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Gesellschaftlich-literarische Vorbedingungen

In document Der Weltanschauungsroman (Pldal 63-76)

Was die deutsche Literatur der Jahrhundertw ende anbelangt, gibt es form al — grob gesehen — zwei O rdnungshypothesen. Die eine gilt im allgem einen für spezifisch literarhistorische Betrachtungen: H ier gesteht der Betrachter entweder ein, daß er für die Zeit zwischen 1895 u n d 1910 kein ordnendes und synthetisierendes Prinzip gefunden hat, u n d /o d e r er zählt — oft nach diesem Eingeständnis — eine Reihe von verschiedenen Darstellungsweisen, Tendenzen, Stilarten wie Im pressionism us, Post­

im pressionism us, Symbolism us, N eurom antik, N euklassizism us und noch einiges m ehr a u f u n d versucht d ann, m eistens ohne durchschlagenden Erfolg, aufgrund von äußeren K ennzeichen die schier unabsehbare Vielfalt in diese Prokrustesbett- chen, deren M aßstäbe an und für sich schwer zu bestim m en sind, hieinzustopfen.

Die sich von der K ulturgeschichte her der Literatur an näh ern un d andere, die im geistigen Leben der Jahrh undertw end e das Vorfeld späterer Denk- u nd L iteratur­

form en sehen, finden K riterien, nach denen das literarische Bild dieser anderthalb Jahrzehnte in größere Felder eingeteilt werden kann, m it scharfen T rennlinien übri­

gens, deren G ültigkeit gegebenenfalls auch über 1910 hinaus verlängert werden kann. Der Schreiber dieser Zeilen m öchte für sich in A nspruch nehm en, zu r zwei­

ten G rupp e gezählt zu werden, davon ganz abgesehen, daß sich für das Them a vor­

liegender B etrachtungen die Beschäftigung m it der Literatur der Jahrhundertw ende n u r u n ter solchem A spekt lohnt.

W ir wollen zwecks V eranschaulichung des gerade Gesagten einige U rteile dieser zweiten Provenienz zitieren, m it grundsätzlichem Einverständnis für die M ethode des literarhistorischen Denkens und Sehens und bei Verzicht a u f die E rörterung der A uffassungsunterschiede im Detail.

Z unächst aber eine Bemerkung zum zeitlichen Begriff Jahrh u n d ertw en d e’ über­

haupt. W ir verstehen d aru n ter die Zeitspanne, w ährend deren sich das Bewußtsein a u f die neuen V erhältnisse in der Gesellschaft einstellte, un d als ihren In h alt die Lösungsangebote im geistigen H aushalt der Periode, die dan n für das kom m ende Ja h rh u n d e rt durchweg gültig blieben. Rein zeitlich bedeutet dies ungefähr, was der K ultu rh isto rik er Karl P fannkuch u nter „B egriffjahrhundertw ende“ sagt: „Es wäre wenig sinnvoll, hierunter diejahresw ende 1899 a u f 1900 zu verstehen. Ich bitte die 25 Jahre von 1888 bis 1913 als Jahrhundertw ende gelten zu lassen.“84

Innerhalb dieser als „wilhelminisches Zeitalter“ bezeichneten Periode folgen wir V orstellungen wie denen H ans Schwertes. Er sieht einen Gegensatz zwischen kaiser­

lich geförderter Fassadenkunst und M oderne. Die M oderne spalte sich in zwei „lite­

rarische G ru n d k o n z ep tio n en — die a u f W issenschaft, das heißt a u f N aturw issen­

schaft sich berufende Beobachtungs- u nd Beschreibungskunst des m odernen aufklä­

renden Realismus, bald N aturalism us genannt, und die a u f dem Form wagnis der Sprache selbst beruhende W ortk u n st einer eigenständigen Ausdruckswelt, anfangs

Sym bolism us, später vereinfachend Expressionism us, danach auch Surrealism us genannt — [...]“.85 Für die erste G ruppe werden als Beispiele G erhart H a u p tm a n n und A rno H olz, für die zweite Stefan George und Frank W edekind angegeben. Für die letzteren, Repräsentanten eines .artistischen Experiments’, soll der Name Nietzsche als Wegweiser stehen. Außer diesen beiden A usrichtungen gebe es noch zwei aus­

schlaggebende Literaturform en: zunächst die einer „stilkonservativen O pposition“, als H eim atku nst bezeichnet, und dann eine „schöpferische R estau ratio n “ oder — wieder seine W orte — eine „konservative R evolution“, exem plifiziert u.a. durch die N am en von H ugo von H o fm annsthal, O skar Loerke u nd T hom as M ann. H ans Schwerte d enkt n u r in den Form en der Literatur, Bodo H e im an n auch in denen der Gesellschaft: Das Zustandekom m en der „O ppositionsbew egungen“, also dessen, was als „neu “ bezeichnet werden kann, „lag am sprunghaften Anwachsen der In ­ dustrie und der Großstädte. Lebensphilosophie, Jugendbewegung, K ulturkritik ver­

urteilten die Verflachung und Entseelung der bürgerlichen Lebensform , die Ü ber­

betonung des Ö konom ischen und Materiellen, Kapitalism uskritik, wie sie hier geübt wurde, konvergierte zwar in macher H insicht m it der m arxistischen Beschreibung — nicht D eutung — der E ntfrem dung und V erdinglichung, andererseits ko n n te die m arxistische D eutung der sozialen, ö konom ischen U rsachen diese neuen O p p o ­ nenten schon darum n ich t befriedigen, weil sie d arin selbst bereits den A usdruck des flachen, hauptsächlich a u f M aterielle, Ö konom ische gerichteten D enkens er­

blickten. [...] Zivilisations- und G roßstadtfeindschaft, Irratio nalism u s u n d N a tu r­

begeisterung k o n n ten so als die einzige A lternative erscheinen.“86

G em einsam ist all diesen U rteilen und Schilderungen, daß sie die Bewußtseins­

form en u n d Bewegungen im geistigen Leben der 90er Jahre als einen A nfang an- sehen, dessen Folgen tief ins historische 20. Ja h rh u n d e rt h ineinreichen. Bewegung gab es dam als aber nicht n u r in der Literatur, sondern an ihrem inneren u nd äuße­

ren Rand, klare Zeichen der N euorientierung einer spezifischen G ruppe der Gesell­

schaft.

Als solches Zeichen kann auch die vereinsm äßige Seite des N atu ralism us auf­

gefaßt werden: der Friedrichshagener Kreis, die zwei vereinsähnlichen G ründungen Durch u n d Ethischer Klub in der zweiten H älfte der 80er Jahre;87 n u r ging ein Teil des öffentlichen Interesses der N aturalisten nach außen u nd in der Sozialdem ok­

ratie vor sich. Vergleichbare V ereinsgründungen in der ersten H älfte der 90er Jahre richteten sich auch a u f die Gesellschaft, wobei sich jedoch die Felder ihrer Tätigkeit u n d ihrer Ideen streng außerhalb der Sozialdem okratie absteckten. D er Kreis um M oritz von Egidy m it dem M ittelp u n k t Berlin und m it ö rtlich en Filialen ging zunächst von der K ritik an der lutherischen Kirche aus u n d wollte d an n im Geiste des U rchristentum s u n d einer sekularen N ächstenliebe (und übrigens stark an die religiösen A utonom ieim pulse de Lagardes erinnernd) die neue, von W iderprüchen zerklüftete m oderne W irklichkeit durch die Ä nderung des Bewußtseins jedes Ein­

zelnen reform ieren. Der Kreis hatte auch Zeitschriften, u nd M oritz von Egidy trat als unabhängiger K andidat bei Reichstagswahlen auf, ohne Erfolg übrigens, dam it

aber die A bsicht verratend, seine Ideen in das politische Leben einzubringen und ihre V erw irklichung d arin zu versuchen. In ähnlichen B ahnen bewegte sich zur gleichen Zeit die Ethische Gesellschaft Georg von Gizyckis, n u r k o n zen trierte sich hier der Ä nderungsw ille a u f Ziele, die denen der Sozialdem okratie näher standen und deren V erfolgung alles Kirchliche oder sogar Religiöse ausschloß. U m die Jahr­

hundertw ende schwand jedes Streben um eine W irkung nach außen aus den Ziel­

setzungen der entstehenden Gesellschaften un d G em einschaften, ja ihre Tätigkeit richtete sich sogar b eto n t a u f die Lösung der Problem e der Einzelnen im Inneren u n d in einem Raum , der das Gesellschaftliche resolut aussperrte u n d aufheben zu können behauptete. Zu jener Zeit nahm die A nthro p o so p h ie R u d o lf Steiners eine konkrete u n d auch organisatorische G estalt an; zuvor war er der H erausgeber des Magazin f ü r Literatur gewesen, einer in ihren Sym pathien und O rientierungen klar im Geiste des N aturalism us geführten Zeitschrift. O h n e Bezug zum ehem aligen N aturalism us war auch die Neue Gemeinschaft nicht: In itiato ren waren die B rüder H art, besonders der jüngere und dichterisch rührigere, Julius, der sie einen „O rden vom w ahren Leben“ nannte. H ier fanden der literarisch berühm teste der dam aligen sanften A narchisten, Peter H ille, u nd die sich im m er m ehr in einem m ystischen Sym bolism us w ohlfühlende Else Lasker-Schüler eine H eim stätte. „Sie dekretierten einfach die innere E inheit von Ich u n d W elt, die N ichtigkeit aller Gegensätze als bloßer Begriffsgespinste und, daraus anscheinend bündig ableitbar, K raft u n d Ver­

mögen des M enschen, sich selbst zu erlösen.“88 (195) M an hat auch das .dritte Reich’

ausgerufen „als ein Reich des unendlich sich selber setzenden Lebens“. (196) D am it sind wir bei den Lebensreform ern angekom m en, von denen in den Thesen H ans Schwertes über das allgem eine Bild des Geistigen die Rede war. N icht anders steht es m it der Jugendbew egung oder dem Kreis um Stefan George, von dem W alter B enjam in sagt, daß er eine „E rneuerung des m enschlichen Lebens erstrebte, o hne die des öffentlichen zu bedenken“, und daß er „ a u f eine R ückbildung der gesell­

schaftlichen W idersprüche in jene ausweglosen, tragischen Kräm pfe un d S p ann un­

gen hinauskam , die für das Leben kleiner K onventikel bezeichnend sin d “.89 Die beiden letzteren G ru ppenbildun gen gingen über die Zeit der J a h rh u n d e rt­

wende hinaus; u n d sicherlich haben die recht, die sie alle zu den .Verweigerern’, A lternativen und G rü n en in Beziehung setzen, als M enschen, die ihre A blehnung der bedrückenden M om ente der äußeren W elt u n d häufig genug ihre O h n m a c h t ihnen gegenüber m it einem Auszug aus der Gesellschaft artikulieren. Die W elt ist seitdem nicht wesentlich anders geworden, nur die Überzeugung scheint nicht m ehr aufkom en zu können, daß eine Lösung in der E rrichtung einer autonom en, in sich gesetzten inn eren W elt, a u f jeden Fall einer anderen als die äußere u n d wirkliche, m öglich ist. Bodo H e im an n spricht von „einem A ußenseitertum [...] aufgrund der U nanw endbarkeit des bürgerlichen H um anitätsideals in einer verdinglichten U m ­ welt“.90 Nach Hans K aufm ann geht es um eine „Protesthaltung der isolierten einzel­

nen gegen die Gesellschaft, die In th ro n isieru n g des Individualism us (m it ihren entsprechenden p h ilosophischen u n d ästhetischen K onsequenzen)“ als um einen

„Versuch der Selbstbehauptung bürgerlicher Intellektueller, die in der beginnenden im perialistischen Gesellschaft keinen bedeutenden Lebensinhalt finden ko nn ten und sich ganz a u f sich selbst zurückverwiesen sahen“.91 Zu diesem U rteil k om m t er zwar aufgrund der Literatur u n d ganz besonders ihrer „K ün stlerproblem atik “, trotzdem k ön n en wir das G em einte generell a u f das V erhalten einer G ruppe von M enschen beziehen. N u r w ürden wir es nicht vom Im perialism us, sondern — wie schon gesagt — von der Industriegesellschaft ableiten, u ngefähr so, wie es etwas konkreter H ans H interhäuser tut: „Zu denken ist zunächst an den u nerhö rten Pro­

zeß der In dustrialisierung und Technisierung und an die dam it verbundene Land­

flucht, G roßstadtbildung und Proletarisierung bisher friedvoll-handwerklicher oder bäuerlicher Schichten. H ier wurde ein jäher Sprung in die .M o d e rn ität’ sinnlich faßbar, a u f den ein großer Teil des klassisch gebildeten, kulturtragenden Bürgertums völlig unvorbereitet war.“92

O b A ußenseitertum oder Protest: beide sind im Eskapism us subsum iert: in der Flucht vor etwas, was dem Individuu m bedrohlich und überm ächtig schien.

Der Weg der G ebrüder H art vom Durch bis zur Neuen Gemeinschaft im V erlauf der von uns als Zeiterscheinung aufgefaßten .V ereinsbildung’ ist ein typischer: Das am Gesellschaftlichen direkt und tätig orientierte geistige u n d aktivistische Verhal­

tensm uster m it w irklichkeitsverändernder A bsicht ist unzeitgem äß geworden.

An zwei Beispielen kann gezeigt werden, wie sich im einzelnen das neue Zeit­

gemäße durchsetzt. Die betreffenden beiden A utoren haben m iteinander überhaupt nichts gem ein, stam m en in jeder H in sich t aus ganz anderen G egenden der deut­

schen Literaturlandschaft und sind weder nach Anlage noch im literarischen Rang noch im G rad der künstlerischen A utonom ie m iteinan der zu vergleichen: Desto m arkanter läßt sich an ihnen aufzeigen, was neben dem einm alig Individuellen die andere G ru ndbeding ung und zugleich der inhalt- und form bestim m ende Faktor eines jeden Werkes ist: das Objektive, das wir hier gerne als den Zeitgeist bezeichnen wollen.

W ilhelm von Polenz war in einem tieferen Sinne als A rno H olz u n d Johannes S chlaf der vielleicht .konsequenteste’ N aturalist. O bw ohl er als einziger u n ter de­

nen, die sich selbst als N aturalisten sahen und von der literarischen U m welt dafür gehalten w urden, m ateriell unabhängig war und nicht aus m ittelständisch-intel- lektuellem M ilieu kam — er war von Adel und G rundbesitzer —, oder gerade des­

halb, blieb er in seinen Interessen, A uffassungen und künstlerischen U n tern eh ­ m ungen tiefer und zeitlich länger dem N aturalism us treu als alle anderen seiner M itkäm pfer. Schon sein vielfach als der beste naturalistische R om an anerkannte Büttnerbauer fällt m it seinem E rscheinungsjahr 1895 aus der Zeit. Aber noch seine Thekla Lüdekind, erschienen 1897, führt die naturalistische T rad itio n ungebrochen u nd unerschüttert weiter: Der R om an ist das vierte Stück einer Serie, die .brennende Z eitfragen’ zum Them a hat, geht dieses Them a — in diesem Falle die S ituatio n der Frau — u n ter dem Aspekt des neuen Geistes an (F rauenem anzipation), w ahrt das G leichgewicht des Persönlichen und des gesellschaftlich Ö ffentlichen sowohl in

K om p o sitio n als auch Problem stellung, arbeitet m it vielen ,aus dem w irklichen Leben genom m enen Figuren’, achtet a u f D etailtreue in B eschreibung u n d Perso­

nenrede, verrät sogar durch essayistische K om m entare sein Engagement, verleugnet nich t die W irkung zweier Lehrmeister des deutschen N aturalism us, Zola u n d Tol­

stoi, und bekennt sich sogar auch noch zu einem dritten, näm lich Ibsen.

D ann will er etwas Neuartiges schreiben, aber schon bei der A rbeit am neuen R om an befallen ih n U nsicherheit und Zweifel an der R ichtigkeit seines U n ter­

fangens. Er spricht vom „M ißverhältnis zwischen Ideal und W irklichkeit, dem Ge­

fühl der U nzulänglichkeit unserer M ittel das darzustellen, was wir em p fin d en “. Er scheint n ich t m ehr zu wissen, was er eigentlich will: „Es ist n ich t geworden, was ich gedacht habe, der S toff hat m ir nicht gehalten, was er versprach; vielleicht liegt es auch an m ir, daß ich m einer Anfangsidee n ich t treu geblieben b in .“93

D er R om an Liebe ist ewig, erschienen 1901, ist ein K ünstlerrom an. Seine Prota­

g onistin ist eine K unststudentin, die sich schon durch ihre Interessen dem Geist des Elternhauses u n d ihres Vaters, eines philiströsen u nd protzigen K aufm anns, entfrem det u n d sich durch die Liebe u nd in der Liebe zu einem Jungen, aus dem (bayerischen) Bauernvolk stam m enden K ünstler ein neues Kunst- u nd Lebensideal erkäm pft. Das junge, um sein wahres Selbst ringende U rtalent ihres Partners ist der eigentliche ideelle H eld des Romans, der Träger seiner ursprünglichen Idee. Er, der urwüchsige K ünstler aus dem Volke, „ein Stück N a tu r“, ist die V erkörperung des als Ideal verkündeten triebhaft-unbedingten Schaffens aus dem unverfälschten In­

neren heraus. Die K unst wird n ich t m ehr vom gesellschaftlichen A uftrag her be­

trachtet wie seit M itte der 80er Jahre im m er und konsequent, sondern als ein trieb­

hafter A usbruch des Inn eren beschrieben.

Die Kunst- u n d K ünstlerproblem atik selbst, nach der des unter dem arm en Volk lebenden Pfarrers und der Krise des religiösen G laubens, des zugrunde gehenden Bauern, des um ein neues Selbstverständnis käm pfenden Gutsbesitzers u nd der um ihre A utonom ie und Integrität ringenden Frau — so die Problem atik der vier Serien­

rom ane v on Polenz in Kurzfassung — ist etwas Neues. N och m ehr ist es die Auffas­

sung über die Eigenart und F unktion der K unst an sich u nd als M ittel der Verwirk­

lichung der Persönlichkeit aus sich selbst u n d der Volksseele heraus. Das k om m t o hne Zweifel von Langbehn, wenn dessen Einsatz für den W ert der deutschen Seele hier auch keine S puren hinterließ.

Dabei hat W ilhelm von Polenz höchstw ahrscheinlich Langbehn n ich t gelesen, dafür aber dem Kunstwart nahegestanden u n d m it genau so großer W ahrschein­

lichkeit dessen H erausgeber Ferdinand Avenarius gut gekannt, der m it anerken­

nensw erter G rün d lich k eit u n d B eharrlichkeit daran ging, eine an traditio nellen W erten o rientierte, volkstüm liche und gehobene literarische B ildung im Zeichen der G estaltung der Persönlichkeit heranzuziehen. W ir haben jeden Anlaß, in einer wichtigen Figur des nächsten Polenzschen Romans Wurzellocker (1902), in dem auch noch andere nach lebenden M enschen m odellierte Figuren auftreten, ihn, den D ich­

ter und R edakteur zu sehen.

Er v ertritt im Rom angeschehen, das eher eine A useinandersetzung m it aktuel­

len m enschlichen und künstlerischen Verhaltensweisen als eine traditionelle R om an­

h andlung ist, eine der zeitgemäßen M öglichkeiten. Wurzellocker ist näm lich ein ,Li­

teraturro m an’, wie man es damals sagte; der A utor versucht darin, sich Klarheit über jüngst vergangene u n d gegenwärtige T endenzen in der Lebens- u n d K unstauffas­

sung zu schaffen. Als solche werden die naturalistische, die vornaturalistisch-kon- servative, die .dekadente’, nach unserem Verständnis jugendstilhafte, u n d eine vierte beschrieben, die wir ungenau H eim atkunst, etwas u n ko nv entio nell, aber genauer, die ,kunstw artsche’ nennen w ürden. Der ersten rechnet der A uto r große Verdienste an, die zweite m acht er lächerlich, die dritte lehn t er resolut ab u n d von der vierten sagt er in der Form der M einung seines zentralen H elden B erting über das Buch der R om anfigur Lehm fink, in der wir Ferdinand Avenarius sehen m öchten (es geht wohl eigentlich um den Kunstwart)-. „In vielem würde Berting m it dem Buche eben­

sowenig wie m it dem Verfasser sich jemals einigen kö n n en [...]. Ü ber den W ert ästhetischer K ultur, über den S inn der Dekadenz, die Judenfrage, über N ietzsche und anderes würden sie ewig getrennter M einung bleiben. [Der frühere u nd zur Zeit der E n tstehu ng dieser W orte im m er noch nostalgische N a tu ralist Berting-Polenz bekennt sich zum Prim at des Seins, für ihn ist Dekadenz keine m oralische, sondern eine gesellschaftliche Erscheinung, Lehm fink h ält N ietzsche für einen „T änzer“, und der Leiter der literarischen A bteilung vom Kunstwart war dam als A d o lf Bar­

tels.] A ber“ — fährt er m it seinen G edanken fort — „solche D ifferenzpunkte [ko nn ­ ten nicht] verhindern, daß Berting die W eltanschauung H einrich Lehm finks als ein Ganzes auffaßte und w ürdigte u n d daß er dem hohen Ethos, welches das W erk er­

füllte, Respekt zollte!“94 (452) Lehm fink-Avenarius sagte früh er selbst: „W enn wir u nter den K ünstlern wieder Persönlichkeiten haben werden, d an n werden wir auch eine K unst bekom m en. [...]. A uch der K ünstler m u ß sich ein o rd n e n in das große Ganze, die G em einsam keit. D araus mag er d an n wieder h ervo rblü hen in seiner Eigenart.“ (411) U n d wieder über das Buch Lehm finks: seine „.Q uintessenz’ war:

durch Selbstzucht zur Persönlichkeit“. (451) Das ist dann auch die Q uintessenz des Entwicklungsromans (was er auch ist) Wurzellocker. „Im m er wichtiger w urde ihm der lebendige Sinn alles Geschriebenen, näm lich die Persönlichkeit, die Seele, die Schöp­

ferkraft des A utors [...]. Im m er m ißtrauischer dagegen wurde er gegen das, was ihm früher als das bei weitem W ichtigste erschienen war, das aktuell Literarische.“ (488) Das ist Langbehn ohne sein Engagement fürs N ationale. W ie h at er doch gesagt

„[...]. das Persönliche [...] ist in allem Welt- und Geistesleben die höchste Kraft [...]“.95 Für das „aktuell Literarische“ hätte er ,M ode’ eingesetzt. (U nd ein Paradox des Be­

w ußtseins ist es, daß W ilhelm von Polenz gerade m it den beiden R om anen einen S chritt zum aktuell Literarischen hin versucht hat.) Gerade im Jahre des Erschei­

nens des letzteren R om ans W ilhelm von Polenz’ schrieb der führende G erm anist Erich Schm idt: „Ich würde jetzt [1902, im Rückblick a u f die 80er Jahre] m indestens den M ilieu-Fragen Taines, Scherers u. A. gegenüber die Kraft der .Persönlichkeit’

stärker betonen [...].“96

W ilhelm von Polenz hielt sich am beharrlichsten von allen an den Geist des N aturalism us. Das mag auch dam it Zusam m enhängen, daß ihn auch seine kü nst­

lerische V eranlagung an die Form en des N aturalism us band. Aus Nostalgie, wär­

m ender E rinn erung an seine Jugend u n d schriftstellerischen A nfänge versuchte er noch den Ethischen Klub wiederzubeleben, als die Zeit die Neue Gemeinschaft seiner ehemaligen Bundesgenossen au f das Program m setzte. O hne jeden Erfolg natürlich.

Es kam auch für ih n die Zeit der N euorientierung: Liebe ist ewig ist eine Folge des E inbruchs des schützenden Dachs der alten Form, die zugleich Inh alt war, u n d ein Zeichen der Verunsicherung. Wurzellocker ist Bilanz un d Suche. Was er noch schrieb, das R om an fragm ent Glückliche Menschen — er starb 1903 — deutet an, daß er in einer In nerlichkeit des zu sich selbst gekom m enen M enschen in der N ähe von Peter Camenzind u n d in der N achfolge seines Altm eisters Turgenjew eine neue k ü n st­

Es kam auch für ih n die Zeit der N euorientierung: Liebe ist ewig ist eine Folge des E inbruchs des schützenden Dachs der alten Form, die zugleich Inh alt war, u n d ein Zeichen der Verunsicherung. Wurzellocker ist Bilanz un d Suche. Was er noch schrieb, das R om an fragm ent Glückliche Menschen — er starb 1903 — deutet an, daß er in einer In nerlichkeit des zu sich selbst gekom m enen M enschen in der N ähe von Peter Camenzind u n d in der N achfolge seines Altm eisters Turgenjew eine neue k ü n st­

In document Der Weltanschauungsroman (Pldal 63-76)