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D ie Ideologen — Die geistigen WegbereiterII

In document Der Weltanschauungsroman (Pldal 23-63)

Den G esam tkom plex dieser V eränderung nennen wir die In du strierevo lu tion zu­

nächst in E ngland, dan n in den anderen entwickelten Ländern W esteuropas, fast zuletzt in D eutschland. Die ersten Zeichen einer Reaktion, die un m ittelb ar a u f sie zu rü ckzufü hren sind, waren im Bereich der K unst die Versuche der Präraffaeliten in England, dem Bild und der W irklichkeit einer aufkom m enden W elt die Vorstel­

lung des Scheins einer anderen entgegenzusetzen. Es ist n u r natürlich, daß im ersten größeren W erk Friedrich Engels’, das dem ausgereiften neuen Geist zuzurechnen ist, als A nschauungsm aterial und G rundlage für einen radikal neuen W eltentw urf das Bild der Lage der Arbeiterklasse in England dient. Die m ächtigsten, folgenschwersten u n d ih rer B edeutung nach frühesten A ntw orten a u f die H erausforderung des Gei­

stes u n d des W illens stam m en von Karl M arx u n d Friedrich Nietzsche.

Das entscheidende M erkmal der neuen W irklichkeit war für M arx die Verelen­

dung der Volksmassen, für Nietzsche die Vermassung der M enschheit. Die beiden W örter bedeuten nich t dasselbe, gehen aber in einem übersichtlichen Beziehungs­

feld a u f die gleiche Erscheinung zurück und bezeichnen zwei Aspekte eines P häno­

mens. Im Prinzip und in einer hoch genug gelagerten A bstraktion ist auch ihr Telos gem einsam oder wenigstens vergleichbar: bei M arx die Gewährleistung der Entfal­

tungsm öglichkeiten des Individuum s durch die wirtschaftliche und gesellschaftliche Befreiung der M enschheit und bei Nietzsche die Rettung der m enschlichen Persön­

lichkeit. An diesem P unkt hören die einfachen Vergleichbarkeiten auf. M arx schafft für seinen m oralischen Im petus wissenschaftliche G rundlagen im Bereich der Polit­

ökonom ie, der Geschichts- und der System philosophie, N ietzsche h o lt sich den letzten erkennbaren G rund seines Gedankenbaus, der übrigens keineswegs so syste­

matisch wie bei Marx ist, aus dem Darwinismus: er sucht sich einen Ansatz und auch noch G edankenstützen aus dem psychologisch angereicherten biologischen D en­

ken darw inistischer Provenienz.

Abgesehen von den gedanklichen Ansätzen unterscheiden sie sich in ih rer gei­

stigen Veranlagung: M arx ist vor allem W issenschaftler, N ietzsche ist D ichter — so sehr D ichter, daß seine Sätze oft keinen oder keinen prim ären gedanklichen Sinn haben, sie sind Bilder m it vorwiegend gefühlsm äßigem Inhalt. So weit ist er aber auch P hilosoph, daß er seinen G efühlen un d Gedanken, seinen gefühlsbeladenen V isionen u n d hym nischen Prophetien auch einen gedanklich faßbaren u nd als ge­

danklicher H in terg ru n d dienenden R ahm en gibt. Er sucht nach dem A rtspezifi­

schen im M enschen un d findet es im dem M enschen eigenen Movens des Lebens­

kampfes und in der Auslese, im Trieb zum „Willen zur M acht“. Das ist ein zeitge­

mäßer, dem Geist und Inhalt des naturwissenschaftlichen Denkens seiner Zeit eben­

so entsprechender A nsatz wie das Vererbungs- und M ilieugesetz des gleichfalls zu­

nächst Dichters un d n u r nebenbei Denkers ¿m ileZola. Es entspricht auch der

Denk-art seiner Lebensjahrzehnte, daß er diese Eigenschaft, den Trieb u nd seine Stärke in den verschiedenen Exemplaren der Spezies Mensch — um bei dem auch von Nietzsche übernom m enen darwinistischen Vokabular zu bleiben — in unterschiedlichem Maße vorhanden denkt.

So viel zu den W elterklärungsansätzen und dem gedanklichen R ahm en. Ih r V orhandensein schm älert nicht die B edeutung des dichterischen Anteils im inn e­

ren Gefüge des Nietzscheschen Oeuvres. Diesem D ichterischen müssen wir zurech­

nen, daß wir bei einer rein rationalen Analyse u nd A usdeutung im m er wieder auch innerhalb eines Werkes oder in einer zeitlich zusam m engehörenden W erkgruppe a u f W idersprüche stoßen und m it vielem bei ihm verfahren m üssen wie m it M eta­

phern, die n atü rlich meistens auch einen gedanklichen Kern haben, deren wesent­

licher In h alt aber im bildhaft gestalteten G efühlsm äßigen steckt. D er schon u nter den frühen Nietzsche-D eutern erwähnte und durch seine K larsicht hervorragende Samuel Lublinski hat „klar herausgestellt“, „daß der D arw inism us Nietzsche ,als Gleichnis gedient’ habe“,27 und in unseren Tagen sagt R ainer W uthenow : „Es ist [...] nicht zu übersehen, daß in Nietzsches absichtsvoll unsystem atischer Verfahrens­

weise die einzelnen Bem erkungen n u r selten defmitorischen, oft aber erkundenden und erprobenden, also essayistischen Charakter zeigen und daß natürlich in ihnen auch W idersprüche ihren Platz haben.“28

M arx beeinflußte den weiteren Gang der W elt a u f den verschiedensten Gebie­

ten, nich t zuletzt im Geistigen, vor allem im Literarischen, wie kaum ein anderer in der W eltgeschichte. N ietzsche kaum weniger, aber n u r im G eistigen un d vor allem im Literarischen, und darin wiederum vor allem in der deutschen Literatur.

M arx’ spezifisch literarische W irkung ist bedeutend, sowohl direkt, indem seine Ideen literarisch bearbeitet w urden, als auch indirekt in der Form der Darstellung einer W irklichkeit, die sich nach seinen Ideen formte, als auch — u nd nicht zuletzt — in einer anderen indirekten Art, indem überall, vornehm lich in der deutschen Lite­

ratur des 20. Jahrhun derts, a u f seine Ideen oder die durch sie herbeigeführte W irk­

lichkeit polem isch Bezug genom m en wird oder sogar ganze Erscheinungskomplexe wie z.B. der Expressionism us ääcA als eine A useinandersetzung m it ihnen aufgefaßt werden können. Dieser E influß und sein W irken in der L iteratur ist nich t Gegen­

stand dieser A rbeit, so daß wir uns diesbezüglich m it diesem einzigen Hinweis be­

gnügen wollen. Dagegen wird die M itgestaltungsw irkung Nietzsches (und anderer) unverzichtbarer Bestandteil künftiger U ntersuchungen in unserer Arbeit. Deshalb ist es unum gänglich, etwas konkreter und ausführlicher d arau f einzugehen, was er gedacht u nd gesagt hat. Dabei wollen wir uns aus dem bis in die jüngste Vergangen­

heit heftig geführten Streit um die direkte K o n tin u itä t seiner G edanken in der geistigen Geschichte u n d /o d e r Vorgeschichte des Faschismus oder des h u m an isti­

schen Denkens heraushalten. Diesbezüglich hat m an schon alles gesagt, oh n e zu einem von allen akzeptierten und nicht m ehr wandelbaren U rteil zu kom m en, und ein Ende der A useinandersetzung ist nicht abzusehen. Gleichfalls wollen wir ver­

m eiden, eine nochm alige Zusam m enfassung seiner G edanken u nd G efühlsäuße­

rungen zu versuchen. Das hoffen wir tu n zu kö nnen, indem wir uns zwar im Z u­

sam m enhang seiner G esam tlehre n u r das zu vergegenwärtigen suchen, was in dem hier zu behandelnden Bereich der Literatur wirksam geworden ist. Bei einem Über­

blick m it dieser Zielsetzung fällt auch die N otw endigkeit weg, bei der H eerschau seiner prägnanten Sätze d arauf zu achten, aus welcher Zeit, d.h. aus welcher der zwei oder — nach anderen — drei Perioden seiner öffentlich-literarischen Tätigkeit, sie stam m en: bei der R ezeption spielte dies keine Rolle.

E ntsprechend unserer schon angedeuteten V orstellung über die E ntstehungs­

und In h a ltsstru k tu r sehen wir am A nfang u n d im M ittelp un kt des eher dich teri­

schen als p hilosophischen Denkens und Fühlens Nietzsches das Problem des Ge­

fährdetseins der m enschlichen Persönlichkeit bzw. eine A potheose ihres Ideals;

ihm schwebt „eine an sich möglich thöchste Möglichkeit und Pracht des Typus Mensch“29 vor, die bis d ahin niem als erreicht wurde. Der M ensch der Gegenwart ist eingeengt;

sogar die Bevorzugten seiner Zeit, die Gelehrten u nd Philosophen, die geistig H öher­

stehenden „stellen sich jede N otw endigkeit als N ot, als peinliches Folgen-m üssen und Gezwungen-werden vor; und das D enken selbst gilt ihnen als etwas Langsames, Zögerndes, beinahe als eine M ühsal u n d oft genug als ,des Schweißes der Edlen w ert’ — aber ganz u n d gar nicht als etwas Leichtes, G öttliches un d dem Tanze, dem Ü berm ute Nächst-Verwandtes“.30 Der M ensch müsse sich selbst neu schaffen: „Die Sorglichsten“, sich also der G efährdung des M enschen Bewußten, „fragen heute:

,wie bleibt der M ensch erhalten?’ Z arathustra aber fragt als der Einzige u n d Erste:

,wie wird der M ensch überwunden?’“31 Die konkretere B eschreibung des von ihm gew ünschten Ideals des M enschen m ündet meistens im Bildes biologistisch meta- phorisierten h ö heren Menschen, der nach seinem innersten Wesen und der eupho­

rischen Ausschmückung entkleidet dem autonom en oder m oralischen M enschen bei Kant oder Schiller entspricht. Die biologistisch geprägte Sprach- und Bildgestaltung geht im nächsten Z itat von der M etapher „Pflanze“ aus: „die Pflanze .M ensch’ ist am kräftigsten in die H öhe gewachsen“, wenn „die G efährlichkeit seiner Lage erst in ’s U ngeheure wachsen, seine E rfindungs- und V orstellungskraft u n ter langem D ruck u n d Zwang sich in ’s Feine und Verwegene entwickeln, sein Lebens-Wille bis zum unbedingten Macht-Willen gesteigert werden m ußte“.32 Beim D ichter der Meta­

p h ern u n d der dynam ischen V isionen setzt sich der a u f die Kausalität angewiesene P hilosoph durch, u n d so wird aus dem höheren M enschen ein besonderer Mensch, dessen Besonderheit a u f die Sicherheit des Grundinstinkts, des „Der Wille zur M acht“

zurückgefährt wird. Sein Gefährdetsein besteht in der N ivellierung, dem T rend zur E inebnung der U nterschiede, die das Ideal, sein Dasein u n d seine K ünftige E n t­

wicklung erst ermöglichen. Einebnung hieße: „zu fordern, daß A lles,,guter M ensch’, H erdentier, blauäugig, w o h lw o llen d ,,schöne Seele’ — oder [...] altruistisch werden solle, hieße dem D asein seinen großen C harakter nehm en, hieße die M enschheit kastrieren u n d a u f eine armselige C hineserei h eru n te rb rin g en “.33 N ivellierungs­

kräfte sind der dem okratische Zeitgeist m it seinem G leichheitsstreben im allge­

m einen, im besonderen in der Vergangenheit das C h risten tu m seit zw eitausend

Jahren u n d in der Gegenwart die sozialistische Gedankenwelt. Die N ivellierung bekom m t auch etwas Historisches, ins (kultur)historische Denken projiziertes Prozeß­

haftes: sie ist die Begleiterscheinung der Neige einer Kultur, wie die freie Entfaltung des voll Menschlichen dem Aufstieg einer Kultur zugeschrieben wird: die alexand-rinische K ultur“ — das ist zugleich die K ultur seiner Zeit — „braucht einen Sklaven­

stand, um a u f die D auer existieren zu können: aber sie leugnet, in ihrer o p tim i­

stischen B ettrachtung des Daseins, die N otw endigkeit eines solchen Standes un d geht deshalb, wenn der Effekt ihrer schönen Verführungs- u u n d Beruhigungsworte von der ,W ürde des M enschen’ und d e r ,W ürde der A rbeit’ verbraucht ist, allm äh­

lich einer grauenvollen V ernichtung entgegen“.34 Er fragt sich: „kön nte vielleicht, allen .m odernen Ideen’ und Voruteilen des demokratischen Geschmacks zum Trotz, der Sieg des Optimismus, die vorherrschend gewordene Vernünftigkeit, der praktische und theoretische Utilitarismus, gleich der D em okratie selbst, m it der er gleichzeitig ist — ein Sym ptom der absinkenden Kraft, des nahenden Alters, der physiologi­

schen E rm üdung sein?“35 Die Kirche „verdarb den M enschen, sie schwächte ih n .“36

„Der christliche G alube ist von A nbeginn O pferung: O pferun g aller Freiheit, alles Stolzes, aller Selbstgewißheit des Geistes; zugleich V erknechtung u nd Selbst-Ver­

h ö h n u n g , Selbst-Verstüm melung. [...] G rausam keit [...]. Die m odernen M enschen [...] fühlen das Schauerlich-Superlativische nicht m ehr nach, das für einen antiken Geschmack in der Paradoxie der Form el ,G ott am Kreuze’ lag. Es hat bisher noch niemals un d nirgendw o eine gleiche K ü hnheit im U m kehren, etwas gleich Furcht­

bares, Fragendes und Fragwürdiges gegeben wie diese Form el: sie verhieß eine U m ­ w ertung aller antiken W erte.“37 (64/65) „Die Gesamt-Entartung des Menschen, hinab bis zu dem, was heute den sozialistischen Tölpeln und Flachköpfen als ihr .Mensch der Z u k u n ft’ erscheint — als ih r Ideal! — diese E ntartu n g un d V erkleinerung des M enschen zum volllkom m enen H erdentiere (oder, wie sie sagen, zum M enschen der .freien Gesellschaft’), diese V ertierung des M enschen zum Zwergriesen der glei­

chen Rechte u n d A nsprüche ist möglich, es ist kein Zweifel!“ (129/130) D arin liegt die schon früher entstandene, später im m er wieder aufkom m ende B ehauptung von der U nm öglichkeit der Verwirklichung der Gleichzheit und der Freiheit eingeschlos­

sen, und C h risten tu m und Sozialismus werden in diesem Zeichen in eine und die­

selbe Kategorie eingewiesen: er lehnt ein M itleiden sowohl „m it der sozialen ,N o t’, m it der .Gesellschaft’ un d ihren Kranken und Verunglückten, m it Lasterhaften und Zerbrochenen von A nbeginn, wie sie rings um uns zu Boden liegen“, als auch „m it m urrenden gedrückten aufrührerischen Sklaven-Schkhten, welche nach Herrschaft — sie n en n e n ’s .Freiheit’ — trac h ten “, ab. (166)

H inter dem Christentum, der sozialistischen Ideenwelt und der Demokratie scheint die Gesellschaft auf, der infolgedessen die Rolle eines Gegenüber- und Gegenseins, des Gegners und Feindes der Persönlichkeit zufällt. Genauso ist der Staat, dessen positiver G egenbegriff übrigens „das Volk“ ist, durch die V ernichtung der Persön­

lichkeit entstanden: er ist ein Instrum ent der Nivellierung, ein Werkzeug der Nicht- Persönlichkeiten u nd der T öter der Persönlichkeit. D urch V ererbung des G ehor­

sam -Instinkts, des sogenannten H erdeninstinkts, „fehlen endlich geradezu die Be­

fehlshaber u n d U nabhängigen“. Die o hne innere Berufung u n d B erechtigung Be­

fehlenden „schützen sich vor ihrem schlechten Gewissen [...] dadurch, daß sie sich als A nführer älterer oder höherer Befehle gebärden (der V orfahren, der Verfassung, des Rechts, der Gesetze oder des G ottes)“. Die dem okratischen Staatsform en ent­

stehen u n d bestehen dort, wo durch das „Zusamm en-Addieren kluger H erdenm en­

schen die B efehlshaber“ ersetzt werden; „dieses U rsprungs sind zu m Beispiel alle repräsentativen Verfassungen“. (121/122) In Also sprach Zarathustra, seinem m eist­

gelesenen Buch, behandeln zwei Kapitel das für die Persönlichkeit feindliche Wesen des Staates (“V om neuen G ötzen“ ü n d „Von großen Ereignissen“): „D ort, wo der Staat aufh ört, da b eginnt das Lied des Notw endigen, die einm alige u n d unersetz­

liche W eise.“38

Eine gewisse historische Rollee erhält das Ideal der P ersönlickheit im m o rp h o ­ logischen Sinne, indem sie als E rfüllung u n d zugleich Schöpferin von Epochen erscheint: „Ich lehre: daß es höhere und niedere M enschen gibt un d daß ein ein­

zelner ganzen Jahrtausenden ihre Existenz rechtfertigen kann — das heißt ein voller, reicher, großer, ganzer M ensch in H insicht au f zahllose unvollständige Bruchstück- M enschen.“39 Er gelangt zur Apotheose des Renaissance-Menschen als bisher letzter V erkörperung der vollgültigen u n d entfalteten Persönlichkeit, ähn lich wie andere seiner Zeit, Jakob B urckhardt, dessen begeisterter Z uh örer er war, oder Friedrich Engels, w enn auch — im Gegensatz zum Letzteren — im U m feld einer irratio nalen biologistischen M etaphorik: „M an m ißversteht das R aubtier u n d den R aubm en­

schen (zum Beispiel Cesare Borgia) gründlich, m an mißversteht d ie ,N a tu r’, solange m an noch nach einer K ra n k h aftig k eit’ im G rund e dieser gesündesten aller tro p i­

schen U ntiere und Gewächse sucht, oder gar nach einer ih n en eingeborenen .H ö l­

le’ —: wie es bisher fast alle M oralisten getan haben.“40 (119) Er begeistert sich für

„jene zauberhaften U nfaßbaren und U nausdenklichen, jene zum Siege u n d zur Ver­

führung vorbestim m ten Rätselmenschen, deren schönster Ausdruck Alcibiades und Cäsar (— denen ich gerne jenen ersten Europäer nach meinem Geschmack, den H ohen­

staufen Friedrich den Zweiten, zugesellen m öchte), u n ter K ünstlern vielleicht Lio- narde da Vinci ist“. (123)

Eine allgem ein-historische D im ension erhält sein a u f die G anzheit des M en­

schen ausgerichteter Idealbegriff durch die V orstellung eines Aufstiegs u n d U n ter­

gangs v on geschlossenen K ulturen. Am A nfang steht die dynam ische Bewegung des unbeschädigten M enschen, anschaulich gem acht durch den „B arbaren“ oder die

„Barbarei“ m it allen visionären Details eines durch keine M oral gehem m ten Kraft­

ausbruchs im kollektiven M aßstab. Bei dieser Vision gibt es also n u r bedingt eine T ren n u n g zw ischen Über- u n d H erdenm enschen, zwischen Instink tsich eren un d -schwachen oder wie er auch sein Ideal des vollen u n d sein A ntiideal des seine Per­

sönlichkeit nich t entfaltenden M enschen nennen mag. „M enschen m it einer noch n atü rlich en N atur, Barbaren in jedem furchtbaren Verstände des W ortes, R aub­

menschen, noch im Besitz ungebrochener W illenskräfte und Macht-Begierden, war­

fen sich a u f schwächere, gesittetere [...]. Die vornehm e Kaste war im A nfang im m er die Barbaren-Kaste: ih r Übergewicht lag [...] in der seelischen [Kraft] — es waren die ganzeren M enschen (was a u f jeder Stufe auch so viel m it bedeutet als ,die ganzen Bestien’ — (215/216) Der Abstieg einer geschlossenen m enschlich-kollektiven E ntität, „der Niedergang, Verfall, das M ißratensein“, ist die Folge „der erm üdeten und geschwächten Instinkte“, „wie er es bei den Indern war, wie er es, allem A n­

schein nach, bei uns, den ,m odernen’ M enschen und E uropäern ist“.41 In dieser allgem ein-historischen Bewegung hat der Krieg als H erbeiführer einer den w irken­

den Kräften entsprechenden neuen, gereinigten Kultur-Weltlage seine (k u ltu rh isto ­ rische F unktion: der Krieg sei unentbehrlich, denn „einstweilen kennen wir keine anderen M ittel, w odurch m attwerdenden Völkern jene ranke Energie des Feldlagers, jener tiefe unversöhnliche H aß, jene M örder-K altblütigkeit m it gutem Gewissen, [...] G lut in der V ernichtung des Feindes, jene stolze G leichgültigkeit gegen große Verluste, gegen das eigene Dasein und das der Befreundeten, jenes d u m p f e erdbeben­

hafte Erschüttern der Seele [H ervorhebung von m ir, M. S.] ebensostark und sicher m itgeteilt werden könnte, wie dies jeder große Krieg tu t [.~]“.42 Das gilt für Vergan­

genheit un d Z ukunft, heißt doch .historisch’ bei ihm ,in der G eschichte w irkend’

und nich t .durch die spezifischen U m stände eines Zeitalters bestim m t’, also ver­

änderlich oder sogar veränderbar. Aus dieser im Kern u nd im H in terg ru n d vor­

handenen M orphologie der Geschichte bzw. K ulturgeschichte, was bei Nietzsche G eschichte m ehr oder weniger im m er ist, schält sich das w ertende Begriffspaar .K ultur u nd Zivilisation’ heraus, welches im mer noch — was die Lessing-Herdersche Zeit — bzw. schon bei ihm — was die späteren, u.a. den T hom as M ann der Betrach­

tungen betrifft — au f eine deutsch-französische Grundlage gespannt wird: „Man müßte auch an unserem deutschen Wesen schm erzlich verzweifeln, wenn es bereits in glei­

cher Weise m it seiner K ultur unlösbar verstrickt, ja eins geworden wäre, wie wir das an dem zivilisierten Frankreich zu unserem Entsetzen beobachten können.“43 Zwar gehört das Folgende an eine andere Stelle unseres Überblicks, doch nehm en wir einige W orte später den Text wieder auf, weil das hier Gesagte auch als Vorweg­

nahm e künftigen literarischen W eltanschuungsguts zur K enntnis genom m en wer­

den m uß: „Alle unsere H offnungen strecken sich [...] sehnsuchtsvoll nach jener W ahrn eh m u n g aus, daß u n ter diesem unru h ig a u f un d nieder zuckenden K u ltu r­

leben und B ildungskram pfe eine herrliche, innerlich gesunde, uralte Kraft verbor­

gen liegt [...]. Aus diesem Abgrunde ist die deutsche R eform ation hervorgewachsen:

in deren C horal die Zukunftsweise der deutschen M usik zuerst erklang. So tief, m utig und seelenvoll, so überschwenglich gut und zart tö nte dieser C horal Luthers, als der erste dionysische Lockruf, der aus dichtverwachsenem Gebüsch, im N ahen des Frühlings, h ervo rdringt.“ Der Gegensatz zwischen „dionysischer M usik“ und

„Z ivilisation“ erscheint schon an einer früheren Stelle: „der Satyr, das fingierte N aturwesen“ — der Leiter des C hors oder „der dionysische C h o ra n t“ — „verhält sich zu dem K ulturm enschen, wie die dionysische M usik zur Z ivilisation“.44 (51)

W enn wir versuchen, das Bild des Idealm enschen in sich zu erfassen, also nicht im Gegensatz zum A ntiideal, ist das M om ent des Irrationalen von entscheidender Bedeutung; von Bedeutung für den M enschen selbst, aber auch fü r den C harakter des M enschenbilds Nietzsches: bei allen productiven M enschen ist der In­

stinkt gerade die schöpferisch-affirm ative K raft u n d gebärdet sich das Bewußtsein kritisch u n d abm ahnend [.h. hem m end]: w ird bei Sokrates [d.h.: beim von der Ver­

n u n ft geleiteten M enschen] der Instinkt zum Kritiker, das Bewußtsein zum Schöp­

fer — eine wahre M onstruosität per defectum!“ (86) Das ist zugleich die Bekämpfung des Prinzips der K ausalität sowohl in bezug a u f die äußere, d.h. physikalische, als auch a u f die innere, psychische Welt, „M an soll n ich t .U rsache’ u n d .W irkung’

fehlerhaft verdinglichen. wie es die N aturforscher tu n [...]; m an soll sich der .U r­

sache’, der .W irkung’ eben n u r als reineBegriffe [d.h. als hypothetische Denkhilfe]

bedienen, das heißt als konventioneller Fiktionen zum Zweck der Bezeichnung, der V erständigung, nicht der Erklärung. Im ,An-sich’ gibt es nichts vo n ,Kausal-Ver- b än d en ’, von .N otw endigkeit’, [...], da folgt nicht,die W irkung a u f die U rsache’, da regiert kein .Gesetz’. Wir sind es, die allein die U rsachen, das N acheinander, das

bedienen, das heißt als konventioneller Fiktionen zum Zweck der Bezeichnung, der V erständigung, nicht der Erklärung. Im ,An-sich’ gibt es nichts vo n ,Kausal-Ver- b än d en ’, von .N otw endigkeit’, [...], da folgt nicht,die W irkung a u f die U rsache’, da regiert kein .Gesetz’. Wir sind es, die allein die U rsachen, das N acheinander, das

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