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D ie passive InnerlichkeitX

In document Der Weltanschauungsroman (Pldal 172-185)

Alle unsere Autoren, von H e rm an n Hesse des Peter Camenzind an, sind m ehr oder weniger der schon zum Titel zitierten und im Original kursiv gesetzten, also be­

sonders hervorgehobenen Empfehlung Julius Langbehns gefolgt: „Zur Einsamkeit und Einkehr in sich selbst nöchte man daher vor allem den heutigen Deutschen raten.“274 A u f jeden Fall haben ihre Ideeenträger, also ihre Protagonisten, zuerst den K am pf mit der Welt aufgenommen oder wenigstens gezwungenermaßen angenom ­ men, bevor sie zu dieser „Einkehr in sich selbst“ gelangten oder ihr Leben als Ge­

schlagene dieses Kampfes aufgaben.

In den 20er u n d 30er Jahren entstehen neben den schon behandelten u n d noch zu behandelnden W eltanschauungsromanen Prosawerke, die sich als eine Variante in ihren allgemeinen ideellen und weltanschaulichen Merkmalen durchaus neben die Hauptlinie der Entfaltung des Genres stellen lassen, sich aber zugleich vor allem in ihrer äußeren Form vom Protoyp unterscheiden. A u f den ersten Blick scheinen sie n u r die letzte Phase der Romane aufzugreifen: W ährend die Protagonisten der R om ane nach einer W anderung in den Gefilden der Welt zur „Einsamkeit und Einkehr in sich selbst“ kommen, haben die Figuren dieser Variante die W anderung (oder Irrfahrten) am Anfang der H a n dlung hinter sich. Von einer H a n d lu n g im Sinne von Taten im konkreten oder übertragenen, d.h. geistigen Sinne u n d in dem einer Entfaltung kann kaum die Rede sein. Was diese Prosawerke ausmacht, ist eher die Beschreibung eines inneren Zustandes von Menschen, die sich von der äußeren Welt und selbst von der Teilnahme an der O rientierung in dieser äußeren Welt radikal getrennt haben, die n u r noch in ewigen Kategorien denken u n d fühlen, nämlich in solchen, die mit den aktuellen Zeitläuften nichts m ehr zu tu n haben, sie hinter sich gelassen haben. Sie erscheinen n u r am Rande ihres Blickfeldes als überwundene und au f ihr inneres Leben keinen Einfluß m ehr ausübende Momente einer Gegenwelt. Als Prototypen dieser Welthaltung, die wir .passive Innerlichkeit’

nennen möchten, und ihrer paradigmatischen Form sehen wir Ernst Wiechert u nd H ans Carossa an. Die weltanschaulichen Charakteristika sind aber auch bei an­

deren Autoren vorhanden, bei solchen, die sonst eine konventionellere H a n d lu n g beibehalten haben, wie u.a. W ilhelm Lehmann oder R u d o lf Borchardt.

Die Welthaltung, die sich in der passiven Innerlichkeit manifestiert, ist der, die dem Weltanschauungsroman zugrunde liegt, vergleichbar; nur ist in ihr die Infrage­

stellung der K om petenz der rational erfaßbaren und gesellschaftlich-historischen M om ente in der Seinsbestimmung des menschlichen Lebens zu einer A blehnung derselben radikalisiert. Außerliterarische und begriffliche Deutungsversuche zeigen Gemeinsamkeit und den doch spezifischen Charakter. Georg Lukács beschrieb den a u f die Literatur bezogenen weltanschaulichen Sachverhalt noch vor dem ersten

Weltkrieg aufgrund seiner äußeren (literarischen) und inneren (philosophischen) Erfahrung. Was wir bei ihm über die „inhaltlich erfüllte, rein innerliche W irk­

lichkeit“ und „das Kosmosartige der Innerlichkeit“, das sie „in sich ruhend und selbstgenügsam m acht“,275 lesen, gilt hier noch genauer als dort, wo wir es zuerst, in den Betrachtungen über die Innerlichkeit im allgemeinen, zitiert haben. Zur gleichen Zeit, nämlich 1931, als Franz Werfel jede Art von aktueller „Realität“, d.h.

a u f das äußere Leben des Menschen und der Menschheit gerichteter Orientierung, deren H a u p tfo rm en er im Bild und in den gesellschaftlichen Intentionen in den USA und der Sowjetunion gleichermaßen sieht, im Namen des „Innerlichkeit“ ge­

nan n ten H um anism us, der R ettung der Welt der Menschen des „seelisch-geistig bewegten“, „im weitesten Sinne musikalischen M enschen“276 ablehnt, stößt man a u f der anderen politischen Seite in der gleichen Richtung vor: „Die Wirklichkeit des Lebens ist unausschöpfbar vielfältig und dem Verstände unzugänglich. M it dem selbstgewobenen Maschennetz der Begriffe entschöpft er ihr n ur das Faßbare u nd Erstarrte denkbarer Dinge, Kräfte und Tatsachen, während ihm das eigentliche Le­

ben immer wieder entschlüpft.“277 Ein anderer Autor des gleichen Kreises sieht das einzig Wertvolle in der Erlebnisfähigkeit der Seele, er bezeichnet als die schlim m ­ sten Feinde dieses Wertvollen unter anderem die Vertreter des Geistes der Wissen­

schaft, des technischen Fortschritts und der Rationalität, als seine Traditionsfiguren Goethe, Gestalten der Rom antik, der „wirklichkeitsnächsten, produktivsten deut­

schen Epoche“, wie Görres und Eichendorff, als geistigen Vater Nietzsche u n d als seinen Vorkämpfer in der damaligen Gegenwart Ludwig Klages.278 M an sieht diese Art von Innerlichkeit wiederum auch als eine Art von möglichem Versuch eines Widerstands nach 1933, nämlich als „die Flucht in die Innerlichkeit unter W ahrung der persönlichen Integrität“279 (Der ,Widerstand’-Charakter ist dabei heftig u m ­ stritten; das .nicht ganz systemkonforme’ Verhalten wird aber auch von den här­

testen Kritikern der These über die .innere Emigration’ meistens anerkannt.) Georg Lukács verweist später diese Art Literatur in den Bereich der von ihm a u f das schärf­

ste verurteilten „Lebensphilosphie“, ein versöhnlicheres Urteil, ebenfalls im Rück­

blick, kann wie folgt lauten: „Natürlich blieb das Idealbild der Utopie — u nter der Oberfläche stets gegenwärtig als .innerstes Wesen’, das nur durch Leiden u n d Nie­

derlage Erfüllung finde — nach dem Kriege [Verf. meint den ersten Weltkrieg] eben­

so aktuell wie die Vorstellung, daß diese wahre Wirklichkeit der rasch vergehenden Zeit zugrunde liege u nd unabwendbar nach einer Vereinigung mit dem Göttlichen dränge. Die Anziehungskraft der apokalyptischen Tradition bestand nach wie vor in ihrer Innerlichkeit [,..].“280

W ir wollten m it diesen Zitaten und Bezugnahmen nicht so sehr ein Urteil for­

mulieren oder uns die verschiedenen Möglichkeiten des Urteilens vergegenwär­

tigen, sondern zur Beschreibung der Erscheinung selbst Beiträge liefern. A u f die­

sem Weg wollen wir jetzt schon aufgrund der Werke selbst weitergehen.

Die ideentragenden Figuren dieser Erzählungen u n d R om ane meist kleineren Formats begeben sich in eine Lebenssituation, in der sie sich n ur

außergesellschaft-liehen Kräften, dem Göttlichen oder was noch darüber ist, dem unerschließbaren, ziellosen, jedoch einen metaphysischen Sinn gebenden M akrokosm os, u n te ro rd ­ nen, was m it anderen W orten heißt, sie wählen das In-sich-selbst-Bestehen oder befinden sich von Anfang an in dieser inneren Situation. Sie leben auch meistens außerhalb der Verdichtungsstellen der Industriegesellschaft jedweder C ouleur und, was die innere Existenz betrifft, außerhalb des W irkungsbündels der herrschenden u n d lenkenden Kräfte derselben, der durch die Rationalität, das wissenschaftliche, technische und gesellschaftlich-historische Denken bestimmten Begrifflichkeit. All dies kann höchstens als Gegenstand nicht der Auseinandersetzung, sondern der strikten A blehnung erscheinen. Sie leben gegen den Geist des positivistischen 19.

un d des industriellen u n d politischen 20. Jahrhunderts, oder wieder anders for­

muliert: im Medium der Tönniesschen und noch mehr der Spenglerschen ursprüng­

liche K ultur u n d außerhalb dessen, was sie Zivilisation nannten.

In der Sphäre des politischen Denkens entsprach dem am ehesten das, was als .konservative Revolution’ ins Vokabular der Zeit aufgenom m en wurde: das enga­

gierte Eintreten für die vermeintlichen moralischen Werte u n d inneren Beweg­

gründe der vorindustriellen Zeit.

Literarisch verwirklicht sich dies zunächst in der Sprache. Sie ist uns nicht unbe­

kannt seit Carl H a u p tm an n , und dieser gegebenenfalls auch vom Expressionismus beeinflußten Sprache der Nicht-Rationalität oder der Antibegrifflichkeit bedienten sich A utor u n d Figuren in den R om anen des vorangehenden Kapitels, Ernst Wie- chert eher noch als Emil Strauß. Wir können sie wie bei Spengler durch kontroverse W ortreihen charakterisiseren, bei Spengler u n d Wiechert sind die W örter ähnlich, ihr emotioneller u n d begrifflicher H in terg ru n d und Umkreis identisch (es geht hier u m Das einfache Leben). W örter u n d Wortgefüge aus der Welt der Figur sind:

Fügung, Schicksal, Seele, Tiefe, Erfüllung, Sterne, Engel, das Einfache, „bis es Zeit geworden“, „Blut, ganz t i e f ‘, „H im m el über alle Maßen groß u n d gewaltig“, „[der inneren Stimme, der Fügung] gehorsam sein“, „ein Dach, ein Herd, eine Arbeit, frohes Herz“, „der eigene, einmalige T od“, „das schweigsame Reich der Pflanzen [als Ideal für das menschliche Sein]“, „das Blut war das einzige unanfechtbar u n d u n ­ sterblich“; u n d aus der Gegenwelt: Geschwätz, Schiffe, Menschen, Häuser [in der Großstadt], H aß und Hochmut, Ehrgeiz, „Zeitung voller Hader, U nruhe und Lärm“,

„dunkle u n d von Leidenschaften erfüllte W elt“, „Bankbuch führen, Kabel her- stellen“ [gegenüber Fische fangen und a u f dem See O rd n u n g halten], „unadlige Zeit“. M an hat den Eindruck, daß bis au f bedeutungsschwache Verbindungswörter gleichsam das Wort- und Ausdruckmaterial ganzer Werke in diese beiden Reihen eingeordnet werden könnte. Diese inhaltliche U nterscheidung oder sogar Gegen­

überstellung, die natürlich oft nur kontextuell erfaßt werden kann, verbirgt sich in einem Satz wie: „die Bücherreihen sahen ernst herab, eine immerwährende M ah­

nung, daß die M enschheit sich M ühe gegeben hatte, Tausende von Jahren lang, u n d daß alle M ühe nicht verhindert hatte, daß der Tod über die Erde ging, der Unfriede, der Haß, die Verzweiflung“.281 (574) Das ist zugleich ungefähr die Fas­

sung für das a u f den Menschen konzentrierte Hum anistische der passiven Inner­

lichkeit.

Es gibt mehrere und bestimmende Ideenkomplexe, die in den weltanschaulichen H intergrund der von uns untersuchten Literatur gehören, hier aber an u nd für sich stärker hervortreten und meistens ein Geflecht bilden, das in seiner Z usam m en­

setzung n u r für die passive Innerlichkeit relevant ist.

Ein solcher Komplex ist zunächst die behauptete und als Ideal postulierte wesen­

hafte Einheit von Mensch und Natur. Sie wird als inneres Gesetz des Seins auf­

gefaßt, konkret gegen die gesellschaftliche oder zivilisatorische Bestimmung des Menschen gerichtet, als These formuliert und immer wieder als poetisches Element des Stils in Gleichnissen und M etaphern verwendet. Das war schon bei den lite- rarisch-philosophischen Vorfahren so. W ir lesen z.B. bei de Lagarde, u n d daß es hier um die „D eutschen“ geht, ist unseren Autoren in den 20er Jahren auch nicht fremd: „die Deutschen“ also „ollten [...] in die Zukunft streben u n d [...] in eine Vergangenheit zurückgehen, in welcher es weder ein Buch gab noch eine Zeitung noch eine irgendwie geartete Schriftgelehrsamkeit, nur stilles Horchen au f die Stim­

me ursprünglicher Natur, leises Wachsen m it den Bäumen des Waldes und der Saat der Felder, in welcher allemal im Herbste von selbst und ohne M urren abfiel was Schmuck, aber vergänglich, in welchem ohne Hast winterlang a u f den Frühling eines nächsten Jahres wartete, was neu und him m elan den Somm er h in d u rc h ge­

diehen war“.282 O d e r einige Sätze Spenglers, die a u f einer anderen Ebene m it der­

selben Selbstverständlichkeit das naturhaft Organische sogar mit dem Anspruch der Thesenhaftigkeit postulieren: „Das Weibliche steht dem Kosmischen näher. Es ist der Erde tiefer verbunden und unmittelbarer einbezogen in die große Kreisläufe der Natur. Das M ännliche ist freier, tierhafter, beweglicher auch im E m pfinden und Verstehen, wacher u n d gespannter. Der M a n n erlebt das Schicksal, u n d begreift die Kausalität, die Logik des Gewordenen nach Ursache und Wirkung. Das Weib aber ist Schicksal, ist die organische Logik des Werdens selbst.“283

Diese Verbindung des Menschen mit der Natur, u nd noch mehr: die naturhafte Einheit alles Seienden u nd die Naturhaftigkeit des einzelnen, hat eine zentrale Rolle in der Weltvorstellung der passiven Innerlichkeit, ist eigentlich der Garant sowohl ihrer Passivität als auch ihrer Innerlichkeit. Sie ist ihre Religion, das höhere Prinzip, das das Leben deutet, und seine Metaphysik, die es möglich macht, den Menschen von seiner gesellschaftlichen Bindung loszulösen. Diese Struktur der Ontologie des Menschen und ihre Loslösung von der gesellschaftlichen und ideellen Bindung ist Ziel und Idee der W elthaltung selbst. „Ich denke m ir alle Organismen harm onisch und glaube, die meisten D isharmonien kom m en daher, daß wir nach G rundsätzen leben statt nach unseren Gesetzen“ — sagt eine Identifikationsfigur R u d o lf Bor- chardts.284 Naturvorgänge und das „innere Gesetz“ bilden auch bei Wiechert eine Einheit: „Wir beziehen alles au f den Tod und tun vielleicht nicht recht daran. Ge­

fährlich scheint mir n u r zu sein, was sich als fremd in mein Leben drängt, es zum Ausbiegen oder zum Aufstauen zwingt und mich für eine Weile daran hindert, so

zu wachsen oder zu -welken, wie das innere Gesetz es mir befiehlt.“285 Genauso erfüllt die N a tu r ihre F unktion im Wirkungskreis von etwas H öherem : „[...] das Große des Lebens, das in solchen alten Bäumen ist, wie es sich aufhebt von Wurzel zur Krone, seinen Raum erfüllt, wartet und wächst und das Aufgetragene der Schöp­

fung still vollführt“.286 Durch Metaphern werden auch das Unorganische und U n ­ gewisse m enschennahe Formen des zivilisatorisch-gesellschaftlich Hervorgebrach­

ten (so das Haus) in die Einheit eingebunden u n d dadurch organisch gemacht:

„H aberkorns Besitz war ein altes, wohliges Gewese, gleich einer bejahrten Staude mit Knollen und Wurzelstöcken, dem Boden verhaftet u n d den vier Jahreszeiten vertraut im Schoß gelegen, zu seiner heutigen Gestalt gewachsen wie ein Baum zu seinen Ringen und unablässig au f das eingeboren Nichtveränderliche horchend.“287 Das kann d ann ins trivial Sentimentale übergehen: „Vom W aldrand löst sich ein Reh, trippelnd, witternd, gefallsüchtig hüpfend und von der grünen Wiese naschend, während hinter den kupferfarbenen Föhrenstämmen die Rittertiere m it M ordstan­

gen turnieren, sich um das zartgelenkige, sanftschnäuzige Wesen streiten — so sah Hedwig sich und die käm pfenden Männer, und grollte beiden u nter T ränen [...]“

und m it „einem geheimen Stolz.“288 Eigentlich gehört auch die N ebeneinander­

stellung und Gleichsetzung von Weib und Mutterschaft m it der Erde bzw. dem M utterboden, der wir schon bei Wiechert begegneten und die d a n n ein zentrales Symbol nationalsozialistischen Frunchtbarkeitsmythos wurde, hierher.

Als Parallele zu der organischen Einheit im All oder als ihre Verlängerung in die Menschenwelt erscheint die hierarchische O rd n u n g der Gesellschaft, deren U r­

sprung in der Tönniesschen Gemeinschaft liegt und deren Fortsetzung u n d Deri- vatum die Vorstellung Spenglers über die der Zivilisation entgegengesetzte (Ur-)Kul- tu r ist. Organisches, Hierarchisches und Tradition verfließen in diesem Sinne in­

einander, wenn für die Söhne „der Vater H ö h e und Gesetz ihres Daseins bedeu­

tete“.289 Die Störung dieser hierarchischen O rd n u n g durch die Industrie-gesell- schaft, ganz besonders durch ihre wirtschaftsdemokratischen F ormen während der Weimarer Republik, und ihre relative Wiederherstellung in der Innerlichkeitssphäre bilden das Thema u n d bestim men die H a n d lu n g der Vereinigung durch den Feind hindurch von R udolf Borchhardt (1937), in der sie auch programmatisch formuliert wird: „[...] reine Sehnsucht nach der reinen Strenge schöner und Gebietender Sitten.

Eine O rd n u n g , o himmlische Geister, wenn es euch denn gibt! und ein Ansehen, das sie verbürgt, mit Macht um alle ihre Grenzen!“290 Die O p tio n für eine fest­

stehende u n d bewahrende Abstufung zwischen den verschiedenen, durch die Tra­

d ition festgelegten Schichten der Gesellschaft — nach der ausgesprochenen oder stillschweigenden Auffassung der Autoren .Gliedern der G emeinschaft’ — ist die resolute Ablehnung der Gleichheitsvorstellungen des späten 19. Jahrhunderts, also der Sozialdemokratie, und der Demokratie der Weimarer Republik; ihre Gültigkeit kann die Freiheit des Einzelnen ermöglichen und herrscht übrigens in der Figuren­

struktur der Erzählungen. Charakteristischerweise stehen die ideentragenden H aupt­

figuren meistens a u f einer mittleren Stufe, sind also, in der Sprache dieser Gesell­

schaftsvorstellung, Dienende und Herren zugleich; oder sogar dienende Herren wie der Protagonist in Wiecherts Das einfache Leben, der gerade durch diese freiwillige, sich bewußt aufgetragene Doppelrolle eine Art Totalität bzw. einen ihrer möglichen Aspekte verwirklicht. Besonders einleuchtend ist ein Dialog aus demselben Roman, aus dem klar hervorgeht, daß auch das — sagen wir — Gemeinschaftsdemokratische a u f dem Festhalten am hierarchischen G rundm uster beruht. Einer der Nur-Herren des Romans sagt zu dem Protagonisten, dem dienenden Herren, der zugleich das Ideal der autonom en Persönlichkeit, die Idealvorstellung des innerlichen Menschen ist (es ist dabei auch nicht ohne Interesse, daß das S prachrohr des Autors bei der Bezeichnung einer Menschengruppe das moderne, sogar marxistische W ort .Klasse’

verwendet u n d nicht etwa .Stand’, das bei Autoren seiner Ausrichtung das Stilge­

rechte gewesen wäre): „[...] die Entwicklung der letzten Jahre dürfte ihm [dem Prota­

gonisten] wohl gezeigt haben, daß alle königstreuen M änne r gegen jene Lumpen Zusamm enzustehen hätten “. Die programmatische Antwort lautet: „Welche Lum­

pen der Herr O berst meine? Auch dieses sei bei ihnen [...] nicht üblich, eine ganze Klasse eines Volkes, selbst wenn sie irre oder Böses tue oder sogar Böses wolle, als Lumpen zu bezeichnen. U nd die Rettung des Vaterlandes, die sie doch alle wollten, scheine ihm n ur möglich, wenn das ganze Volk dazu zusammenstehe, nicht aber wenn zwischen der Kaste der Herren u n d der Kaste der Lumpen ein tödlicher Ab­

grund aufgerissen bleibe.“291

Organisches Aufgehen im All und in der hierarchischen O rd n u n g ist die Welt der passiven Innerlichkeit. Die Gegenwelt ist das Gefilde der W anderung der Welt­

anschauungsrom ane, das Gesellschaftliche: die Gegenwelt der in sich ruhenden autonom en u n d in diesem Sinne durch Vereinsamung und Einkehr ganzheitlichen Persönlichkeit. In dieser Gegenwelt wirken die Traumata der Jahrhundertw ende weiter, die Großstadt, die Vermassung, die Nivellierung, die Vernichtung der Frei­

heit durch Gleichheit, sie erhalten aber ein aktuelles Zeitkolorit und eine eigene T önung durch das D urchschim m ern der konkreten Verhältnisse der Weimarer Re­

publik. Es ist also ähnlich wie in den Beschreibungen Oswald Spenglers, in denen tradierte Bilder zu durch die damals gegenwärtigen Zustände vergegenständlichten Visionen werden. Dem höheren Sinn des Organischen wird das Undurchsichtige und Verstörende des von diesem höheren Sinn gesehen Sich-Auflösenden entgegen­

gestellt. Bei dem distanzierten und betont kontemplativen Carossa ist von der „un­

ruhigen Z eit“292 (45), „den dunklen D ä m o n e n des Zeitalters“ (281), an Rilke erin­

nernd von „kleinen totgeweihten K indern“ (20) die Rede u n d wird die Frage ge­

stellt, „wie wohl das unruhige, in h u ndert kleine Verantwortlichkeiten zerfallende Dasein eines dienenden Menschen von heute mit den hohen Forderungen der Seele in Einklang zu bringen wäre“. (52) Borchardt, sonst auch ein Vertreter des geho­

benen Stils, ist viel leidenschaftlicher und konkreter in der Verurteilung des W irt­

schaftslebens der Zeit, er tut es übrigens vor dem H intergrund der These Spenglers über die im G runde persönlich-subjektive Bestimmung der Wirtschaft einer Epo­

che: „[...] m ir wird weh, wenn ich einen H errn und einen G eldm ann zusamm en

sehe, u nd wenn sich der Wucher, das Auskaufen, die Fronherrschschaft tausendmal nationale Wirtschaft nennt, für uns sollte es n u r eine nationale Wirtschaft geben, — die es immer gegeben hat, solange wir etwas taugten, die regierte Wirtschaft. Sie ist ein Mittel, die Zwecke wollen wir ihr anweisen, nicht ihre Mittel werden zu Zwecken, die sie uns ins O h r raunt.“293 (281) Die Nivellierung und Uniformiertheit erscheint bei ihm auch in krassen Tönen: „Auf Null reduziert, gleichgewalzt, a u f N ichts­

sagendes abgescheuert, sprachlos geworden bis au f einen Mundvoll halbzerfallener Formeln, allerweltsgrau geworden mit der Millionenfarbe des Europäischen Arbeits­

hauses, ausdruckslos, ohne Aufgaben, ohne U m riß [...].“ (412) „Gott war fortgegan­

gen, aber die Propheten kam en“294 (373) m it „ihrer fraglich Wissenschaft“. (376) Es werden die Gesellschaft im Banne der Politik und die Politiker ins Bild gefaßt:

„[...] das meiste war, wie es gewesen war, ohne Freude u n d o h n e Frieden. [...] es gab wenig H o ffn u n g in den Gesichtern [...], und das Leben trieb wie ein Schiff ohne Steuer und ohne Masten dahin. Der W ind bewegte es, u n d die W indstille hielt es an, aber alle Küsten lagen hinter Nebeln. Propheten standen a u f der Brücke und weissagten, aber vor dem Mast standen andere und weissagten den Untergang der Weissagenden, und die Kinder liefen müde von einem zum ändern, ob nicht aus den Weissagungen Brot wachsen würde. Aber es wuchs n u r Verzückung u n d H aß.“

(573/574) W enn Wiechert d ann von den „krausefn] Zeichen der Nekromanten, der niemals gesättigten“ spricht, „die wie ein G ott bewegen u n d beschwören wollen“

(638), meint er, in ein Bild über die 20er Jahre versteckt, spätere. (Der R om an er­

schien 1939.) Die Großstadt bietet nur die „Bilder des Verfalls u n d des Rausches“

(389/390), „heisere Stimmen schrien die Ernte des Tages aus, die Kurse, die Morde, die Streiks, die Revolutionen“ (372); Stadt und Masse gehören zusam m en in ihrer

(389/390), „heisere Stimmen schrien die Ernte des Tages aus, die Kurse, die Morde, die Streiks, die Revolutionen“ (372); Stadt und Masse gehören zusam m en in ihrer

In document Der Weltanschauungsroman (Pldal 172-185)