffende Ä hnlickeiten. Wie A rno H olz ein N aturalist wurde, erfahren wir von H elm ut Scheuer.3 Als angehender D ichter „hat er sich Em anuel Geibel zu seinem Vorbild gewählt“ (20), u nd er selber äußerte, „Geibel war a u f der Schulbank unser G o tt“. (21) Sein m it O skar Jeschke zusammen herausgegebener Band Deutsche Weisen wurde Julius W olff gewidmet, einem anderen Repräsentanten der vornaturalistischen Zeit. (Dazu bemerkt O tto von Leix- ner 20 Jahre später: „H eute m utet uns drollig an, zu lesen, daß die G ediehe einem Julius W o lff ,in Liebe und V erehrung’ gewidmet sind.“4) O bw ohl kein Student, stand H olz in den jahren 1883 und 1884 m it dem konservativ-nationalen Verein D eutscher Studenten (VDSt) in V erbindung, und seine Schriften erschienen in der Kyffhäuser Zeitung, der dem Verein nahestehenden, ihm geistig verwandten studenti­

schen Zeitung. Der Beginn seines arbeiterfreundlichen sozialen Engagem ents läßt sich a u f die erste H älfte d esjahres 1884 setzen. Z um Jahreswechsel 1884/1885, da­

mals 21 Jahre alt, k an n seine W andlung zu m M itautor der A nthologie Moderne Dichtercharaktere (1885) und zum D ichter des nicht n u r in seinem Titel H eine nach- geiiihhen Buch der Z ^it als abgeschlossen betrachtet werden. Der Österreicher H erm ann Bahr k om m t A nfang 1884, ebenfalls 21 jährig, nach Berlin: „N och heute kehrt m ir, bei der bloßen E rinnerung, das H erzklopfen wieder, m it dem ich, April 1884, im A nhalter B a h n h o f ausstieg: in derselben Stadt zu sein wie B ism arck“ — schrieb er vierzig Jahre später.5 (167) (Diese Begeisterung für Bismarck beseelt ihn sogar noch zur Zeit der N iederschrift dieser Zeilen, also 1923!) Er tritt in den VDSt ein, ist im K am pf der studentischen G ruppierungen ein „unbedingter Bism ärcker“

(183), sein bester Freund ist W olfgang Heine, Redakteur der Kyffhäuser Zeitung und

„nationalsozial“ gesinnt: Deutschland sei auch das Vaterland der Arbeiter. Er nim m t an den Feierlichkeiten zum 70. G eburtstag Bismarcks am 31. M ärz 1885 teil und berichtet: „U nabsehbar war der Fackelzug. Ich schritt in den Reihen der Berliner B urschenschaft G erm ania m it. [...]. N u r noch als ich einer solchen E rschütterung

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teilhaft wie beim A nblick des däm onischen Junkers. [...]. Beim K om m ers, der au f den Fackelzug folgte, ließ ich m ir die Gelegenheit nicht entgehen, die G rüße der österreichischen Burschenschaft [an Bismarck] überbringend, m ich wieder einm al irredentistisch [d.h. im Sinne eines Anschlusses Ö sterreichs an das Reich] auszu­

toben [...]“ (184), so daß er vom Professor A dolph Wagner — einem der Berater Bis­

m arcks in n ationalö konom ischen Fragen — u n d einem R egierungsrat sich sagen lassen m ußte, daß D eutschland Österreich unbedingt als selbständigen Staat weiter bestehen lassen wolle. Von da an war H erm ann Bahr für die weiteren 80er Jahre einer der H auptideologen des Naturallism us.

H einrich H a rt erkennt über sich selbst u n d seinen B ruder m it vollem Bewußt­

sein des A ußerordentlichen und subjektiv Bedeutenden den Schritt vom N atio­

nalen zum Sozialen an: „[...] die W andlungen vom g e rm a n is c h e n Geist — [...], die zugleich a u f das Nationale und Soziale gerichtete Tendenz [der Modernen Dichtercharak­

tere], die waren einfach [von den Gebrüdern Hart] übernom m en.“6 (11) (Wir können hinzufügen, daß im V orw ort der A nthologie außer „wiedererwachte N a tio n a litä t“

oder „germanisches W esen“ die an die Klassik erinnernden, heruntergekom m enen Kraftwörter der Gymnasialbildung der 70er Jahre wie „das Faustische“ und das „Gött­

liche“ m ehrfach vertreten sind.) Die späteren N aturalisten waren — m eint H einrich H art — in den Jahren vor 1884 „alles andere als Stürm er un d D ränger. A rno Holz, Karl Henckell, Karl Bleibtreu verrieten in ihren ersten D ichtungen nichts von einem Ringen nach neuen Kultur- und Literaturzielen, ebensowenig H erm an n C onradi in seinen frühesten Versen [...].“ (56) „Bleibtreu [...] hatte bisher als D ichter sich n u r im Umgang m it W ikingern, N orm en und Skalden wohlgefühlt. [...]. Fast über Nacht hatte [er] sich zur realistischen, sozialen Poesie bekehrt.“ (61) Karl Henckell „war gut n ational gesinnt, als er zu uns kam; er hatte Bismarck besungen und das neue Reich. Die G roßstadt aber wandelte rasch seine G esinnung; das M itleid m it dem Elend, das er ringsum sah, wohl auch die Einw irkung unseres Kreises m achten ihn fast unverm erkt zum Sozialisten, zum W ortfü h rer der sozialistischen D ich tu ng.“

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Vielsagend, was die W irkung der gesellschaftlichen Erlebnisse und des Zeitgei­

stes betrifft, ist der Fall W ilhelm s von Polenz, da er im Gegensatz zu beinahe allen anderen nicht aus dem K leinbürgertum oder der kleinbürgerlichen Intelligenz, son­

dern aus dem sächsischen grundbesitzenden Uradel kam, deshalb auch oft als .Ari­

sto k rat’ und J u n k e r’ apostrophiert wurde, wenn auch nicht zu Recht. Seine Begei­

sterung für Bismarck stam m te aus der Zeit seines Freiwilligenjahres bei den Dres­

dener G ardereitern, dem nobelsten Kavallerieregiment des Landes. Berlin beein­

druckte den Ende 1883 als 23jähriger Student d ort Eintreffenden tief, sowohl durch seine Pracht un d G roßartigkeit als auch d urch die M öglichkeit der neuen sozialen Erfahrungen im Berliner Osten. Er trat dem VDSt bei, besuchte aber auch einen studentischen Freidenkerverein und setzte sich hier in einem V ortrag für das Prog­

ram m des sozialen D ram as ein. Als er im F rühling 1885 nach Leipzig zog, hatte er schon ein — bis heute unveröffentlichtes, zweifellos als Jugendw erk anm utendes —

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soziales D ram a im Gepäck, und von Leipzig aus meldete er sich im VDSt ab. „Ein offenbarer W iderspruch beherrschte dam als die W eltanschauung des Studenten.

Politisch ganz bism arckisch gesinnt, war er im übrigen radikal u nd lernte die gro­

ßen K ünstler der m odernen R ichtung im m er m ehr lieben. Zola, S chopenhauer, R ichard W agner, T olstoi, später N ietzsche und Ibsen waren seine Leitsterne.“7 Als er im O k to b er 1887 wieder nach Berlin kam, führte ihn sein erster Weg in den gerade dam als gegründeten Ethischen Klub, dessen aktives, später oft geschildertes M itglied er wurde; 1889 trat er m it einer Novelle an die Ö ffentlichkeit, die ihm einen giftigen un d angesichts seiner Zugehörigkeit zum Adel d enunziatorischen A ngriff kirchlicher Kreise einbrachte.

Die offensichtliche, durch die Gleichzeitigkeit noch auffallender zu Tage tre­

tende G em einsam keit dieser Bewußtseinsprozesse läßt sich au f drei auslösende Fak­

toren zurü ckführen: die G roßstadt Berlin, die E rfahrung der m it dem Proletariat zusam m enhängenden und politischen Problem atik der Zeit und die neuen Ideen bzw. D enk richtungen. D am it sie, und zwar in der bekannten spezifischen Form, wirksam w ürden, war ein Rezeptor nötig: die Intelligenz in Gestalt einer ihrer spezi­

fischen G ruppen, ihrer jungen, aufnahm efreudigen, geistig beweglichen und für die sinnlichen u n d gedanklichen Reize em pfänglichen G eneration m eist kleinbürger­

licher oder m ittelständischer H erkunft.

Die Intelligenz als objektives u n d relativ selbstständiges gesellschaftliches Ge­

bilde ist ebenso ein P rodukt der m odernen Industriegesellschaft oder — anders ge­

sagt — des w irtschaftlichen Prozesses, der zweiten industriellen R evolution wie die eigenartige K onzentration der Massen und der geistigen Kraft in der G roßstadt, diese k o n zentrierten Massen selbst und die Ideen, die die geistige K raft bewegten.

Sie als neues gesellschaftliches Gebilde ist ebenso das Produkt dieser Zeit, wie das P roletariat das P rodukt der ersten industriellen R evolution war. Da diese B ehaup­

tun g die soziologische G rundlage all dessen ist, was im weiteren ausgeführt werden soll, müssen wir ihr eine besondere Betrachtung widmen.

.O bjektiv’ in der definitorischen A pposition besagt, daß die m oderne Intelligenz durch die m aterielle Entw icklung der W irtschaft und der Gesellschaft hervorge­

bracht wurde. W irtschaft und Gesellschaft haben die u nerh ö rte Entw icklung der N atur- u n d der technischen W issenschaften, die Bildung der geistigen Elite und der M assen, die In stitu tio n e n dieser B ildung und A usbildung von den H ochschulen bis zu den unter der G eltung der allgemeinen Schulpflicht stehenden Volksschulen u nd als Q uellen der In fo rm atio n und M ittel der Bewußtseinsbildung die M edien, von den w issenschaftlichen und K ulturzeitschriften bis zu den überregionalen Zei­

tungen m it ihrer M assenauflage und den lokalen in ihrer insgesam t m assenhaften Anzahl benötigt u nd hervorgebracht. Sie brachten einen bisher unb ekan nten Mas­

senbedarf an geistigen A rbeitern m it sich, von den W issenschaftlern, Forschern u n d Ingenieuren über die H ochschul- und V olksschullehrer bis zu den M itarbei­

tern der Presse. Das besagt m it anderen W orten, daß am Beginn des N euen in der Gesellschaft ein zahlenm äßiges W achstum innerhalb der G esam tm enge, also die

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p ro p o rtio n ale Q u a n titä t stand, die dan n in der Form von W eltanschauung und geistigem H andlen in Q ualität um schlug. Die Eigenart dieser neuen Q u alität, der W eltanschauung und des H andelns, besteht einerseits darin, daß sie m it dem W elt­

bild und der geistig-m oralischen Verhaltensweise der grundlegenden Klassen der Epoche n ich t identisch ist u n d aus deren Sein nicht abgeleitet werden kann, u n d andererseits darin, daß sie nicht m ehr als die Repräsentanz einer aufstrebenden und herrschenden Klasse angesehen werden kann wie die W eltanschauung der bisheri­

gen Intelligenz — sie gab es natürlich im m er — in der G eschichte u n d K ulturge­

schichte der M enschheit, zuletzt in der großen Epoche des bürgerlichen Aufstiegs von der Renaissance bis zur Klassik. Das war oben m it dem A ttrib u t .relativ selb­

ständig’ gemeint.

Dies alles ist n ich t neu, n u r m ußte es in dieser Klarheit u nd in dieser ap o d ik ti­

schen Form ausgesprochen werden, dam it es den im weiteren w esentlichen G edan­

kengängen u n d Schilderungen als G rundlage dienen kann. W ie näm lich dieser w irtschaftliche u n d gesellschaftliche Prozeß m it seinen soziologischen u nd gei­

stigen Folgen im allgem einen zur K enntnis genom m en wird, m acht ih n für die Verwendung in dieser Arbeit unbrauchbar. Es geht darum , daß praktisch in jeder U ntersuchung zur K ultur oder Literatur des 20. Jahrhunderts, die a u f soziologische Absicherung A nspruch erhebt, m it dem Begriff .Intelligenz’ als zu m in dest einer geistig k onturierb aren E ntität gerechnet wird, was natürlich ih r objektives, d.h.

gesellschaftliches Sein voraussetzt. N ur geht man über die begriffliche Klärung ihrer gesellschaftlichen O ntologie hinweg, spielt ihre Bedeutung herunter oder verfälscht sie sogar dadurch, daß m an durch eingrenzende u n d /o d er despektierliche Adjektive wie .kleinbürgerlich’, .bürgerlich’, .schriftstellerisch’, .künstlerisch’, .oppositionell’, .kritisch-bürgerlich’ u.a. die in den Aussagen auch ohne bew ußte A bsicht behaup­

tete gesellschaftliche und w eltanschauliche Signifikanz gleichsam zu rü ckn im m t und das V orhandensein ihrer allgem einen Existenz im gesellschaftlichen Gefüge leugnet, indem nachträglich oder gegenwartsbezogen der gesamten Intelligenz oder ihren einzelnen G ruppen vorgeworfen wird, nich t im Sinne der vom jeweiligen Verfasser für richtig gehaltenen Auffassung gehandelt zu haben oder zu handeln.

Dazu dient u.a. auch das Adjektiv .parasitär’.

H ier kann keine erschöpfende Gesam tschau der L iteratur zu dieser Frage ge­

geben werden. Ich m öchte jedoch am Beispiel einiger für repräsentativ gehaltener U rteile veranschaulichen, was ich meine.

Im K ontext dessen, daß die Bourgeoisie nach 1848 in der F urcht vor dem Pro­

letariat ihre A nsprüche a u f die politische H egem onie aufgab, lesen wir: „U nd da nicht n u r die Bourgeoisie selbst diesen Weg einschlägt, sondern — m it wenigen und, m an kann sagen, sich im m er m ehr verm indernden A usnahm en — auch die b ü r­

gerliche Intelligenz, ist es kein W under, daß die ideologischen Folgen dieser W and­

lung sehr tiefgreifende sein m üssen.“8 Für eine etwas spätere, also gerade die hier behandelte Zeit soll der folgende Satz gelten: „A uf die Preisgabe des bürgerlichen H um anism us als K ulturideal — und hierin zeigt sich nichts anderes als die liqui­

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dierung des revolutionären A nspruchs der bürgerlichen Klasse — reagiert die lite­

rarische Intelligenz m it der V erabsolutierung und R adikalisierung ihres eigenen A nspruchs a u f Selbstverw irklichung“9 und: „Die M assenfeindlichkeit dieses K on­

zepts [Friedrich Nietzsches] [...] ist nicht für diesen allein bezeichnend. Sie ver­

bindet ih n vielm ehr m it jener bildungsbürgerlichen Intelligenz des vorim peria­

listischen u n d im perialistischen D eutschlands, die — p ro p o rtio n al zur Vergröße­

rung dieser Massen, ihrer Ausbeutung und O rganisierung — die A usrichtung an der A ristokratie nicht n u r politisch sucht, wie die bürgerliche Klasse aus Angst vor der Arbeiterklasse seit der M itte des Jahrhunderts ohnehin, sondern auch ideologisch.

George und Rilke sind dafür m arkante Beispiele.“10 In den drei Zitaten werden drei verschiedene Adjektive („bürgerlich“, „literarisch“, „bildungsbürgerlich“) verwandt, und alle drei dienen dazu, die G eltung der m itgem einten, aber n ich t ausgespro­

chenen B ahauptung, daß es näm lich eine von der Bourgoisie unabhängige E ntität gibt, einzuschränken. Dies geschieht verm utlich u n ter dem D ruck einer V erdrän­

gung: W enn das objektive Sein und das gesellschaftlich-strukturelle V orhandensein der Intelligenz ohne Beschränkung akzeptiert würde, m üßte ihr auch die Kategorie eines Verhaltens, also eines A ktionsm odus und einer W eltanschauung aufgrund dieses Seins zuerk an n t werden wie sonst allen klassenm äßigen G ebilden. A nerken­

nung der Eigenständigkeit, der spezifischen F unktion und m oralische Verurteilung gehen auf der entgegengesetzten Seite des weltanschaulichen Spektrums in erschrecken­

der und trivialer Weise H and in H and: „W enn ich so die intellektuellen Schichten bei uns ansehe, leider, m an braucht sie ja; sonst könnte m an sie eines Tages ja, ich weiß nicht, ausrotten oder so was.“11

Es gibt auch definitorische Beschreibungen ohne das gesellschaftliche M om ent, die sich des m oralischen Urteils enthalten und latent von der relativen Selbständig­

keit ausgehen, ohne dies explizit zu erklären. Lucien G oldm ann spricht von den K ünstlern des W ortes, also, m it einem anderen T erm inus, von der .literarischen Intelligenz’; er m eint aber die schöpferische Intelligenz, wie wir es gleich sehen werden. Ihre Bewußtseinsarbeit denkt er als eine „außerhalb des Kollektivbewußtseins“12 (34) vor sich gehende, was uns zunächst als richtig un d ferner als die Bestätigung ihrer Eigenart erscheint. Er setzt „die Existenz einer A nzahl von Individuen inner­

halb [der] Gesellschaft, die wesentlich problematisch sind, und zwar in dem Maße, wie ih r D enken und Verhalten vom Streben nach qualitativen W erten beherrscht ist [...]. Zu dieser Art Individuen gehören vor allem die schöpferischen, also Schrift­

steller, K ünstler, P hilosophen, Theologen, Tatm enschen etc., deren D enken und Verhalten vor allem von der Q ualität ihrer Werke bestim m t wird, ohne daß sie sich jedoch der W irkung des Marktes in der verdinglichten Gesellschaft a u f ihr Bewußt­

sein gänzlich entziehen k ö n n ten .“ (34) Er sagt auch; „In der m arktproduzierenden Gesellschaft sind Schriftsteller und Künstler [...] problem atische und d.h. kritische, im Gegensatz zur Gesellschaft stehende G estalten.“ (39) W ir sprechen n ich t von Individuen oder Gestalten, sondern von einem Gebilde innerhalb der Gesellschaft, und wollen auch in den geistig oder künstlerisch schöpferischen Ind iv idu en n u r

(18)

einen w eltanschaulich m arkanten Teil dieses Gebildes sehen. W ir bezeichnen als C harakteristika der Intelligenz die Fähigkeit, die Welt als D enkobjekt zu erleben (was zugleich die A bneigung oder U nfähigkeit involviert, sich zu ihr als zum Feld des organisierten H andelns zu verhalten), und ihr Streben nach nich t m ateriellen W erten. W enn wir das hervorgehobene W ort „problem atisch“ u n d den Ausdruck

„ihr Denken und Verhalten ist vom Streben nach qualitativen W erten beherrscht“

richtig verstehen, entspricht dies der Beschreibung Lucien G oldm anns. Beschreibung oder A ufzählung von spezifischen Eigenschaften ist die B ehauptung des V orhan­

denseins einer E n tität innerhalb der Gesellschaft, deshalb führen wir noch einige M einungen an: „[...] Feindschaft gegen die zeitgenössische U m w elt“ ist „natürlicher seelischer H aushalt der Intellektuellen“ m it „an- und abschwellendem R hythm us in der Z eit“.13 Der Hinweis a u f die Vergeistigung der W elt im allgem einen und der W elt in dieser A rbeit im besonderen ist für uns in der folgenden These Georg Lukács’ bem erkenswert (wobei wir die Geste der m oralischen V erurteilung — wie schon angedeutet — nicht teilen können und als gegenstandsfrem d ablehnen): Die

„U nsicherheit, die sich für den Arbeiter in brutaler M aterialität zeigt, erscheint für den bürgerlichen Intellektuellen in einer .sublim ierteren’, weitaus weniger u n m it­

telbaren Form. Die im m er offenbarere D iskongruenz“ zwischen dem Sein und den ideologischen Form en „zeigt sich dem bürgerlichen Intellektuellen als ein Janus­

k o p f der vollständigen Freiheit, des berauschenden Gefühls, ganz a u f sich selbstge­

stellt zu sein [H evorhebung von m ir, M.S.], einerseits und einer trostlosen Verlas­

senheit andererseits.“14 Als A bschluß der Zitatenreihe soll eine A rt gedanklich sehr anschaulicher A ufzählung stehen: „caratéristiques constantes [des intellectuels] [...]:

les goûts par excellence intellectuels, l’esprit ouvert, la faculté d ’avoir une vue d ’en­

semble des choses [...], un p endant naturel, mais quelquefois dém esuré à accorder trop d ’im portance à l’individu, à creer et à fragm enter rapidem ent des groupes, et à afficher une attitu d e qui, sur le plan politique, frôle l’anarchism e“.15

W ir wollen diese A uflistung der möglichen gesellschaftsrelevanten — nicht „klas­

senspezifischen“, weil wir uns nicht a u f den K lassencharakter der Intellektuellen festlegen wollen — Eigenschaften der Intelligenz weder aus frem der noch eigener Feder fortsetzen; sie war schon in den angeführten Zitaten enthalten: M ittel der W illensbildung und eventeullen Zweckverwirklichung der Intelligenz sind im Ge­

gensatz zur m odernen Arbeiterklasse nicht die w irtschaftliche u nd politische Orga­

nisation und die jeweilige A ktion, sondern das Denken, die gedankliche und em o­

tionelle A ufbereitung der W elterfahrung un d das W ort, u n ter anderem das künst­

lerische.

Die Einheit der mit dem N aturalism us einsetzenden literarischen Epoche besteht in erster Linie in der H om ogenität der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und struk­

turellen Basis der Literatur seit den 80er Jahren des 19. bis hinein in die 80er Jahre des 20. Jah rh u n d erts. Diese Basis wird a u f ihren verschiedenen Ebenen durch die im wesentlichen sich gleichbleibende S truktur der m odernen Industriegesellschaft und dadurch bestim m t, daß die Trägerin der Literatur die durch diese Gesellschaft

(19)

hervorgebrachte Intelligenz ist. Trotz aller äußerlicher Unterschiede, die gegebenen­

falls beträchtlich sein und sogar als Gegensätze erscheinen können, besteht eine inhaltliche G emeinsam keit als wichtigstes Epochenm erkm al und führen Genres ihr kontinuierliches Leben als epochenspezifische Formen trotz aller Periodengrenzen u n d über sie hinweg. In ihrem Lichte sind die Periodenm erkm ale R anderscheinun­

gen. Was bedeutet Expressionism us oder Neue Sachlichkeit für das W erk Thom as M anns, H e rm an n Hesses, Rilkes oder Benns? Sehr wenig oder nichts.

Es geht in diesem In h a lt um die Problem atik des Individuum s in einem epo­

chenspezifischen Sinne.

D arum ging es auch den naturalistischen Literarten, wenn das auch ihnen selbst, geschweige denn denen, die von ihnen etwas ganz anderes erwartet h atten, n ich t im m er bew ußt war. Franz M ehring versuchte in ihnen, vorn eh m lich in G erhart H a u p tm an n , D ichter zu sehen, die sich in den D ienst der großen proletarischen Sache stellten, u n d die anderen führenden Köpfe der Sozialdem okratie erwarteten von ih n en einen Beitrag zum w irtschaftlichen u nd politischen Kam pf, wenn sie sich überhau pt über die Frage,Kunst und Proletariat’ Gedanken m achten, während d icNeue Welt, die K ulturzeitschrift der Sozialdem okratie für die breiten Massen des Proletariats, brav die R om ane Georg von O m ptedas druckte. U nd die A utoren ver­

suchten, in jugendlichem Drange, durch die Integrierung all des N euen, dem die frühere G eneration n u r U nverständnis, S pott un d A blehnung entgegenbrachte, sich selbst zu verwirklichen.

Bis heute wird im m er wieder die Frage debattiert, wer schuld daran war, daß L iteratur u n d Arbeiterbew egung nicht Zusammengehen k onnten. Z uletzt h at H el­

m u t Scheuer sehr kenntnisreich und nüchtern ein gerechtes U rteilo d arü b er ge­

fällt.16 Es kann natürlich nicht um Schuld gehen, sondern n u r um U rsachen. U nd die liegen in den ganz anderen Erw artungen und In ten tio n en , deren Gegensätz­

lichkeit — zugegeben — eine kurze W eile verdeckt blieb u nd kurz darauf, im m er noch bei wechselseitigem M ißverständnis, zu heftigen K ontroversen führte.

Es sagt viel aus, daß die den N aturalism us überw indenden Literaten sich gegen­

über der S ozialdem okratie im m er wieder a u f .U nifo rm ieru n g ’, .N ivellierung’, au f die U nm öglich keit der Freiheit bei G leichheit aller, a u f die U n ann ehm b ark eit der P arteidisziplin berufen. H erm ann Bahr, Fahnenträger des N aturalism us u n d Ur­

heber der Parole .Ü berw indung des N aturalism us’, schrieb 30 Jahre später: „N och bevor wir die F orm ulierung bei Nietzsche fanden, lebten wir .jügsten D eutschen’ ja längst schon jenseits von G ut und Göse.“17 Leo Berg, der klarstdenkende Theore­

tiker des N aturalism us, beschrieb diesen zu seiner Blütezeit in einer in authentischen Literaturgeschichten bis heute geltenden Form: „Ich bestim me ihn als: Rückkehr zur N atur, als A n näherung an die N a tu r und als Zeichen der ,Zeit der N aturw issen­

schaften’, d.h. als den speziellen A usdruck der m odernen W eltanschauung, ins­

besondere der sozialen Bewegung.“ 18 (4) Z ur gleichen Zeit w iderspricht er sich und liefert uns eines der Leitwörter der ganzen nachnaturalistischen Literatur: „Das m o­

derne K unst-Problem ist [...] weder die Welt noch die Idee [H ervorhebung von m ir, M.

17

(20)

S., auch weiter], sondern der M ensch, der a u f sich selbst gestellte Mensch“ (92) und;

„H eute [...] setzt jede K unst ein, wo die Alten schüchtern H alt m achten: heute ist m an stolz un d m utig genug, a u f sein Ego den Akzent zu legen, um sich die W elt sich drehen zu lassen.“ (90) Seinem Buch über den N aturalism us hat er als M otto ein Z itat von Friedrich Nietzsche vorangestellt.

In neuerer Zeit verdanken wir Georg Lukäcs die klar form ulierte Erkenntnis, daß die N aturalisten in ihrem program m atischen Streben vor allem ihre eigene Indivi­

d u alität ausleben w ollten.19 In jüngster Zeit ist dies, m it verschiedenen N uancie­

rungen, m it dem U n terto n einer gesellschaftlichen V erurteilung oder in der Form objektiv-nüchterner Tatsachenfeststellung, eine oft vertretene These, deren A uroren nicht einm al m it der M öglichkeit eines W iderspruchs rechnen. Einige dieser Äuße­

rungen sollen hier angeführt werden. Dabei scheint nich t unw ichtig zu sein, daß in den soziologisch intendierten von ihnen im Sinne der oben behanndelten Auf­

fassung über das Vorhandensein eines neuen gesellschafdichen Gebildes nich t m ehr von N aturalisten, sondern von der „Intelligenz“, m it oder o h n e Adjektiv, gespro­

chen wird. So z.B. bei K urt Sollm ann: „Die objektive Gegensätzlichkeit der au f die R ettung des beschädigten büergerlichen Subjekts orientierten Interessen der Intel­

ligenz gegenüber denen des Proletariats — a u f der theoretischen Ebene bestenfalls pathetisch überspielt, a u f der praktischen und literarischen durch einen dem onstra­

tiven A rbeiterkult u n d die Favorisierung subproletarischer Them en verschleiert—, m achte die Beziehungen der Intelligenz zum Proletariat von v orn h erein als auf­

gesetzt, labil und vor übergehend erkennbar.“20 Das wird an h an d B runo Willes festgestellt. Ä hnlich heißt es über A rno Holz: Es „zeigte sich von A nfang an, daß sowohl die dichterische Praxis in der Art der m itleidsvollen Arm eleutepoesie wie auch die theoretische Klärung des Verhältnisses zur Sozialdem okratie a u f die Be­

hauptung der subjektiven Interessen der oppositionellen Intelligenz fixiert blieb“21, oder die N aturalisten im allgemeinen: „In der Erweiterung des Kanons literarischer Sujets um den Arbeiter und dessen M ilieu sahen sie eine M öglichkeit, ihre eigenen H offnu ngen und Sehnsüchte artikulieren zu können: der A rbeiter a u f dem Papier als S prachrohr des oppositionellen B ürgertum s“22, wobei „oppositionelles Bürger­

tu m “ im nächsten Satz auch hier durch „opposotionelle Intellektuelle“ korrigiert bzw. präzisiert wird. M it der Prägnanz des die M aterie souverän beherrschenden Experten form uliert H elm ut Scheuer: „M it der G lorifizierung des Individualism us akzeptierten sie [die Naturalisten] die gesellschaftliche E ntfrem dung und stilisierten sie zur notwendigen Rolle des Dichters — oder auch der Intellektuellen — um .“23 W ir weisen au f die bahnbrechenden und so gut wie vergessenen U ntersuchungen Samuel Lublinskis hin, weil er ziem lich früh, M itte des ersten Jahrzehnts unseres Ja h rh u n ­ derts, neben der Suche nach der Individualität als einer Säule der naturalistischen Verhaltensweise, die er übrigens „G enietum “ n enn t und — auch eine frühe E rkennt­

nis — u n ter anderem aus der geistigen Erbmasse der Klassik ableitet, n ich t denn Sozialismus oder die Sozialdem okratie als Orientierungsgrndlage setzt, sondern die

(21)

„Industrieentw icklung“ als tiefsten G ru n d dieser N euorien tierun g u n d als über­

geordnete Kategorie betrachtet.24

Die U m formulierung der tragenden Strukturelemente des Naturalismus bei Samuel Lublinski ist desto berechtigter, als wir erkennen müssen, daß Sozialismus, genauer:

.Sozialistisches’, n u r ein ideologisches (und zum Teil künstlerisches) Versuchsfeld der N aturalisten u n d die A rbeiterthem atik auch n u r eines der vielen Them en war, die sie als neue für die L iteratur entdeckt haben; wenn auch das Auffällligste und das Geeigneteste, das Image einer geistigen und künstlerischen Erneuerungsbewe­

gung auszuprägen. W ir dürfen doch nicht vergessen, daß der A rbeiter u n d die Ar­

beiter als Gegenstand der Darstellung und Ideenträger des Werkes außer der frühen naturalistischen Lyrik n u r in einem einzigen Stück der naturalistischen Zeit {Die Weber) und der werktätige Bauer bzw. die Landarbeiterschaft in einem einzigen Roman von größerer W ichtigkeit (Der Büttnerbauer) zu W ort kom m en, wie übrigens der Verfasser des letzteren die empfangenen sozialistischen Impulse am ernstesten nahm und am längsten behielt und die W endung seiner ehemaligen M itstreiter zu Nietzsche nie vollbrachte. Sonst aber sind A rbeiter nur Staffage und dabei oft genug befrem d­

lich, ablehnend, lustspielhaft oder m it einem negativen m oralischen Vorzeichen dargestellt. In einem beträchtlichen Teil der dam als repräsentativen, seitdem aber so gut wie vergessenen naturalistischen L iteratur tritt die w irkliche Substanz klar hervor, näm lich die meistens unbändige, m anchm al sogar anarchistisch anm utende Suche nach einer neuen Identität des intellektuellen Individuum s, wie in den Rom a­

nen von M ichael G eorg C onrad oder H erm ann C onradi.

Das ideologische Vehikel dieser Substanz war seit Beginn der 90er Jahre das Be­

kenntnis zu und die Begeisterung für N ietzsche. Dieser b lo ß oberflächliche bzw.

in der äußeren Form um die Substanz herum eingetretene W ende soll hier n u r m it einem einzigen Beispiel exemplifiziert werden: m it dem Weg vom M itwirken in der Sozialdem okratie zu Nietzsche. B runo Wiille, der „au f dem E rfurter Parteigtag von 1891 aus der Partei ausgeschlossen wurde, verlieh einer ganzen G eneration von .Sozialdem okraten’, Linksexpressionisten, A narcho-Sozialisten u nd S tirnerianern A usdruck, als er in seiner Philosophie der Befreiung durch das reine M ittel (1894) die Erschaffung des ,V ernunftm enschen’ forderte und u n ter direktem Bezug a u f N ietzsche behauptete, es sei ihm ,ein H ochgenuß [...], die M enschen un d die W elt zu form en nach einem Idealbilde’.“25

M it einem .genialen Irrtu m ’ wollen wir den Kreis dieser Betrachtungen über das gesellschaftlich-geistige Wesen des N aturalism us zu ihrem A usgangspunkt zurück­

führen: Was H e rm an n Bahr als N ietzscheanertum ohne N ietzsche-K enntnis be- zeichnete, vollzieht Franz Pfem pfert durch einen Irrtu m in den Fakten nach un d m it einer g rund richtigen E rkenntnis, was den eigentlichen In h alt betrifft: „M itte der achtziger Jahre w ar’s. Von dem G ew ittersturm der Ideen eines N ietsche auf­

gerüttelt, hatte eben das .grüne D eutschland’ seine ersten B arrikaden des Geistes errichtet und stand n u n gerade drin in seiner .Revolution der Literatur’.“26 Irrtüm -

(22)

lieh an dieser E rinnerung, M einung und Feststellung ist das, was sie von H u n ­ derten ähn lichlautender unterscheidet: die frühe, zu frühe A nsetzunng des u n m it­

telbaren Einflusses Nietzsches a u f die Literaten. W ahr ist dasran, daß das Denken, das innere H andeln, der dum pfe D rang, das m oralische Streben, die geistige u nd künstlerische Suche, die fieberhafte N euorientierung der N aturalisten, ih r ganzer gesellschafts-, kultur- und literaturh istorisch relevanter H abitus, ih r Subjekt also bestim m t wurde von V eränderungen in der objektiven W elt, die bei anderen und in anderen A rtikulatonsform en des Bewußtseins viel früher geistige Gestalt ange­

n om m en hatten.

(23)

D ie Ideologen — Die geistigen Wegbereiter II.

Den G esam tkom plex dieser V eränderung nennen wir die In du strierevo lu tion zu­

nächst in E ngland, dan n in den anderen entwickelten Ländern W esteuropas, fast zuletzt in D eutschland. Die ersten Zeichen einer Reaktion, die un m ittelb ar a u f sie zu rü ckzufü hren sind, waren im Bereich der K unst die Versuche der Präraffaeliten in England, dem Bild und der W irklichkeit einer aufkom m enden W elt die Vorstel­

lung des Scheins einer anderen entgegenzusetzen. Es ist n u r natürlich, daß im ersten größeren W erk Friedrich Engels’, das dem ausgereiften neuen Geist zuzurechnen ist, als A nschauungsm aterial und G rundlage für einen radikal neuen W eltentw urf das Bild der Lage der Arbeiterklasse in England dient. Die m ächtigsten, folgenschwersten u n d ih rer B edeutung nach frühesten A ntw orten a u f die H erausforderung des Gei­

stes u n d des W illens stam m en von Karl M arx u n d Friedrich Nietzsche.

Das entscheidende M erkmal der neuen W irklichkeit war für M arx die Verelen­

dung der Volksmassen, für Nietzsche die Vermassung der M enschheit. Die beiden W örter bedeuten nich t dasselbe, gehen aber in einem übersichtlichen Beziehungs­

feld a u f die gleiche Erscheinung zurück und bezeichnen zwei Aspekte eines P häno­

mens. Im Prinzip und in einer hoch genug gelagerten A bstraktion ist auch ihr Telos gem einsam oder wenigstens vergleichbar: bei M arx die Gewährleistung der Entfal­

tungsm öglichkeiten des Individuum s durch die wirtschaftliche und gesellschaftliche Befreiung der M enschheit und bei Nietzsche die Rettung der m enschlichen Persön­

lichkeit. An diesem P unkt hören die einfachen Vergleichbarkeiten auf. M arx schafft für seinen m oralischen Im petus wissenschaftliche G rundlagen im Bereich der Polit­

ökonom ie, der Geschichts- und der System philosophie, N ietzsche h o lt sich den letzten erkennbaren G rund seines Gedankenbaus, der übrigens keineswegs so syste­

matisch wie bei Marx ist, aus dem Darwinismus: er sucht sich einen Ansatz und auch noch G edankenstützen aus dem psychologisch angereicherten biologischen D en­

ken darw inistischer Provenienz.

Abgesehen von den gedanklichen Ansätzen unterscheiden sie sich in ih rer gei­

stigen Veranlagung: M arx ist vor allem W issenschaftler, N ietzsche ist D ichter — so sehr D ichter, daß seine Sätze oft keinen oder keinen prim ären gedanklichen Sinn haben, sie sind Bilder m it vorwiegend gefühlsm äßigem Inhalt. So weit ist er aber auch P hilosoph, daß er seinen G efühlen un d Gedanken, seinen gefühlsbeladenen V isionen u n d hym nischen Prophetien auch einen gedanklich faßbaren u nd als ge­

danklicher H in terg ru n d dienenden R ahm en gibt. Er sucht nach dem A rtspezifi­

schen im M enschen un d findet es im dem M enschen eigenen Movens des Lebens­

kampfes und in der Auslese, im Trieb zum „Willen zur M acht“. Das ist ein zeitge­

mäßer, dem Geist und Inhalt des naturwissenschaftlichen Denkens seiner Zeit eben­

so entsprechender A nsatz wie das Vererbungs- und M ilieugesetz des gleichfalls zu­

nächst Dichters un d n u r nebenbei Denkers ¿m ileZola. Es entspricht auch der Denk-

(24)

art seiner Lebensjahrzehnte, daß er diese Eigenschaft, den Trieb u nd seine Stärke in den verschiedenen Exemplaren der Spezies Mensch — um bei dem auch von Nietzsche übernom m enen darwinistischen Vokabular zu bleiben — in unterschiedlichem Maße vorhanden denkt.

So viel zu den W elterklärungsansätzen und dem gedanklichen R ahm en. Ih r V orhandensein schm älert nicht die B edeutung des dichterischen Anteils im inn e­

ren Gefüge des Nietzscheschen Oeuvres. Diesem D ichterischen müssen wir zurech­

nen, daß wir bei einer rein rationalen Analyse u nd A usdeutung im m er wieder auch innerhalb eines Werkes oder in einer zeitlich zusam m engehörenden W erkgruppe a u f W idersprüche stoßen und m it vielem bei ihm verfahren m üssen wie m it M eta­

phern, die n atü rlich meistens auch einen gedanklichen Kern haben, deren wesent­

licher In h alt aber im bildhaft gestalteten G efühlsm äßigen steckt. D er schon u nter den frühen Nietzsche-D eutern erwähnte und durch seine K larsicht hervorragende Samuel Lublinski hat „klar herausgestellt“, „daß der D arw inism us Nietzsche ,als Gleichnis gedient’ habe“,27 und in unseren Tagen sagt R ainer W uthenow : „Es ist [...] nicht zu übersehen, daß in Nietzsches absichtsvoll unsystem atischer Verfahrens­

weise die einzelnen Bem erkungen n u r selten defmitorischen, oft aber erkundenden und erprobenden, also essayistischen Charakter zeigen und daß natürlich in ihnen auch W idersprüche ihren Platz haben.“28

M arx beeinflußte den weiteren Gang der W elt a u f den verschiedensten Gebie­

ten, nich t zuletzt im Geistigen, vor allem im Literarischen, wie kaum ein anderer in der W eltgeschichte. N ietzsche kaum weniger, aber n u r im G eistigen un d vor allem im Literarischen, und darin wiederum vor allem in der deutschen Literatur.

M arx’ spezifisch literarische W irkung ist bedeutend, sowohl direkt, indem seine Ideen literarisch bearbeitet w urden, als auch indirekt in der Form der Darstellung einer W irklichkeit, die sich nach seinen Ideen formte, als auch — u nd nicht zuletzt — in einer anderen indirekten Art, indem überall, vornehm lich in der deutschen Lite­

ratur des 20. Jahrhun derts, a u f seine Ideen oder die durch sie herbeigeführte W irk­

lichkeit polem isch Bezug genom m en wird oder sogar ganze Erscheinungskomplexe wie z.B. der Expressionism us ääcA als eine A useinandersetzung m it ihnen aufgefaßt werden können. Dieser E influß und sein W irken in der L iteratur ist nich t Gegen­

stand dieser A rbeit, so daß wir uns diesbezüglich m it diesem einzigen Hinweis be­

gnügen wollen. Dagegen wird die M itgestaltungsw irkung Nietzsches (und anderer) unverzichtbarer Bestandteil künftiger U ntersuchungen in unserer Arbeit. Deshalb ist es unum gänglich, etwas konkreter und ausführlicher d arau f einzugehen, was er gedacht u nd gesagt hat. Dabei wollen wir uns aus dem bis in die jüngste Vergangen­

heit heftig geführten Streit um die direkte K o n tin u itä t seiner G edanken in der geistigen Geschichte u n d /o d e r Vorgeschichte des Faschismus oder des h u m an isti­

schen Denkens heraushalten. Diesbezüglich hat m an schon alles gesagt, oh n e zu einem von allen akzeptierten und nicht m ehr wandelbaren U rteil zu kom m en, und ein Ende der A useinandersetzung ist nicht abzusehen. Gleichfalls wollen wir ver­

m eiden, eine nochm alige Zusam m enfassung seiner G edanken u nd G efühlsäuße­

(25)

rungen zu versuchen. Das hoffen wir tu n zu kö nnen, indem wir uns zwar im Z u­

sam m enhang seiner G esam tlehre n u r das zu vergegenwärtigen suchen, was in dem hier zu behandelnden Bereich der Literatur wirksam geworden ist. Bei einem Über­

blick m it dieser Zielsetzung fällt auch die N otw endigkeit weg, bei der H eerschau seiner prägnanten Sätze d arauf zu achten, aus welcher Zeit, d.h. aus welcher der zwei oder — nach anderen — drei Perioden seiner öffentlich-literarischen Tätigkeit, sie stam m en: bei der R ezeption spielte dies keine Rolle.

E ntsprechend unserer schon angedeuteten V orstellung über die E ntstehungs­

und In h a ltsstru k tu r sehen wir am A nfang u n d im M ittelp un kt des eher dich teri­

schen als p hilosophischen Denkens und Fühlens Nietzsches das Problem des Ge­

fährdetseins der m enschlichen Persönlichkeit bzw. eine A potheose ihres Ideals;

ihm schwebt „eine an sich möglich thöchste Möglichkeit und Pracht des Typus Mensch“29 vor, die bis d ahin niem als erreicht wurde. Der M ensch der Gegenwart ist eingeengt;

sogar die Bevorzugten seiner Zeit, die Gelehrten u nd Philosophen, die geistig H öher­

stehenden „stellen sich jede N otw endigkeit als N ot, als peinliches Folgen-m üssen und Gezwungen-werden vor; und das D enken selbst gilt ihnen als etwas Langsames, Zögerndes, beinahe als eine M ühsal u n d oft genug als ,des Schweißes der Edlen w ert’ — aber ganz u n d gar nicht als etwas Leichtes, G öttliches un d dem Tanze, dem Ü berm ute Nächst-Verwandtes“.30 Der M ensch müsse sich selbst neu schaffen: „Die Sorglichsten“, sich also der G efährdung des M enschen Bewußten, „fragen heute:

,wie bleibt der M ensch erhalten?’ Z arathustra aber fragt als der Einzige u n d Erste:

,wie wird der M ensch überwunden?’“31 Die konkretere B eschreibung des von ihm gew ünschten Ideals des M enschen m ündet meistens im Bildes biologistisch meta- phorisierten h ö heren Menschen, der nach seinem innersten Wesen und der eupho­

rischen Ausschmückung entkleidet dem autonom en oder m oralischen M enschen bei Kant oder Schiller entspricht. Die biologistisch geprägte Sprach- und Bildgestaltung geht im nächsten Z itat von der M etapher „Pflanze“ aus: „die Pflanze .M ensch’ ist am kräftigsten in die H öhe gewachsen“, wenn „die G efährlichkeit seiner Lage erst in ’s U ngeheure wachsen, seine E rfindungs- und V orstellungskraft u n ter langem D ruck u n d Zwang sich in ’s Feine und Verwegene entwickeln, sein Lebens-Wille bis zum unbedingten Macht-Willen gesteigert werden m ußte“.32 Beim D ichter der Meta­

p h ern u n d der dynam ischen V isionen setzt sich der a u f die Kausalität angewiesene P hilosoph durch, u n d so wird aus dem höheren M enschen ein besonderer Mensch, dessen Besonderheit a u f die Sicherheit des Grundinstinkts, des „Der Wille zur M acht“

zurückgefährt wird. Sein Gefährdetsein besteht in der N ivellierung, dem T rend zur E inebnung der U nterschiede, die das Ideal, sein Dasein u n d seine K ünftige E n t­

wicklung erst ermöglichen. Einebnung hieße: „zu fordern, daß A lles,,guter M ensch’, H erdentier, blauäugig, w o h lw o llen d ,,schöne Seele’ — oder [...] altruistisch werden solle, hieße dem D asein seinen großen C harakter nehm en, hieße die M enschheit kastrieren u n d a u f eine armselige C hineserei h eru n te rb rin g en “.33 N ivellierungs­

kräfte sind der dem okratische Zeitgeist m it seinem G leichheitsstreben im allge­

m einen, im besonderen in der Vergangenheit das C h risten tu m seit zw eitausend

(26)

Jahren u n d in der Gegenwart die sozialistische Gedankenwelt. Die N ivellierung bekom m t auch etwas Historisches, ins (kultur)historische Denken projiziertes Prozeß­

haftes: sie ist die Begleiterscheinung der Neige einer Kultur, wie die freie Entfaltung des voll Menschlichen dem Aufstieg einer Kultur zugeschrieben wird: die alexand- rinische K ultur“ — das ist zugleich die K ultur seiner Zeit — „braucht einen Sklaven­

stand, um a u f die D auer existieren zu können: aber sie leugnet, in ihrer o p tim i­

stischen B ettrachtung des Daseins, die N otw endigkeit eines solchen Standes un d geht deshalb, wenn der Effekt ihrer schönen Verführungs- u u n d Beruhigungsworte von der ,W ürde des M enschen’ und d e r ,W ürde der A rbeit’ verbraucht ist, allm äh­

lich einer grauenvollen V ernichtung entgegen“.34 Er fragt sich: „kön nte vielleicht, allen .m odernen Ideen’ und Voruteilen des demokratischen Geschmacks zum Trotz, der Sieg des Optimismus, die vorherrschend gewordene Vernünftigkeit, der praktische und theoretische Utilitarismus, gleich der D em okratie selbst, m it der er gleichzeitig ist — ein Sym ptom der absinkenden Kraft, des nahenden Alters, der physiologi­

schen E rm üdung sein?“35 Die Kirche „verdarb den M enschen, sie schwächte ih n .“36

„Der christliche G alube ist von A nbeginn O pferung: O pferun g aller Freiheit, alles Stolzes, aller Selbstgewißheit des Geistes; zugleich V erknechtung u nd Selbst-Ver­

h ö h n u n g , Selbst-Verstüm melung. [...] G rausam keit [...]. Die m odernen M enschen [...] fühlen das Schauerlich-Superlativische nicht m ehr nach, das für einen antiken Geschmack in der Paradoxie der Form el ,G ott am Kreuze’ lag. Es hat bisher noch niemals un d nirgendw o eine gleiche K ü hnheit im U m kehren, etwas gleich Furcht­

bares, Fragendes und Fragwürdiges gegeben wie diese Form el: sie verhieß eine U m ­ w ertung aller antiken W erte.“37 (64/65) „Die Gesamt-Entartung des Menschen, hinab bis zu dem, was heute den sozialistischen Tölpeln und Flachköpfen als ihr .Mensch der Z u k u n ft’ erscheint — als ih r Ideal! — diese E ntartu n g un d V erkleinerung des M enschen zum volllkom m enen H erdentiere (oder, wie sie sagen, zum M enschen der .freien Gesellschaft’), diese V ertierung des M enschen zum Zwergriesen der glei­

chen Rechte u n d A nsprüche ist möglich, es ist kein Zweifel!“ (129/130) D arin liegt die schon früher entstandene, später im m er wieder aufkom m ende B ehauptung von der U nm öglichkeit der Verwirklichung der Gleichzheit und der Freiheit eingeschlos­

sen, und C h risten tu m und Sozialismus werden in diesem Zeichen in eine und die­

selbe Kategorie eingewiesen: er lehnt ein M itleiden sowohl „m it der sozialen ,N o t’, m it der .Gesellschaft’ un d ihren Kranken und Verunglückten, m it Lasterhaften und Zerbrochenen von A nbeginn, wie sie rings um uns zu Boden liegen“, als auch „m it m urrenden gedrückten aufrührerischen Sklaven-Schkhten, welche nach Herrschaft — sie n en n e n ’s .Freiheit’ — trac h ten “, ab. (166)

H inter dem Christentum, der sozialistischen Ideenwelt und der Demokratie scheint die Gesellschaft auf, der infolgedessen die Rolle eines Gegenüber- und Gegenseins, des Gegners und Feindes der Persönlichkeit zufällt. Genauso ist der Staat, dessen positiver G egenbegriff übrigens „das Volk“ ist, durch die V ernichtung der Persön­

lichkeit entstanden: er ist ein Instrum ent der Nivellierung, ein Werkzeug der Nicht- Persönlichkeiten u nd der T öter der Persönlichkeit. D urch V ererbung des G ehor­

(27)

sam -Instinkts, des sogenannten H erdeninstinkts, „fehlen endlich geradezu die Be­

fehlshaber u n d U nabhängigen“. Die o hne innere Berufung u n d B erechtigung Be­

fehlenden „schützen sich vor ihrem schlechten Gewissen [...] dadurch, daß sie sich als A nführer älterer oder höherer Befehle gebärden (der V orfahren, der Verfassung, des Rechts, der Gesetze oder des G ottes)“. Die dem okratischen Staatsform en ent­

stehen u n d bestehen dort, wo durch das „Zusamm en-Addieren kluger H erdenm en­

schen die B efehlshaber“ ersetzt werden; „dieses U rsprungs sind zu m Beispiel alle repräsentativen Verfassungen“. (121/122) In Also sprach Zarathustra, seinem m eist­

gelesenen Buch, behandeln zwei Kapitel das für die Persönlichkeit feindliche Wesen des Staates (“V om neuen G ötzen“ ü n d „Von großen Ereignissen“): „D ort, wo der Staat aufh ört, da b eginnt das Lied des Notw endigen, die einm alige u n d unersetz­

liche W eise.“38

Eine gewisse historische Rollee erhält das Ideal der P ersönlickheit im m o rp h o ­ logischen Sinne, indem sie als E rfüllung u n d zugleich Schöpferin von Epochen erscheint: „Ich lehre: daß es höhere und niedere M enschen gibt un d daß ein ein­

zelner ganzen Jahrtausenden ihre Existenz rechtfertigen kann — das heißt ein voller, reicher, großer, ganzer M ensch in H insicht au f zahllose unvollständige Bruchstück- M enschen.“39 Er gelangt zur Apotheose des Renaissance-Menschen als bisher letzter V erkörperung der vollgültigen u n d entfalteten Persönlichkeit, ähn lich wie andere seiner Zeit, Jakob B urckhardt, dessen begeisterter Z uh örer er war, oder Friedrich Engels, w enn auch — im Gegensatz zum Letzteren — im U m feld einer irratio nalen biologistischen M etaphorik: „M an m ißversteht das R aubtier u n d den R aubm en­

schen (zum Beispiel Cesare Borgia) gründlich, m an mißversteht d ie ,N a tu r’, solange m an noch nach einer K ra n k h aftig k eit’ im G rund e dieser gesündesten aller tro p i­

schen U ntiere und Gewächse sucht, oder gar nach einer ih n en eingeborenen .H ö l­

le’ —: wie es bisher fast alle M oralisten getan haben.“40 (119) Er begeistert sich für

„jene zauberhaften U nfaßbaren und U nausdenklichen, jene zum Siege u n d zur Ver­

führung vorbestim m ten Rätselmenschen, deren schönster Ausdruck Alcibiades und Cäsar (— denen ich gerne jenen ersten Europäer nach meinem Geschmack, den H ohen­

staufen Friedrich den Zweiten, zugesellen m öchte), u n ter K ünstlern vielleicht Lio- narde da Vinci ist“. (123)

Eine allgem ein-historische D im ension erhält sein a u f die G anzheit des M en­

schen ausgerichteter Idealbegriff durch die V orstellung eines Aufstiegs u n d U n ter­

gangs v on geschlossenen K ulturen. Am A nfang steht die dynam ische Bewegung des unbeschädigten M enschen, anschaulich gem acht durch den „B arbaren“ oder die

„Barbarei“ m it allen visionären Details eines durch keine M oral gehem m ten Kraft­

ausbruchs im kollektiven M aßstab. Bei dieser Vision gibt es also n u r bedingt eine T ren n u n g zw ischen Über- u n d H erdenm enschen, zwischen Instink tsich eren un d -schwachen oder wie er auch sein Ideal des vollen u n d sein A ntiideal des seine Per­

sönlichkeit nich t entfaltenden M enschen nennen mag. „M enschen m it einer noch n atü rlich en N atur, Barbaren in jedem furchtbaren Verstände des W ortes, R aub­

menschen, noch im Besitz ungebrochener W illenskräfte und Macht-Begierden, war­

(28)

fen sich a u f schwächere, gesittetere [...]. Die vornehm e Kaste war im A nfang im m er die Barbaren-Kaste: ih r Übergewicht lag [...] in der seelischen [Kraft] — es waren die ganzeren M enschen (was a u f jeder Stufe auch so viel m it bedeutet als ,die ganzen Bestien’ — (215/216) Der Abstieg einer geschlossenen m enschlich-kollektiven E ntität, „der Niedergang, Verfall, das M ißratensein“, ist die Folge „der erm üdeten und geschwächten Instinkte“, „wie er es bei den Indern war, wie er es, allem A n­

schein nach, bei uns, den ,m odernen’ M enschen und E uropäern ist“.41 In dieser allgem ein-historischen Bewegung hat der Krieg als H erbeiführer einer den w irken­

den Kräften entsprechenden neuen, gereinigten Kultur-Weltlage seine (k u ltu rh isto ­ rische F unktion: der Krieg sei unentbehrlich, denn „einstweilen kennen wir keine anderen M ittel, w odurch m attwerdenden Völkern jene ranke Energie des Feldlagers, jener tiefe unversöhnliche H aß, jene M örder-K altblütigkeit m it gutem Gewissen, [...] G lut in der V ernichtung des Feindes, jene stolze G leichgültigkeit gegen große Verluste, gegen das eigene Dasein und das der Befreundeten, jenes d u m p f e erdbeben­

hafte Erschüttern der Seele [H ervorhebung von m ir, M. S.] ebensostark und sicher m itgeteilt werden könnte, wie dies jeder große Krieg tu t [.~]“.42 Das gilt für Vergan­

genheit un d Z ukunft, heißt doch .historisch’ bei ihm ,in der G eschichte w irkend’

und nich t .durch die spezifischen U m stände eines Zeitalters bestim m t’, also ver­

änderlich oder sogar veränderbar. Aus dieser im Kern u nd im H in terg ru n d vor­

handenen M orphologie der Geschichte bzw. K ulturgeschichte, was bei Nietzsche G eschichte m ehr oder weniger im m er ist, schält sich das w ertende Begriffspaar .K ultur u nd Zivilisation’ heraus, welches im mer noch — was die Lessing-Herdersche Zeit — bzw. schon bei ihm — was die späteren, u.a. den T hom as M ann der Betrach­

tungen betrifft — au f eine deutsch-französische Grundlage gespannt wird: „Man müßte auch an unserem deutschen Wesen schm erzlich verzweifeln, wenn es bereits in glei­

cher Weise m it seiner K ultur unlösbar verstrickt, ja eins geworden wäre, wie wir das an dem zivilisierten Frankreich zu unserem Entsetzen beobachten können.“43 Zwar gehört das Folgende an eine andere Stelle unseres Überblicks, doch nehm en wir einige W orte später den Text wieder auf, weil das hier Gesagte auch als Vorweg­

nahm e künftigen literarischen W eltanschuungsguts zur K enntnis genom m en wer­

den m uß: „Alle unsere H offnungen strecken sich [...] sehnsuchtsvoll nach jener W ahrn eh m u n g aus, daß u n ter diesem unru h ig a u f un d nieder zuckenden K u ltu r­

leben und B ildungskram pfe eine herrliche, innerlich gesunde, uralte Kraft verbor­

gen liegt [...]. Aus diesem Abgrunde ist die deutsche R eform ation hervorgewachsen:

in deren C horal die Zukunftsweise der deutschen M usik zuerst erklang. So tief, m utig und seelenvoll, so überschwenglich gut und zart tö nte dieser C horal Luthers, als der erste dionysische Lockruf, der aus dichtverwachsenem Gebüsch, im N ahen des Frühlings, h ervo rdringt.“ Der Gegensatz zwischen „dionysischer M usik“ und

„Z ivilisation“ erscheint schon an einer früheren Stelle: „der Satyr, das fingierte N aturwesen“ — der Leiter des C hors oder „der dionysische C h o ra n t“ — „verhält sich zu dem K ulturm enschen, wie die dionysische M usik zur Z ivilisation“.44 (51)

(29)

W enn wir versuchen, das Bild des Idealm enschen in sich zu erfassen, also nicht im Gegensatz zum A ntiideal, ist das M om ent des Irrationalen von entscheidender Bedeutung; von Bedeutung für den M enschen selbst, aber auch fü r den C harakter des M enschenbilds Nietzsches: bei allen productiven M enschen ist der In­

stinkt gerade die schöpferisch-affirm ative K raft u n d gebärdet sich das Bewußtsein kritisch u n d abm ahnend [.h. hem m end]: w ird bei Sokrates [d.h.: beim von der Ver­

n u n ft geleiteten M enschen] der Instinkt zum Kritiker, das Bewußtsein zum Schöp­

fer — eine wahre M onstruosität per defectum!“ (86) Das ist zugleich die Bekämpfung des Prinzips der K ausalität sowohl in bezug a u f die äußere, d.h. physikalische, als auch a u f die innere, psychische Welt, „M an soll n ich t .U rsache’ u n d .W irkung’

fehlerhaft verdinglichen. wie es die N aturforscher tu n [...]; m an soll sich der .U r­

sache’, der .W irkung’ eben n u r als reineBegriffe [d.h. als hypothetische Denkhilfe]

bedienen, das heißt als konventioneller Fiktionen zum Zweck der Bezeichnung, der V erständigung, nicht der Erklärung. Im ,An-sich’ gibt es nichts vo n ,Kausal-Ver- b än d en ’, von .N otw endigkeit’, [...], da folgt nicht,die W irkung a u f die U rsache’, da regiert kein .Gesetz’. Wir sind es, die allein die U rsachen, das N acheinander, das Für-einander, die Relativität, den Zwang, die Zahl, das Gesetz, die Freiheit, den G rund, den Zweck erdichtet haben.“45 U nd „jener un erschütterliche G laube" sei eine W ahnvorstellung, „daß das D enken, an dem Leitfaden der K ausalität, bis in die tiefsten A bgründe des Seins reiche, und daß das D enken das Sein n ich t n u r zu erkennen, sondern sogar zu korrigieren im Stande sei“.46

In diesem U m feld u n d m it diesen V oraussetzungen entsteht das Ideal des M en­

schen: der M ensch in seiner T otatlität, der M ensch, der all seine inn eren M öglich­

keiten erkannte und verw irklichte und in seiner E inm aligkeit u n d gerade dadurch in Ewigkeit in sich selbst besteht. W enn er von diesem M enschen spricht, erreicht seine Prosa die höchsten poetischen Reize; die Schönheit dessen, was er sagt, fü h rt gleichsam auch zu einer erhabeneren Sprache. Kein W under also, daß diese Vision die Nachwelt am intensivsten beeindruckt hat. „Wer, gleich m ir, [...] lange darum b em üht hat, den Pessimismus in die Tiefe zu denken u nd aus der halb christlichen, halb deutschen Enge u n d Eifalt zu erlösen, m it der er sich diesem Ja h rh u n d e rt zuletzt dargestellt hat, [...] wer w irklich einmal[...] in die w eltverneinendste aller m öglichen Denkweisen hinein- und hinuntergeblickt h at — jenseits von G u t un d Böse [...], der hat vielleicht eben dam it, o hne daß er es eigentlich wollte, sich die Augen für das um gekehrte Ideal aufgemacht: für das Ideal des überm ütigsten, leben­

digsten u n d w eltbejahendsten M enschen, der sich nich t n u r m it dem , was war u nd ist, abgefunden u n d vertragen gelernt hat, sondern es, so wie es war und ist, wieder­

haben will, in alle Ewigkeit hinaus, unersättlich capo rufend, nich t n u r zu sich, sondern zum ganzen Stücke und Schauspiele, und nicht n u r zu einem Schauspiele, sondern im G runde zu dem, der gerade dies Schauspiel nötig hat — un d nötig macht:

weil er im m er wieder sich nötig hat — und nötig m acht — Wie? U nd dies wäre nicht — circulus vitiosus deus?“47 Der M ensch, der in einer gottlos gew ordenen W elt sich selbst zum G ott gem acht hat, sich in seiner göttlichen Ziellosigkeit un d Sinnlosig­

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