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Der Weltanschauungsroman

In document Der Weltanschauungsroman (Pldal 128-145)

Von Hesse bis Hesse: Nach der Vorstellung von Rom anen in den beiden ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts versuchen wir das Bild des von uns gemeinten Ro­

mans in einigen Zügen aufzuzeichnen.

Dieser Versuch ist keineswegs der erste: Eigentlich schon zur Zeit des Entstehens dieser Form wurde sie bereits beschrieben, in Ansätzen sogar bei Leo Berg. Das weist d a r a u f h i n — die zu zitierenden Sätze erschienen 1897! —, daß die Erfahrung mit der natürlichen Ich-Suche den durch Nietzsche und die anderen geistigen Vor­

bereiter sehend gewordenden Beobachter noch vor der Geburt dieses R om ans zu seiner Idee führte. Gegen Ende seines Der Übermensch in der modernen Literatur schreibt er: „Lernt das Glück und die N ot der Einsamkeit, stellt die Totalität eurer Person wieder her — und ihr seid — wenn auch nicht Überm enschen, so doch, was ihr sein könnt! U nd vor allem, hütet euch vor der Gleichheit! [...]. Begreift, daß es ein Glück und eine Hoheit gibt überall und unter allen Verhältnissen, so nur der Mensch hinaussehen kann über sich selbst, neben sich und unter sich und nicht untersinkt in die Gemeinheit der Masse, u n d selbst d ann nicht untersinkt, wenn er politisch oder sozial in ihr untersinken m uß!“217

W enn hier der von den Naturalisten enttäuschte Naturalist unaufhaltsam ent­

stehen sieht, was er verständlicherweise ablehnt (der ironische U n te rto n der Auf­

forderung ist nicht zu übersehen), weil er a u f die naturalistischen Ideale in seinem Herzen auch jetzt noch nicht verzichten kann, ist Georg Lukács in seiner Theorie des Romans mit dem Zeitgeist so sehr konform , daß er sogar in Cervantes’ Rom an die neue Form hineininterpretiert u n d den R om an der Zeit, in der G ott „die Welt zu verlassen beginnt“, beschreibt, als ob er sie, Jahrhunderte vor Kierkegaard und Nietzsche, schon verlassen hätte: „So steht dieser erste große R om an der W elt­

literatur am Anfang der Zeit, wo der G ott des C hristentum s die Welt zu verlassen beginnt; wo der Mensch einsam wird und n ur in seiner nirgends beheimateten Seele den Sinn u n d die Substanz zu finden vermag; wo die Welt aus ihrem paradoxen Verankertsein im gegenwärtigen Jenseits losgelassen, ihrer im m anenten Sinnlosig­

keit preisgegeben wird; wo die Macht des Bestehenden [...] zu un erh ö rter Größe erwächst [...]. Es ist die Periode der freigelassenen Dämonie, die Periode der gro­

ßen Verwirrung der Werte bei noch bestehendem Wertsystem.“218 (104/105) An anderen Stellen äußert er Gedanken in einem Kontext, der ihre Anwendung au f die damalige Gegenwart nicht ausschließt u nd die Konkreteres hauptsächlich über den Helden des Romans aussagen: „Der Prozeß, als welcher die innere Form des Rom ans begriffen wurde, ist die W anderung des problematischen Individuums zu sich selbst, der Weg von der trüben Befangenheit in der einfach daseienden, in sich heterogenen, für das Individuum sinnlosen 'WukW cbkzxtzur klaren Selbsterkenntnis.“

(75) (Hervorhebungen von mir, M. S.) „Nur [...] ein ganz tiefes und intensives D urch­

leuchtetsein des Menschen vom Sinn seines Lebens ist erreichbar. Die formgefor­

derte Im m anenz des Sinnes wird durch sein Erlebnis [das sind die Erlebnisse des Helden im R om an, also die Handlung] geleistet, daß dieses bloße Erblicken des Sinnes das H öchste ist, was das Leben zu geben hat, das einzige, was des Ein­

setzens von einem ganzen Leben würdig ist, das einzige, wofür sich dieser K a m p f gelohnt hat. Dieser Prozeß um faßt ein Menschenleben, und m it seinem normativen Inhalt, dem Weg zur Selbsterkenntnis eines Menschen, ist zugleich seine Richtung und sein Um fang gegeben.“ (75) U n d davor sagt er noch kurz und knapp überW eg u n d A n k u n ft des neuen Protagonisten: „das polem ischzSich-auf-sich-selbst-Besinnen der einsamen u n d verirrten Persönlichkeit“. (58)

Wie wir auch a nha nd der angeführten Zitate sehen, läßt sich bei der a u f die geistigen Formen konzentrierten Denk- u n d Schreibweise Georg Lukács’ der von ihm beschriebene R om an literarhistorisch schwer fixieren und an konkreten, vor­

liegenden R om anen der Zeit identifizieren. (Am Rande seines Gedankenflusses taucht allein der Rom an seines damaligen Freundes Paul Ernst auf, also vermutlich Der schmale Weg zum Glück.)

Andere sind im Laufe des Jahrhunderts im mer wieder etwas gegenständlicher u n d faßbarer a u f diesen Typ des Romans zu sprechen gekommen. Auch W alther Rehm m eint ihn, u n d wir sind mit einigen wesentlichen M om enten, vornehm lich m it der zeitlichen Abgrenzung des Anfangs, also m it der literarhistorischen M ar­

kierung seiner Beschreibung einverstanden, selbst wenn wir seine auch hier zum Vorschein k om m ende Auffassung von der Selbstbewegung u n d A u to n o m ie des Geistes nicht teilen können: „Deutlich läßt sich in der D ichtung seit Ja h r h u n d e rt­

beginn wieder ein Streben nach dem Metaphysischen, das Rätseln um den Sinn des Lebens beobachten. Die psychologisch zergliedernde impressionistische Art [...]

m ußte ja auch [...] wieder langsam ein Verhältnis zum Reich des U nsichtbaren und Irrationalen gewinnen u n d dam it sich m ehr u n d m ehr weltanschaulichen Fragen nähern, sie ko n n te nicht n u r stehenbleiben bei der Erkenntnis des Relativen [...], die der E ntfaltung freier, selbstbestimmender Sittlichkeit den Weg verlegte. Wie m an auch die Kunst zwischen 1990 u n d 1910 nennen mag, symblolische, neuro­

mantische, neuklassische — ihr unverkennbarer G rundzug eben ist ein m ehr oder weniger starkes M ühen u m ein neues Weltbild: es braucht nicht jenseitig, nicht eigentlich religiös zu sein [...], es kann sich ganz im Diesseits erfüllen, in einem erhöhten, starken Leben; [...] soziale Fragen rücken im m er m ehr in den H in te r­

grund. M an will einen neuen Menschen, der ganz seiner Persönlichkeit lebt, einen freien, starken Adelsmenschen — Nietzsche wirkt jetzt. Romantische N aturen sind n u n oft die Helden, von einer außerordentlichen Feinfühligkeit des seelischen Le­

bens, die sich mit dem Dasein und der Frage ihrer Lebensgestaltung bewußt aus­

einandersetzen [...]. Z u m bloß Psychologischen tritt allmählich das Geistige hinzu, [...] der Wille wenigstens zu einem absoluten Lebensmaßstab [..,].“219 Wie er sich dann diesen R om an im einzelnen vorstellt, demonstriert er gleich an Thomas Truck.

„Dieser Thom as Truck m acht mit erstaunlichem Symbolgehalt den ganzen see­

lischen Weg der Generation von naturgebundener Unfreiheit in die schrankenlose, geistige Persönlichkeitsgestaltung voll Freiheit und Schönheit hinein und, diese und sich überwindend, von solchem psychologischen Ichgedenken fort zum All­

gedanken, zum Geimeinschaftsbewußtsein, in dem er [...] allein das Wertvolle, We­

sentliche a h n t “ (29) W ir wollen demgleich eine Charakterisierung desselben Ro­

mans aus unseren Tagen zugesellen, die unserer Auffassung weitgehend entspricht;

n u r würden wir — wie auch beim nächsten Zitat von denselben Verfassern — a u f einige Form ulierungen, die die soziologischen Ansätze zu betonen berufen sind, gerne verzichten, wie ü b erhaupt a u f die gesellschaftsmoralischen Vorwürfe gegen­

über längst verstorbenen Autoren, deren — der Vorwürfe — A uth en tizität da­

durch sowieso beträchtlich vermindert ist, daß die Verfasser ihre aus ihnen ableit­

baren aktuellen allgemeinen Konsequenzen nicht zu beherzigen bereit scheinen.

Also zunächst der Abschnitt über Thomas Truck: „Es ist der Rückzug des Klein­

bürgertums a u f seine weltanschaulich u n d ästhetisch abgesicherten Bastionen, a u f Ideologeme, deren gemeinsamer Sinn in der B ehauptung u n d Legitimierung der Klassenjenseitigkeit liegt.“ Das Ideal sei „eine Persönlichkeit, die sich gegen die gesellschaftliche W irklichkeit u n d über den sozialen Klassen stehend entfaltet und, n u r ihrer inneren Stimme gehorchend, ihr Wesen nicht verändert, d.h. auch nicht zu gefährden braucht. So wird die ,naive’ Idylle des Anfangs im Schluß als Perspektive bewußten Rückzugs restituiert.“220 (272/273) Etwas breiter fassen die Verfasser die Problematik in einem Abschnitt, der außer H ollaenders u n d Paul Ernsts R om anen auch noch Friedrich Lienhards Der Spielmann berücksichtigt (die Stellen über den letzteren, weil nicht zu unserem Betrachtungskreis gehörend, las­

sen wir weg): „Die meist autobiographisch gefärbten Helden der R om ane befinden sich am Ende ihres Weges in einer gesellschaftlichen Rückzugsposition, die sich durch einen forcierten Subjektivismus und Irrationalismus auszeichnet; genauer zu unterstreichen ist dabei der mit diesem Rückzug verbundene geistig-kulturelle Füh­

rungsanspruch, der bei H ollaender religiös-abstrakt, bei Paul Ernst ethisch-rigori- stisch [...] artikuliert ist. Gemeinsam ist diesen Romanen die Problemstellung, näm ­ lich die Frage nach den Möglichkeiten der Selbstbehauptung des kleinbürgerlichen Intellektuellen in der imperialistischen Gesellschaft; gemeinsam ist ihnen auch das Krisenbewußtsein, das sich a u f die W idersprüche der Gesellschaft wie a u f die prekäre Situation der literarischen Intelligenz u n d der Kunst bezieht. In der ange­

botenen Lösung unterscheiden sich Hollaender und Ernst graduell [...]. H ollaen­

der u n d Ernst kom m en vom Engagement für die Arbeiterbewegung (und für den Naturalismus) her und gestalten die .Ü berwindung’ dieses Engagements (259) W ir finden ebenfalls Sätze über Hesse, die unsere Vorstellungen zu unterstützen scheinen, und hier besteht ein M einungsunterschied lediglich darin, daß wir das hier Gesagte beinahe vollständig nicht n ur für Hesse gültig finden: „Dem bipolaren H andlungsm odell der R om ane [Hesses] wird [...] zumeist [...] das Schema des Bil- dungs- und Entwicklungsromans eingelagert (Demian, Steppenwolf, Siddharta, N arziß und Goldmund). Dieser Rom antyp, der in seiner klassischen Form a u f individuelle

Entwicklungsgänge zunehm ender Integration in die gesellschaftliche Umwelt zu­

geschnitten ist, wird von Hesse jedoch umgekehrt. Beispielhaft i nSiddharta bildet jene der Welt zugewandte Handlungsphase des Helden nur einen Lernprozeß, am Ende dessen S iddharta in die statische Weltferne eines weisheitlich-asketischen Ich-Ideals einkehrt. [...]. Die für Hesse charakteristische U n te ro rd n u n g des klassi­

schen Entwicklungsschemas unter die absolute Typik seiner Paarbegriffe hat ihren tiefsten G ru n d in der Gleichsetzung d e s ,Weges nach In n e n ’ m it der Abkehr von jeder Geschichtlichkeit. Erst in der Identifikation der Figuren mit sich selbst er­

reichen sie ihr asketisches oder ästhetisches Ich-Ideal, das im Kern a u f kein Du, kein Ding, kein soziales M o m en t m ehr angewiesen ist.“221

Als Gegenbild zum Roman der Neuen Sachlichkeit dürfte auch Wolfgang Wend- ler Ähnliches vorgeschwebt haben: in bezug a u f Thomas Mann, Döblin, Kafka und J a h n n u.a. (nämlich Musil und Broch) spricht er vom „großen Komplex von Fra­

gen“, von der „M öglichkeit der sich selbst verwirklichenden Persönlichkeit“ und

„der realen E rfahrung einer Gesellschaftsproblematik über das vorhergegangene denkerische Infragestellen hinaus“.222 Werner Welzig spricht auch davon, daß die

„Entwicklung eines Menschen [...], soweit die D ichtung dieses Jahrhunderts davon erzählt, ein ernstes, oft tragisches Ringen mit dem eigenen Ich und ein von K on­

flikten gezeichnetes Bemühen um W elterfahrung“ sei.223

W ir haben uns im vorangehenden Kapitel einige der in den hier angeführten Beschreibungen gemeinten R omane aus den ersten beiden Jahrzehnten des Jah r­

hunderts im einzelnen angesehen. Es gilt jetzt, in einer umfassenden Betrachtung ihre Charakteristika zu erfassen und dadurch den Begriff dieses Typs von R om an in k onkreter Form zu gestalten.

Inhaltlich u n d formal steht er in der T radition des Entwicklungsromans der bürgerlich-klassischen Zeit: er hat die biographische Handlungslinie, im M ittel­

p u n k t seiner ideellen Struktur steht das Individuum bzw. die Entfaltung eines Men­

schen zu m Individuum , und dieser Prozeß geht in der Dialektik der Wechselbezie­

hungen des Einzelnen u n d des zu einem objetiven Sein geformten Außer-Ichs vor sich. N u r gibt es zunächst keinen nahtlosen Übergang in der Nacheinanderfolge des Anfangs u n d des Erfahrungswegs, der äußeren und inneren W anderung des Protagonisten: Zwischen Anfang u n d Erfahrung steht der ,A ufbruch’, der Held verläßt etwas u n d tritt bewußt in etwas anderes über; zweitens endet der Entwick­

lungsprozeß nicht in einer H arm onie (gegebenenfalls in einer resignativen H ar­

monie) zwischen dem reif gewordenen Individuum u nd der Welt, sondern in einer T re n n u n g der beiden, die wieder bruchartig erfolgt. Das Individuum , nach dem W ortgebrauch der Zeit eher P ersönlichkeit’ genannt, geht in die Einsamkeit, die aber eine weltenthaltende ist: seine Reife besteht darin, daß es die Welt in sich aufgenom m en hat. In diesem Sinne ist der Bruch eine Rückkehr in das Anfangs­

stadium a u f einer höheren Ebene: der inhaltsleeren Einsamkeit des Anfangs steht die inhaltsvolle des Endes gegenüber. Deshalb läßt sich die ideelle u n d formelle G ru n d s tru k tu r dieses Romans durch das Hegelsche Modell von These, Antithese

und Synthese veranschaulichen. Wir k önnen aber sie auch m oderner, zeitgemäßer und inhaltlich konkreter formulieren: aus der Tönniesschen (gegebenenfalls proble­

matischen) Gemeinschaft bricht der Protagonist in die ihm fremde Gesellschaft au f un d kehrt nach der Erfahrung des Gesellschaftlichen in die/eine Gemeinschaft zurück, die die ursprüngliche (Gemeinschaft) u n d die (erfahrene) Gesellschaft in der der den Welt-Sinn enthaltenden u n d in sich bestehenden Persönlichkeit auf­

hebt.

In dieser N eu fo rm u n g des ideell Kompositorischen spiegelt sich die neue Be­

wußtseinssituation wider, die oft als Bewußtseinskrise bezeichnet wird; wir würden sie eher zeitadäquate Bewußtseinsform nennen. Zugleich aber bedeutet der neue Inhalt u n d die neue Form die Aufbewahrung und W eiterführung des grundlegen­

den Ideals der vorangehenden Epoche seit der Klassik, das die höchste Seins­

möglichkeit des Menschen im Zeichen der Totalität sah; n u r realisiert sich diese Totalität nicht mehr in der Verschmelzung des Ichs und der Welt, sondern im welt­

enthaltenden Ich selbst.

Innerhalb dieses umfassenden Rahmens lassen sich auch einige inhaltsbestim ­ mende Formelemente dieses Romans kanonisieren. Diese M om ente sind nicht aus­

schließliche Charakteristika des Genres: ihr Zusammentreffen, gleichzeitiges, orga­

nisch zusammengefügtes Vorhandensein im Medium des Entwicklungsromans macht seine Eigenart aus.

Am Anfang ist die Einheit zwischen dem kindlichen oder jugendlichen Helden und der ihn bergenden und beanspruchenden Gemeinschaft keineswegs störungs­

frei: Er geht in ihr nicht auf, er hegt ein Protestgefühl gegen sie, die diesmal n u r eine oberflächliche oder sogar erzwungene ist; oder aber er hat eine innere Eigen­

art, die das Aufgehen in ihr trotz besten Willens u nm öglich macht. Insofern kann der A ufbruch aus ihr ein Ausbruch sein. Die Jugendstilnovellen Thom as M anns können in gewissem Maße als solche verselbständigte Anfangssituationen der Ro­

mane aufgefaßt werden: Darstellungen der doppelbödigen Lage zwischen D azu­

gehören u n d Außerhalbstehen. A u f jeden Fall ist die Gemeinschaft, die den ju­

gendlichen Helden umgibt, ob bewußt abgelehnt oder unbew ußt akzeptiert, eine tradierte, allgemein anerkannte, eine belastende oder ersehnte, aber unbedingt eine ,organische’.

D en Lebensweg des Protagonisten kennzeichnet nach der einfachen der J u ­ gendstilnovellen (oder-romane) eine mehrfache Bipolarität: mehrfach nicht n ur in ihrem Inhalt, sondern in ihrer Lagerung (im Sinne von ,Gelagertsein’). Insgesamt bilden diese Inhalte einander jeweils entgegengesetzte .andere H älften’, deren Ge­

gensatz entweder zwischen ihnen, also inhaltlich objektiv, oder zwischen dem Hel­

den u n d den verschiedenen Bereichen der Welt, also subjektiv, besteht. Dem ent­

spricht der Unterschied zwischen dem, was der Held erfährt, u n d dem, was er erlebt.

Die P ro p o rtio n zwischen Erfahrungs- u n d Erlebnismasse, Erfahren u n d Erleben ist in den R om anen jeweils unterschiedlich, wobei die Grenzen zwischen den bei­

den Arten vermittelten Inhalts oft fließend sind, u n d die Unterscheidbarkeit eher

eine Frage der Eigenart, des Werdegangs des Helden u n d / o d e r der darstelleri­

schen Fähigkeit des Autors ist: Thom as Truck erfährt viel, Emil Sinclair erlebt fast alles, u n d bei Hans Castorp könnte eine Auffassung, nach der er kein eigentlicher Protagonist, sondern ein Katalysator sei, dessen vornehmliche F unktion darin be­

stünde, Auiorenerfahrung in L«<;rerfahrung zu verwandeln, also Erfahrung nicht so sehr in sich aufzunehm en, als eher zu vermitteln, nicht ganz unbegründet sein.

Keine zentrale Figur der Romane erfährt u n d erlebt die W a nderung jedoch, ohne an deren Ende ein anderer zu sein, als der er an ihrem Anfang war. Sie sind also in jedem Fall echte Protagonisten von Entwicklungsromanen.

Einige inhaltliche Bereiche k ö n n en sowohl a u f der eher objektiven, d.h. Er- fahrungs-, als auch der subjektiven, d.h. Erlebnisseite als feststehender Bestandteil der R omane thematisiert werden.

Ein solcher als ein aus unterschiedlichen T e ilm om enten zusamm engesetzter Aspekt oder als ein für sich stehendes Thema ist das, w a s ,Antibürgerlichkeit’ ge­

n a n n t werden kann. W ir sind schon a u f eine ihrer Erscheinungsformen beim ju­

gendstilhaften Gegensatz zwischen Künstler und Bürger gesstoßen. D o rt haben wir auch gesagt, daß das Künstlerische als Gegensatz zum Bürgerlichen nur in Aus­

nahmefällen als konkret, also nicht metaphorisch anzusehen ist. Hier tritt das eigent­

lich Künstlerische als Gegenpol höchstens in N ebentönen auf. W ir müssen auch d a ra u f aufmerksam machen, daß das Antibürgerliche auch schon in der Literatur vor dem Jugendstil da war, und wieder betonen, daß es auch zur Zeit und innerhalb des Jugendstils m ehr Gegenpole als n u r das Künstlerische gab, daß also sich mit der Antibürgerlichkeit ein typisches Bewußtseinsmoment der Epoche seinen Platz in diesen R om anen forderte. Bei den Naturalisten „kann sich durchaus bei ihrem bürgerlich-affirmativen Gebaren noch die subjektive Em pfindung erhalten, gegen die Gesellschaft zu opponieren. Die daraus resultierende eigenartige Beziehung von bürgerlichem Leben u n d gegenbürgerlichem Denken ist ein hier zum ersten­

mal deutlich zu erkennendes Phänom en, das bis heute eine Seite des Verhältnisses Dichter— kapitalistische Gsellschaft bestim m t.“224 W ir hätten es also m it einem typischen W eltanschauungsm om ent der Intelligenz in unserer Epoche zu tun. K.

J. O benauers „ästhetischer Mensch“ (der in diesem Sinne und nach dem landläu­

figen Begriff selber Bürger ist) steht mit epochaler Gültigkeit dem „Unästhetischen“

gegenüber, näm lich dem „a uf irdisch-konkrete Ziele, tüchtig, ernsthaft u n d ein­

seitig zustrebenden kühlen oder rohen Zweck- und Verstandesmenschen“.225 H ein­

rich M anns .problematischer’ Bürger wendet sich selber gegen seine eigene Bürger­

lichkeit, die bei ihm vor allem in der festgefügten Sicherheit durch Besitz, O rd n u n g u nd Sitte (d.h. Konvention) besteht: „Das ist’s, was uns fehlt: die G efahr!... Ich bin das Endergebnis generationslanger bürgerlicher Anstrengungen, gerichtet aufWohl- habenheit, Gefahrlosigkeit, Freiheit von Illusionen: a u f ein ganz gemütsruhiges, glattes Dasein. Mit mir sollte das Ideal bürgerlicher Kultur erreicht sein. Tatsächlich ist bei mir jede Bewegung zu Ende; ich glaube an nichts, hoffe nichts, erstrebe nichts, erkenne nichts an: kein Vaterland, keine Familie, keine Freundschaft.“226 (391/391)

U nd seine antibürgerliche, nach dem Verständnis des Autors Nietzsche verpflichtete Totalitätsfigur — sie ist in der Tat Künstlerin, nämlich Schauspielerin — verwirft lei- denschaflich „alle“, „die nur eine Rolle kennen [Hervorhebung vonm ir, M. S.]. Alle diese d u m p fen Bürger, die dahingehen und ihr Leben lang dasselbe reden. Im m er n ur a u f ihr kleines Stichwort fahren sie los, d a n n machen sie wie aufgezogen zwei, drei Gesten, die keinen mehr überraschen, und gehen wieder ab. Das ist der n o r­

male M ensch.“ (52) Es ist also auch hier Bürger gleich „norm aler M ensch“. Bei Rilke sieht H e lm u t Lehnert den einen Pol noch im Künstlerischen, a u f dem ande­

ren steht aber auch bei ihm der „Gemeinschaftsmensch“, u n d in der ersten Sphäre geht er auch über das Künstlerische hinaus: „Den Bürger, den Gemeinschaftsm en­

schen, ganz u n d gar abzustreifen und zum absoluten Künstler zu werden, in einer Welt zu leben, wo bürgerliche traditionelle W ertschätzungen ersetzt worden sind durch künstlerisch empfangene, inspirierte, neue Ansichten der Geschichte, der Dinge, der Verhältnisse, das war das Lebensziel Rainer Maria Rilkes.“227 (606) U nd bei einem unserer Autoren, bei Hesse, spricht er vom „M ißverhältnis zum Bürger­

lichen, das seine konservativen, individualistischen und heim atgebundenen Nei­

gungen widerspruchsvoll störte“. (435) Hier wird also daß Antibürgerliche mit den Merkmalen „konservativ, individualistisch und heimatgebunden“ markiert, zu Recht, aber etwas eng und unvollständig, auch was Hesse selbst anbelangt. Bei ihm und auch bei anderen unserer Autoren stößt d a s ,Bürgerliche’ in Form des Autoritären, der Enge, der dum pfen Pflichtbesessenheit, der geistigen Unbeweglichkeit u.a.m.

den Protagonisten als Kind oder Jugendlichen ab, das .Eigenartige’ in ihm lehnt sich dagegen auf; während seiner W anderung in den Gefilden der Welt begegnet er dem Bürgerlichen auch im soziologischen Sinne, gegebenenfalls auch als Künstler (Einhart der Lächler), aber auch hier tritt eher die moralische Seite zum Vorschein.

A u f jeden Fall, auch in der versöhnlichsten Konstellation, wird es als für den a u f Autonomie ausgerichteten Menschen fremd und unannehm bar abgelehnt und eben

A u f jeden Fall, auch in der versöhnlichsten Konstellation, wird es als für den a u f Autonomie ausgerichteten Menschen fremd und unannehm bar abgelehnt und eben

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