Von Hesse bis Hesse: Nach der Vorstellung von Rom anen in den beiden ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts versuchen wir das Bild des von uns gemeinten Ro
mans in einigen Zügen aufzuzeichnen.
Dieser Versuch ist keineswegs der erste: Eigentlich schon zur Zeit des Entstehens dieser Form wurde sie bereits beschrieben, in Ansätzen sogar bei Leo Berg. Das weist d a r a u f h i n — die zu zitierenden Sätze erschienen 1897! —, daß die Erfahrung mit der natürlichen Ich-Suche den durch Nietzsche und die anderen geistigen Vor
bereiter sehend gewordenden Beobachter noch vor der Geburt dieses R om ans zu seiner Idee führte. Gegen Ende seines Der Übermensch in der modernen Literatur schreibt er: „Lernt das Glück und die N ot der Einsamkeit, stellt die Totalität eurer Person wieder her — und ihr seid — wenn auch nicht Überm enschen, so doch, was ihr sein könnt! U nd vor allem, hütet euch vor der Gleichheit! [...]. Begreift, daß es ein Glück und eine Hoheit gibt überall und unter allen Verhältnissen, so nur der Mensch hinaussehen kann über sich selbst, neben sich und unter sich und nicht untersinkt in die Gemeinheit der Masse, u n d selbst d ann nicht untersinkt, wenn er politisch oder sozial in ihr untersinken m uß!“217
W enn hier der von den Naturalisten enttäuschte Naturalist unaufhaltsam ent
stehen sieht, was er verständlicherweise ablehnt (der ironische U n te rto n der Auf
forderung ist nicht zu übersehen), weil er a u f die naturalistischen Ideale in seinem Herzen auch jetzt noch nicht verzichten kann, ist Georg Lukács in seiner Theorie des Romans mit dem Zeitgeist so sehr konform , daß er sogar in Cervantes’ Rom an die neue Form hineininterpretiert u n d den R om an der Zeit, in der G ott „die Welt zu verlassen beginnt“, beschreibt, als ob er sie, Jahrhunderte vor Kierkegaard und Nietzsche, schon verlassen hätte: „So steht dieser erste große R om an der W elt
literatur am Anfang der Zeit, wo der G ott des C hristentum s die Welt zu verlassen beginnt; wo der Mensch einsam wird und n ur in seiner nirgends beheimateten Seele den Sinn u n d die Substanz zu finden vermag; wo die Welt aus ihrem paradoxen Verankertsein im gegenwärtigen Jenseits losgelassen, ihrer im m anenten Sinnlosig
keit preisgegeben wird; wo die Macht des Bestehenden [...] zu un erh ö rter Größe erwächst [...]. Es ist die Periode der freigelassenen Dämonie, die Periode der gro
ßen Verwirrung der Werte bei noch bestehendem Wertsystem.“218 (104/105) An anderen Stellen äußert er Gedanken in einem Kontext, der ihre Anwendung au f die damalige Gegenwart nicht ausschließt u nd die Konkreteres hauptsächlich über den Helden des Romans aussagen: „Der Prozeß, als welcher die innere Form des Rom ans begriffen wurde, ist die W anderung des problematischen Individuums zu sich selbst, der Weg von der trüben Befangenheit in der einfach daseienden, in sich heterogenen, für das Individuum sinnlosen 'WukW cbkzxtzur klaren Selbsterkenntnis.“
(75) (Hervorhebungen von mir, M. S.) „Nur [...] ein ganz tiefes und intensives D urch
leuchtetsein des Menschen vom Sinn seines Lebens ist erreichbar. Die formgefor
derte Im m anenz des Sinnes wird durch sein Erlebnis [das sind die Erlebnisse des Helden im R om an, also die Handlung] geleistet, daß dieses bloße Erblicken des Sinnes das H öchste ist, was das Leben zu geben hat, das einzige, was des Ein
setzens von einem ganzen Leben würdig ist, das einzige, wofür sich dieser K a m p f gelohnt hat. Dieser Prozeß um faßt ein Menschenleben, und m it seinem normativen Inhalt, dem Weg zur Selbsterkenntnis eines Menschen, ist zugleich seine Richtung und sein Um fang gegeben.“ (75) U n d davor sagt er noch kurz und knapp überW eg u n d A n k u n ft des neuen Protagonisten: „das polem ischzSich-auf-sich-selbst-Besinnen der einsamen u n d verirrten Persönlichkeit“. (58)
Wie wir auch a nha nd der angeführten Zitate sehen, läßt sich bei der a u f die geistigen Formen konzentrierten Denk- u n d Schreibweise Georg Lukács’ der von ihm beschriebene R om an literarhistorisch schwer fixieren und an konkreten, vor
liegenden R om anen der Zeit identifizieren. (Am Rande seines Gedankenflusses taucht allein der Rom an seines damaligen Freundes Paul Ernst auf, also vermutlich Der schmale Weg zum Glück.)
Andere sind im Laufe des Jahrhunderts im mer wieder etwas gegenständlicher u n d faßbarer a u f diesen Typ des Romans zu sprechen gekommen. Auch W alther Rehm m eint ihn, u n d wir sind mit einigen wesentlichen M om enten, vornehm lich m it der zeitlichen Abgrenzung des Anfangs, also m it der literarhistorischen M ar
kierung seiner Beschreibung einverstanden, selbst wenn wir seine auch hier zum Vorschein k om m ende Auffassung von der Selbstbewegung u n d A u to n o m ie des Geistes nicht teilen können: „Deutlich läßt sich in der D ichtung seit Ja h r h u n d e rt
beginn wieder ein Streben nach dem Metaphysischen, das Rätseln um den Sinn des Lebens beobachten. Die psychologisch zergliedernde impressionistische Art [...]
m ußte ja auch [...] wieder langsam ein Verhältnis zum Reich des U nsichtbaren und Irrationalen gewinnen u n d dam it sich m ehr u n d m ehr weltanschaulichen Fragen nähern, sie ko n n te nicht n u r stehenbleiben bei der Erkenntnis des Relativen [...], die der E ntfaltung freier, selbstbestimmender Sittlichkeit den Weg verlegte. Wie m an auch die Kunst zwischen 1990 u n d 1910 nennen mag, symblolische, neuro
mantische, neuklassische — ihr unverkennbarer G rundzug eben ist ein m ehr oder weniger starkes M ühen u m ein neues Weltbild: es braucht nicht jenseitig, nicht eigentlich religiös zu sein [...], es kann sich ganz im Diesseits erfüllen, in einem erhöhten, starken Leben; [...] soziale Fragen rücken im m er m ehr in den H in te r
grund. M an will einen neuen Menschen, der ganz seiner Persönlichkeit lebt, einen freien, starken Adelsmenschen — Nietzsche wirkt jetzt. Romantische N aturen sind n u n oft die Helden, von einer außerordentlichen Feinfühligkeit des seelischen Le
bens, die sich mit dem Dasein und der Frage ihrer Lebensgestaltung bewußt aus
einandersetzen [...]. Z u m bloß Psychologischen tritt allmählich das Geistige hinzu, [...] der Wille wenigstens zu einem absoluten Lebensmaßstab [..,].“219 Wie er sich dann diesen R om an im einzelnen vorstellt, demonstriert er gleich an Thomas Truck.
„Dieser Thom as Truck m acht mit erstaunlichem Symbolgehalt den ganzen see
lischen Weg der Generation von naturgebundener Unfreiheit in die schrankenlose, geistige Persönlichkeitsgestaltung voll Freiheit und Schönheit hinein und, diese und sich überwindend, von solchem psychologischen Ichgedenken fort zum All
gedanken, zum Geimeinschaftsbewußtsein, in dem er [...] allein das Wertvolle, We
sentliche a h n t “ (29) W ir wollen demgleich eine Charakterisierung desselben Ro
mans aus unseren Tagen zugesellen, die unserer Auffassung weitgehend entspricht;
n u r würden wir — wie auch beim nächsten Zitat von denselben Verfassern — a u f einige Form ulierungen, die die soziologischen Ansätze zu betonen berufen sind, gerne verzichten, wie ü b erhaupt a u f die gesellschaftsmoralischen Vorwürfe gegen
über längst verstorbenen Autoren, deren — der Vorwürfe — A uth en tizität da
durch sowieso beträchtlich vermindert ist, daß die Verfasser ihre aus ihnen ableit
baren aktuellen allgemeinen Konsequenzen nicht zu beherzigen bereit scheinen.
Also zunächst der Abschnitt über Thomas Truck: „Es ist der Rückzug des Klein
bürgertums a u f seine weltanschaulich u n d ästhetisch abgesicherten Bastionen, a u f Ideologeme, deren gemeinsamer Sinn in der B ehauptung u n d Legitimierung der Klassenjenseitigkeit liegt.“ Das Ideal sei „eine Persönlichkeit, die sich gegen die gesellschaftliche W irklichkeit u n d über den sozialen Klassen stehend entfaltet und, n u r ihrer inneren Stimme gehorchend, ihr Wesen nicht verändert, d.h. auch nicht zu gefährden braucht. So wird die ,naive’ Idylle des Anfangs im Schluß als Perspektive bewußten Rückzugs restituiert.“220 (272/273) Etwas breiter fassen die Verfasser die Problematik in einem Abschnitt, der außer H ollaenders u n d Paul Ernsts R om anen auch noch Friedrich Lienhards Der Spielmann berücksichtigt (die Stellen über den letzteren, weil nicht zu unserem Betrachtungskreis gehörend, las
sen wir weg): „Die meist autobiographisch gefärbten Helden der R om ane befinden sich am Ende ihres Weges in einer gesellschaftlichen Rückzugsposition, die sich durch einen forcierten Subjektivismus und Irrationalismus auszeichnet; genauer zu unterstreichen ist dabei der mit diesem Rückzug verbundene geistig-kulturelle Füh
rungsanspruch, der bei H ollaender religiös-abstrakt, bei Paul Ernst ethisch-rigori- stisch [...] artikuliert ist. Gemeinsam ist diesen Romanen die Problemstellung, näm lich die Frage nach den Möglichkeiten der Selbstbehauptung des kleinbürgerlichen Intellektuellen in der imperialistischen Gesellschaft; gemeinsam ist ihnen auch das Krisenbewußtsein, das sich a u f die W idersprüche der Gesellschaft wie a u f die prekäre Situation der literarischen Intelligenz u n d der Kunst bezieht. In der ange
botenen Lösung unterscheiden sich Hollaender und Ernst graduell [...]. H ollaen
der u n d Ernst kom m en vom Engagement für die Arbeiterbewegung (und für den Naturalismus) her und gestalten die .Ü berwindung’ dieses Engagements (259) W ir finden ebenfalls Sätze über Hesse, die unsere Vorstellungen zu unterstützen scheinen, und hier besteht ein M einungsunterschied lediglich darin, daß wir das hier Gesagte beinahe vollständig nicht n ur für Hesse gültig finden: „Dem bipolaren H andlungsm odell der R om ane [Hesses] wird [...] zumeist [...] das Schema des Bil- dungs- und Entwicklungsromans eingelagert (Demian, Steppenwolf, Siddharta, N arziß und Goldmund). Dieser Rom antyp, der in seiner klassischen Form a u f individuelle
Entwicklungsgänge zunehm ender Integration in die gesellschaftliche Umwelt zu
geschnitten ist, wird von Hesse jedoch umgekehrt. Beispielhaft i nSiddharta bildet jene der Welt zugewandte Handlungsphase des Helden nur einen Lernprozeß, am Ende dessen S iddharta in die statische Weltferne eines weisheitlich-asketischen Ich-Ideals einkehrt. [...]. Die für Hesse charakteristische U n te ro rd n u n g des klassi
schen Entwicklungsschemas unter die absolute Typik seiner Paarbegriffe hat ihren tiefsten G ru n d in der Gleichsetzung d e s ,Weges nach In n e n ’ m it der Abkehr von jeder Geschichtlichkeit. Erst in der Identifikation der Figuren mit sich selbst er
reichen sie ihr asketisches oder ästhetisches Ich-Ideal, das im Kern a u f kein Du, kein Ding, kein soziales M o m en t m ehr angewiesen ist.“221
Als Gegenbild zum Roman der Neuen Sachlichkeit dürfte auch Wolfgang Wend- ler Ähnliches vorgeschwebt haben: in bezug a u f Thomas Mann, Döblin, Kafka und J a h n n u.a. (nämlich Musil und Broch) spricht er vom „großen Komplex von Fra
gen“, von der „M öglichkeit der sich selbst verwirklichenden Persönlichkeit“ und
„der realen E rfahrung einer Gesellschaftsproblematik über das vorhergegangene denkerische Infragestellen hinaus“.222 Werner Welzig spricht auch davon, daß die
„Entwicklung eines Menschen [...], soweit die D ichtung dieses Jahrhunderts davon erzählt, ein ernstes, oft tragisches Ringen mit dem eigenen Ich und ein von K on
flikten gezeichnetes Bemühen um W elterfahrung“ sei.223
W ir haben uns im vorangehenden Kapitel einige der in den hier angeführten Beschreibungen gemeinten R omane aus den ersten beiden Jahrzehnten des Jah r
hunderts im einzelnen angesehen. Es gilt jetzt, in einer umfassenden Betrachtung ihre Charakteristika zu erfassen und dadurch den Begriff dieses Typs von R om an in k onkreter Form zu gestalten.
Inhaltlich u n d formal steht er in der T radition des Entwicklungsromans der bürgerlich-klassischen Zeit: er hat die biographische Handlungslinie, im M ittel
p u n k t seiner ideellen Struktur steht das Individuum bzw. die Entfaltung eines Men
schen zu m Individuum , und dieser Prozeß geht in der Dialektik der Wechselbezie
hungen des Einzelnen u n d des zu einem objetiven Sein geformten Außer-Ichs vor sich. N u r gibt es zunächst keinen nahtlosen Übergang in der Nacheinanderfolge des Anfangs u n d des Erfahrungswegs, der äußeren und inneren W anderung des Protagonisten: Zwischen Anfang u n d Erfahrung steht der ,A ufbruch’, der Held verläßt etwas u n d tritt bewußt in etwas anderes über; zweitens endet der Entwick
lungsprozeß nicht in einer H arm onie (gegebenenfalls in einer resignativen H ar
monie) zwischen dem reif gewordenen Individuum u nd der Welt, sondern in einer T re n n u n g der beiden, die wieder bruchartig erfolgt. Das Individuum , nach dem W ortgebrauch der Zeit eher P ersönlichkeit’ genannt, geht in die Einsamkeit, die aber eine weltenthaltende ist: seine Reife besteht darin, daß es die Welt in sich aufgenom m en hat. In diesem Sinne ist der Bruch eine Rückkehr in das Anfangs
stadium a u f einer höheren Ebene: der inhaltsleeren Einsamkeit des Anfangs steht die inhaltsvolle des Endes gegenüber. Deshalb läßt sich die ideelle u n d formelle G ru n d s tru k tu r dieses Romans durch das Hegelsche Modell von These, Antithese
und Synthese veranschaulichen. Wir k önnen aber sie auch m oderner, zeitgemäßer und inhaltlich konkreter formulieren: aus der Tönniesschen (gegebenenfalls proble
matischen) Gemeinschaft bricht der Protagonist in die ihm fremde Gesellschaft au f un d kehrt nach der Erfahrung des Gesellschaftlichen in die/eine Gemeinschaft zurück, die die ursprüngliche (Gemeinschaft) u n d die (erfahrene) Gesellschaft in der der den Welt-Sinn enthaltenden u n d in sich bestehenden Persönlichkeit auf
hebt.
In dieser N eu fo rm u n g des ideell Kompositorischen spiegelt sich die neue Be
wußtseinssituation wider, die oft als Bewußtseinskrise bezeichnet wird; wir würden sie eher zeitadäquate Bewußtseinsform nennen. Zugleich aber bedeutet der neue Inhalt u n d die neue Form die Aufbewahrung und W eiterführung des grundlegen
den Ideals der vorangehenden Epoche seit der Klassik, das die höchste Seins
möglichkeit des Menschen im Zeichen der Totalität sah; n u r realisiert sich diese Totalität nicht mehr in der Verschmelzung des Ichs und der Welt, sondern im welt
enthaltenden Ich selbst.
Innerhalb dieses umfassenden Rahmens lassen sich auch einige inhaltsbestim mende Formelemente dieses Romans kanonisieren. Diese M om ente sind nicht aus
schließliche Charakteristika des Genres: ihr Zusammentreffen, gleichzeitiges, orga
nisch zusammengefügtes Vorhandensein im Medium des Entwicklungsromans macht seine Eigenart aus.
Am Anfang ist die Einheit zwischen dem kindlichen oder jugendlichen Helden und der ihn bergenden und beanspruchenden Gemeinschaft keineswegs störungs
frei: Er geht in ihr nicht auf, er hegt ein Protestgefühl gegen sie, die diesmal n u r eine oberflächliche oder sogar erzwungene ist; oder aber er hat eine innere Eigen
art, die das Aufgehen in ihr trotz besten Willens u nm öglich macht. Insofern kann der A ufbruch aus ihr ein Ausbruch sein. Die Jugendstilnovellen Thom as M anns können in gewissem Maße als solche verselbständigte Anfangssituationen der Ro
mane aufgefaßt werden: Darstellungen der doppelbödigen Lage zwischen D azu
gehören u n d Außerhalbstehen. A u f jeden Fall ist die Gemeinschaft, die den ju
gendlichen Helden umgibt, ob bewußt abgelehnt oder unbew ußt akzeptiert, eine tradierte, allgemein anerkannte, eine belastende oder ersehnte, aber unbedingt eine ,organische’.
D en Lebensweg des Protagonisten kennzeichnet nach der einfachen der J u gendstilnovellen (oder-romane) eine mehrfache Bipolarität: mehrfach nicht n ur in ihrem Inhalt, sondern in ihrer Lagerung (im Sinne von ,Gelagertsein’). Insgesamt bilden diese Inhalte einander jeweils entgegengesetzte .andere H älften’, deren Ge
gensatz entweder zwischen ihnen, also inhaltlich objektiv, oder zwischen dem Hel
den u n d den verschiedenen Bereichen der Welt, also subjektiv, besteht. Dem ent
spricht der Unterschied zwischen dem, was der Held erfährt, u n d dem, was er erlebt.
Die P ro p o rtio n zwischen Erfahrungs- u n d Erlebnismasse, Erfahren u n d Erleben ist in den R om anen jeweils unterschiedlich, wobei die Grenzen zwischen den bei
den Arten vermittelten Inhalts oft fließend sind, u n d die Unterscheidbarkeit eher
eine Frage der Eigenart, des Werdegangs des Helden u n d / o d e r der darstelleri
schen Fähigkeit des Autors ist: Thom as Truck erfährt viel, Emil Sinclair erlebt fast alles, u n d bei Hans Castorp könnte eine Auffassung, nach der er kein eigentlicher Protagonist, sondern ein Katalysator sei, dessen vornehmliche F unktion darin be
stünde, Auiorenerfahrung in L«<;rerfahrung zu verwandeln, also Erfahrung nicht so sehr in sich aufzunehm en, als eher zu vermitteln, nicht ganz unbegründet sein.
Keine zentrale Figur der Romane erfährt u n d erlebt die W a nderung jedoch, ohne an deren Ende ein anderer zu sein, als der er an ihrem Anfang war. Sie sind also in jedem Fall echte Protagonisten von Entwicklungsromanen.
Einige inhaltliche Bereiche k ö n n en sowohl a u f der eher objektiven, d.h. Er- fahrungs-, als auch der subjektiven, d.h. Erlebnisseite als feststehender Bestandteil der R omane thematisiert werden.
Ein solcher als ein aus unterschiedlichen T e ilm om enten zusamm engesetzter Aspekt oder als ein für sich stehendes Thema ist das, w a s ,Antibürgerlichkeit’ ge
n a n n t werden kann. W ir sind schon a u f eine ihrer Erscheinungsformen beim ju
gendstilhaften Gegensatz zwischen Künstler und Bürger gesstoßen. D o rt haben wir auch gesagt, daß das Künstlerische als Gegensatz zum Bürgerlichen nur in Aus
nahmefällen als konkret, also nicht metaphorisch anzusehen ist. Hier tritt das eigent
lich Künstlerische als Gegenpol höchstens in N ebentönen auf. W ir müssen auch d a ra u f aufmerksam machen, daß das Antibürgerliche auch schon in der Literatur vor dem Jugendstil da war, und wieder betonen, daß es auch zur Zeit und innerhalb des Jugendstils m ehr Gegenpole als n u r das Künstlerische gab, daß also sich mit der Antibürgerlichkeit ein typisches Bewußtseinsmoment der Epoche seinen Platz in diesen R om anen forderte. Bei den Naturalisten „kann sich durchaus bei ihrem bürgerlich-affirmativen Gebaren noch die subjektive Em pfindung erhalten, gegen die Gesellschaft zu opponieren. Die daraus resultierende eigenartige Beziehung von bürgerlichem Leben u n d gegenbürgerlichem Denken ist ein hier zum ersten
mal deutlich zu erkennendes Phänom en, das bis heute eine Seite des Verhältnisses Dichter— kapitalistische Gsellschaft bestim m t.“224 W ir hätten es also m it einem typischen W eltanschauungsm om ent der Intelligenz in unserer Epoche zu tun. K.
J. O benauers „ästhetischer Mensch“ (der in diesem Sinne und nach dem landläu
figen Begriff selber Bürger ist) steht mit epochaler Gültigkeit dem „Unästhetischen“
gegenüber, näm lich dem „a uf irdisch-konkrete Ziele, tüchtig, ernsthaft u n d ein
seitig zustrebenden kühlen oder rohen Zweck- und Verstandesmenschen“.225 H ein
rich M anns .problematischer’ Bürger wendet sich selber gegen seine eigene Bürger
lichkeit, die bei ihm vor allem in der festgefügten Sicherheit durch Besitz, O rd n u n g u nd Sitte (d.h. Konvention) besteht: „Das ist’s, was uns fehlt: die G efahr!... Ich bin das Endergebnis generationslanger bürgerlicher Anstrengungen, gerichtet aufWohl- habenheit, Gefahrlosigkeit, Freiheit von Illusionen: a u f ein ganz gemütsruhiges, glattes Dasein. Mit mir sollte das Ideal bürgerlicher Kultur erreicht sein. Tatsächlich ist bei mir jede Bewegung zu Ende; ich glaube an nichts, hoffe nichts, erstrebe nichts, erkenne nichts an: kein Vaterland, keine Familie, keine Freundschaft.“226 (391/391)
U nd seine antibürgerliche, nach dem Verständnis des Autors Nietzsche verpflichtete Totalitätsfigur — sie ist in der Tat Künstlerin, nämlich Schauspielerin — verwirft lei- denschaflich „alle“, „die nur eine Rolle kennen [Hervorhebung vonm ir, M. S.]. Alle diese d u m p fen Bürger, die dahingehen und ihr Leben lang dasselbe reden. Im m er n ur a u f ihr kleines Stichwort fahren sie los, d a n n machen sie wie aufgezogen zwei, drei Gesten, die keinen mehr überraschen, und gehen wieder ab. Das ist der n o r
male M ensch.“ (52) Es ist also auch hier Bürger gleich „norm aler M ensch“. Bei Rilke sieht H e lm u t Lehnert den einen Pol noch im Künstlerischen, a u f dem ande
ren steht aber auch bei ihm der „Gemeinschaftsmensch“, u n d in der ersten Sphäre geht er auch über das Künstlerische hinaus: „Den Bürger, den Gemeinschaftsm en
schen, ganz u n d gar abzustreifen und zum absoluten Künstler zu werden, in einer Welt zu leben, wo bürgerliche traditionelle W ertschätzungen ersetzt worden sind durch künstlerisch empfangene, inspirierte, neue Ansichten der Geschichte, der Dinge, der Verhältnisse, das war das Lebensziel Rainer Maria Rilkes.“227 (606) U nd bei einem unserer Autoren, bei Hesse, spricht er vom „M ißverhältnis zum Bürger
lichen, das seine konservativen, individualistischen und heim atgebundenen Nei
gungen widerspruchsvoll störte“. (435) Hier wird also daß Antibürgerliche mit den Merkmalen „konservativ, individualistisch und heimatgebunden“ markiert, zu Recht, aber etwas eng und unvollständig, auch was Hesse selbst anbelangt. Bei ihm und auch bei anderen unserer Autoren stößt d a s ,Bürgerliche’ in Form des Autoritären, der Enge, der dum pfen Pflichtbesessenheit, der geistigen Unbeweglichkeit u.a.m.
den Protagonisten als Kind oder Jugendlichen ab, das .Eigenartige’ in ihm lehnt sich dagegen auf; während seiner W anderung in den Gefilden der Welt begegnet er dem Bürgerlichen auch im soziologischen Sinne, gegebenenfalls auch als Künstler (Einhart der Lächler), aber auch hier tritt eher die moralische Seite zum Vorschein.
A u f jeden Fall, auch in der versöhnlichsten Konstellation, wird es als für den a u f Autonomie ausgerichteten Menschen fremd und unannehm bar abgelehnt und eben
A u f jeden Fall, auch in der versöhnlichsten Konstellation, wird es als für den a u f Autonomie ausgerichteten Menschen fremd und unannehm bar abgelehnt und eben