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Offenbar, offensichtlich, offenkundig

5. Ausdrucksmittel der epistemischen Modalität im Deutschenim Deutschen

5.3. Epistemische Modalwörter und Adjektive

5.3.1. Theoretischer Hintergrund

5.3.2.7. Offenbar, offensichtlich, offenkundig

Wie im vorigen Abschnitt sollen auch hier zwei Punkte angesprochen werden:

Erstens ob die Korpusbelege der von Helbig/Helbig (1993: 176, 178 und 179) vor‑

genommenen Unterscheidung zwischen offenkundig als faktivem Gewissheitsindi‑

kator und den beiden anderen Modalwörtern als nicht faktiven Hypothesenindi‑

katoren Rechnung tragen,210 zweitens inwiefern der Behauptung oder Annahme tatsächlich direkte visuelle Evidenzen zugrunde liegen.

Das Modalwort offenbar kommt mit insgesamt 44 Belegen genau zweimal so oft wie offensichtlich vor, während es mit offenkundig nur 8 Belege gibt. Von diesen erlauben allerdings, wie Tabelle 15 zu entnehmen ist, lediglich jeweils (etwa) ein Viertel, nämlich 11 Belege mit offenbar (202), 5 mit offensichtlich (203) und 2 mit offenkundig (204) eine epistemische Interpretation:

(202) Die Techniker des «Deutschen Theaters» sind sich der hi storischen Bedeutung ihrer Bühne sehr bewußt. Ihr Verhalten mir gegenüber erinnert mich an die literarisch mancherorts festgehaltene Dünkel‑

haftigkeit der Dienstbotenschaft von Herrenhäusern, welche dieje‑

nige ihrer Herr schaft meist haushoch übertraf. «Wir sind hier die Max Reinhardt‑Bühne», scheinen sie zu denken, «was ist das für ein 210 Eine gewisse Abschwächung dieser zunächst relativ strikt formulierten Unterscheidung liefern die

Autoren in der ersten Anmerkung zu offenkundig: „offenkundig wird manchmal […] in abgeschwächter Bedeutung (im Sinne von mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) gebraucht. Es fungiert dann nahezu als Hypothesenindikator und ist dem Gebrauch von offensichtlich, […] offenbar vergleichbar.“

(Helbig/Helbig 1993: 178f., Anm. 1). Die Möglichkeit der Hervorhebung mit der Partikel ganz geben sie nur in den Beispielen mit offenkundig an, jedoch erwähnen sie sie in einer Anmerkung auch bei den anderen zwei: „Ein vorangestelltes ganz als Partikel‑Zusatz verstärkt den Sicherheitsgrad der Geltung von p bis zur Gewißheit hin“ (Helbig/Helbig 1993: 177, Anm. 4). Daraus wollen sie allerdings nicht – wie bei bestimmt und gewiss – bezüglich aller drei Modalwörter den Schluss ziehen, dass es sie jeweils sozusagen doppelt gibt, einmal als Gewissheits‑, einmal als Hypothesenindikator. Damit wäre auch nicht viel gewonnen, denn, wie zu zeigen sein wird, alle drei Modalwörter weisen je nach Kontext gewisse Schwankungen auf.

Würstchen, das wir heut beleuchten müssen, wahr scheinlich darf der hier nur auftreten, weil er das Haus voll macht mit seinem sim‑

plen Tand, offenbar will die Thea terleitung mal wieder <neue Publi‑

kumsschichten erschlie ßen>.» (Goldt 68‑69)

(203) Die deutschsprachigen Eidgenossen, die knapp zwei Drittel der Be‑

völkerung ausmachen, waren mehrheitlich gegen einen Beitritt. Sie befürchteten offensichtlich eine Dominanz aus Deutschland. (EU 131)

(204) Sollte auch Merkel in diese Richtung tendieren, dürften sich die Chancen für die Inhalte des Verfassungsvertrages erhöhen. Denn of‑

fenkundig stieß er auch deshalb auf große Skepsis in der Öffentlich‑

keit, weil Brüssel der Anspruch unterstellt wurde, mit dieser Verein‑

barung die Souveränität der Nationalstaaten zu untergraben. (Welt 7. März 2007 Klimaschutz)

Festzuhalten ist, dass alle drei Modalwörter in Kontexten auftreten, in denen es sich um epistemisch nicht qualifizierte Behauptungen, oft mit Bezug auf beobacht‑

bare Evidenzen oder um stark inferentielle epistemische Faktizitätsbewertungen handelt. Die Korpusbelege liefern also Hinweise dafür, dass die Gegenüberstellung von offenkundig als Gewissheitsindikator bzw. offenbar und offensichtlich als Hy‑

pothesenindikatoren bei Helbig/Helbig (1993: 176) in dieser Form nicht aufrecht zu erhalten ist.

Andererseits lassen sich die drei Modalwörter, ob in faktiven oder nicht fak‑

tiven Belegen, kaum als Marker von visueller Evidentialität charakterisieren. Un‑

ter den epistemischen Belegen liegt nämlich nur bei einem mit offensichtlich (205) und drei Belegen mit offenbar (206) visuelle Evidenz vor, und auch unter den nicht epistemischen ist der Rückgriff auf direkte visuelle Evidenzen auffallend selten:211

(205) Ich finde es vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklung gera‑

dezu skandalös, dass die Bundesgesundheits‑ und Sozialministerin heute offensichtlich kneifen will. Ich habe jedenfalls der vorliegenden Rednerliste entnommen, dass der von mir sehr geschätzte Staatssekre-tär Thönnes in der Debatte für die Bundesregierung reden soll. Das beweist mir einmal mehr, dass die Rente das ungeliebte Findelkind der Gesundheits‑ und Sozialministerin ist. (BT 17. Januar 2003)

211 Es liegen 2 solche Belege mit offenkundig (z.B.: Einige wichtige Mitglieder des Hauses sehe ich schon heftig mit dem Kopf nicken. Dies allein reicht aber nicht aus. Ich darf nachfragen, ob Sie damit einverstanden sind. – Das ist ganz offenkundig der Fall. Dann haben wir das beschlossen. (BT 17. Januar 2003)), 3 mit offensichtlich (z.B.: Sie blickte nicht einmal auf, merkte nichts davon, daß er sie beobachtete. Offensichtlich war sie ganz in Gedanken versunken. (Prosa 38)) und 5 mit offenbar (z.B.: Der Ausbau der Transrapid-Strecke in Schanghai ist offenbar beschlossene Sache: Bewohner werden bereits umgesiedelt. (SZ 7. März 2007 Transrapid‑Strecke)) vor.

(206) Er stand weit in sei ner Hälfte, und es war ein blindwütiger Schuß mit dem Spann – hoch in die Luft, als wollte er den Un glücksball für im-mer aus dem Stadion katapultieren. Offenbar hatte er alles in diesen aberwitzigen Kraftakt gelegt, denn er humpelte plötzlich, fletschte die Zähne und ließ sich auf den Rasen fallen. Ein Mitspieler mas sierte ihm das Bein. (Prosa 173)

Jedoch ist die evidentielle Bedeutungskomponente bei diesen Modalwörtern in der Hinsicht stark ausgeprägt, dass die Evidenzen, auch wenn meistens nicht visueller Art, in etwa der Hälfte aller Belege und in zwei Drittel der epistemischen Belege im Kontext explizit genannt werden.

5.3.2.8. Wahrscheinlich

Aus Tabelle 15 geht hervor, dass wahrscheinlich in der adverbialen Verwendung fast viermal so häufig belegt ist als in der prädikativen adjektivischen. Von den 30 adverbialen Belegen in Aussage‑ und Nebensätzen treten 6 in negierten Sätzen auf:

(207) Ein vorläufiger Jahresabschluss der Rentenversicherungsträger wird wahrscheinlich nicht vor Mitte Februar vorliegen. (BT 17. Januar 2003)

Eine Hervorhebung der epistemischen Bewertung erfolgt in 8 Belegen durch die Stellung des Modalwortes im Vorfeld:

(208) Onkel Hans lebte während einiger Wochen […] bei uns. Er war ein Freund meines Vaters, kein richtiger Onkel. Wahrscheinlich hatten sie sich bei der Fliegerei kennengelernt: Beide hatten sich 1914 neun-zehnjährig freiwillig zum Kriegsdienst ge meldet, und beide gehörten bald zu den ersten öster reichischen Piloten. (Prosa 106)

In insgesamt drei Belegen wird es durch die Partikel sehr modifiziert, jedoch han‑

delt es sich in zwei dieser Belege um ein Zitat aus dem Bericht des Weltklimarates:

(209) Jeder sechste Bewohner der Erde lebt in einer Region, wo Gletscher und Schnee wichtige Wasserspeicher bilden – die aber dem IPCC‑

Bericht zufolge „sehr wahrscheinlich“ zunehmend schwinden. (SZ 2. März 2007 UN‑Klimarat)

Evidenzen werden ganz selten, nur in vier Belegen genannt (208). Als Quelle der epistemischen Bewertung fungiert im unmarkierten Fall der Sprecher, ein Verweis auf andere Quellen liegt in sechs Belegen vor (209).

Von den 8 adjektivischen Belegen steht die Kopula einmal im Präteritum, ein‑

mal in Konjunktiv I, diese geben also eine deskriptive epistemische Faktizitätsein‑

schätzung wieder:

(210) Sie bemerkte mich nicht, und ich überlegte, ob wir irgendwelche Leute eingeladen hatten für den Abend, konnte mich aber nicht er‑

innern. Es war eher unwahrscheinlich. Rita wußte, daß ich mir das Pokalspiel ansehen wollte. (Prosa 159)

Außer (210) wird das Adjektiv in weiteren drei Belegen, zweimal mit dem Präfix un‑, negiert. In zwei dieser Belege steht ferner, wie auch in (210), noch ein gradu‑

ierender Ausdruck.

Von den acht prädikativen Belegen liegt außer dem elliptischen Matrixsatz in (210) in vier Belegen eine Matrixsatzstruktur mit Subjektsatz vor, wodurch die epi‑

stemische Qualifikation noch stärker fokussiert wird:

(211) Je selbstbestimmter eine Person ist, das heißt, je mehr sie sich ihre eigenen Ziele setzen und ihre eigenen Ent scheidungen treffen kann –, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie sich ihrer Arbeit verpflich‑

tet fühlt. (Soz 142)

In den übrigen drei Belegen liegt eine „flache“ Struktur vor. Allerdings kommt es auch in diesen Fällen zu der Hervorhebung der epistemischen Bewertung, indem das Adjektiv einmal im Komparativ, einmal negiert und einmal einer schwächeren Einschätzung gegenüber gestellt wird:

(212) Im weiteren Verlauf dieser Legislaturperiode werden wir […] die Wehrform grundsätzlich auf den Prüfstand stellen. Dann wird die von den Grünen lange geforderte Abschaffung der Wehrpflicht nicht nur möglich, sondern angesichts der sicherheitspolitischen Entwick‑

lung unserer Auffassung nach auch wahrscheinlich. Deshalb müs‑

sen wir uns endlich der Frage stellen, wie die Absenkung beim Zivil‑

dienst und der wahrscheinliche Ausstieg aus dem Zivildienst sozial‑

verträglich gestaltet werden können. (BT 17. Januar 2003)

D.h., in jedem Beleg mit dem prädikativ verwendeten epistemischen Adjektiv wird die epistemische Qualifikation hervorgehoben.212

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass bei der adverbialen Verwendung eine ausgeprägte Tendenz zum Bezug des Modalwortes auf eine vordergrundierte Kon‑

stituente besteht, wobei die durch wahrscheinlich ausgedrückte epistemische Ein‑

schätzung selbst in etwa einem Drittel der Belege, durch Vorfeldstellung bzw. die

212 Es liegen d.W. zwei Belege mit der lexikalisierten PP mit an Sicherheit grenzender (Un)Wahrscheinlichkeit vor, die die epistemische Bewertung notwendigerweise fokussiert. In dem einen, deskriptiven Beleg erscheint diese Formulierung als Zitat: Rund 30.000 Messreihen aus den letzten 20 Jahren haben die Wissenschaftler analysiert – und ähnlich wie bereits in den bereits veröffentlichten Klimaberichten sagen sie, dass die beobachteten Temperaturveränderungen wahrscheinlich von Menschen verursacht wurden. Die Wortwahl ist von Bedeutung. In der Zusammenfassung formulieren die Experten hier „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“. Ob es dabei bleibt, ist fraglich. (SZ 2. März 2007 UN‑

Bericht).

Verbindung mit der Partikel sehr einigermaßen fokussiert wird. Im Gegensatz dazu geht die prädikative Verwendung des Adjektivs in jedem Fall mit einer Her‑

vorhebung der Faktizitätsbewertung einher.

5.3.2.9. Voraussichtlich

Das fünfmal belegte Modalwort wird in Helbig/Helbig (1993) weder unter den Modalwörtern aufgelistet noch lemmatisiert. Wegen ihrer Semantik kann es nur in zukunftsbezogenen Sätzen auftreten. Sie fungiert nicht als visueller Evidentia‑

litätsmarker, sondern als inferentielles, epistemisches Modalwort: Es handelt sich jeweils um Voraussagen, Prognosen, um die Einschätzung des möglichen Verlaufs der Ereignisse aufgrund der gegenwärtigen Lage, wobei die Evidenzen bzw. die Quelle in den meisten Fällen genannt werden:

(213) Die Meinung von der im Grunde unveränderbaren un‑europäischen Türkei wurzelt tief in einer fast nie offen ausge sprochenen, aber gleichwohl massiven Kulturangst. Sie beruht darauf, dass nach ei‑

nem EU‑Beitritt der Türkei im Jahre 2025 in der EU voraussichtlich (gemäß Bevölkerungsschätzungen der UNO) 90 Millionen muslimi‑

sche Türken leben würden. (EU 140)

Das Modalwort ist niemals im Vorfeld belegt. Es kommt typischerweise in öffent‑

lichen Textsorten vor, nur einer der Belege stammt aus dem Tagebuchkorpus:213 (214) Da ich aber nicht reisen kann, ohne eingeladen und unterstützt zu

sein, werde ich voraussichtlich Berlin nicht wie dersehen. (Kunze 60)

5.3.2.10. Vermutlich

Das epistemische Modalwort vermutlich ist inhärent inferentiell, es bringt immer eine auf Inferenzen basierende Faktizitätseinschätzung zum Ausdruck. Es ist nur in Aussage‑ und Nebensätzen belegt, im Korpus liegen keine Belege in einem ne‑

gierten Satz vor. Von den 25 Belegen hat das Modalwort dreimal ein attributives Adjektiv in seinem Skopus:

(215) Doch Frau Merkels Ehrgeiz fand so so viel Beifall, dass Chirac, der wohl als (vermutlich) scheidender Präsident seinen Abgang nicht 213 Dasselbe gilt für die zwei Belege mit der lexikalisierten PP aller Voraussicht nach, durch die die

Faktizitätsbewertung stärker hervorgehoben wird (z.B.: Frau Schmidt und Frau Lotz, ich sage Ihnen voraus, dass der Rentenbeitrag, wenn Sie so weitermachen und Ihre Augen vor der Realität verschließen, im Jahre 2006 nicht auf 19,1 Prozent sinken wird, sondern dass er aller Voraussicht nach bereits im kommenden Jahr, im Jahr 2004, über die 20-Prozent-Marke steigen wird, weil Ihre Annahmen betreffend die Entwicklung der Einnahmen in der gesetzlichen Rentenversicherung einfach fernab von jeder Realität sind. (BT 17. Januar 2003)): Auch sie verbindet sich nur mit zukunftsbezogenen Sätzen, kommt niemals im Vorfeld und nur in den öffentlichen Textsorten vor.

mit einem europapolitischen Eklat besiegeln wollte, den Weg zum Gipfel‑Erfolg freimachte. Offenbar gibt es aber auch neben der Tür, die zum „ehrgeizigsten Klimaschutzprogramm der Welt“ aufgesto‑

ßen wurde, wie Kommissionspräsident Barroso jubelte, noch einen Seitenausgang für Franzosen. (FAZ 9. März 2007 Europas)

In sechs Belegen steht das Modalwort im Vorfeld (216) und hat auch in den zwei Fällen Vordergrundkonstituenten in seinem Skopus, in denen es in einer Paren‑

these mit der Konstituente auftritt (217) bzw. mit der Bezugskonstituente ausge‑

klammert wird (218):

(216) Weiß der Teufel, was den Chef bewog, ihn wieder einzustellen; ver‑

mutlich erinnerte ihn die Kaltschnäuzigkeit des Jungen, seine kri‑

minelle Energie, an die eigenen An fänge. (Prosa 165)

(217) Da ich aber weiß, daß Eckard Henscheid ein Mann von un‑

verwechselbarem Stil ist, vermutlich gar in engem Sinne ein Genie, vor dessen Bildung man in den Staub sinken muß, fühle ich mich sehr geehrt, daß er Wert auf meine Anwesenheit legt. (Goldt 40) (218) Organisator Horst Teltschik kündigte an, dass der Staatschef [Putin]

über die weltpolitischen Interessen seines Landes sprechen werde – und vermutlich auch über die Energiepolitik. (SZ 15. Januar 2007 Teltschiks Gästeliste)

Als Quelle der Einschätzung fungiert immer der Sprecher, es gibt keine Belege, in denen auf andere Quellen hingewiesen wäre. Evidenzen werden selten, in nur zwei Belegen genannt:

(219) Ein zweites interessantes Ergebnis von Granovetters Untersuchun‑

gen betrifft die Art der bei der Jobsuche benutzten Beziehungen.

Üblicherweise stellt man sich vor, dass ein möglichst starkes und enges Netzwerk die beste Unterstützung bietet. Denn Personen, mit denen man eng verbunden ist, haben vermutlich eine starke Moti‑

vation, wirklich zu helfen. Granovetters Untersu chungen aber hat‑

ten das genaue Gegenteil zum Ergebnis. So gut wie immer sind die nützlichsten Leute bei der Jobsuche nicht diejenigen, mit denen wir besonders eng verbunden sind. (Soz 108‑109)

Der Grund für die auffallend seltene Explizierung der Evidenzen liegt wohl dar‑

in, dass mit vermutlich solche Faktizitätseinschätzungen ausgedrückt werden, die keiner besonderen Evidenzen außer dem allgemeinen, vom Sprecher und Hörer vermutlich geteilten Weltwissen bedürfen.

Einmal liegt die Kombination von vermutlich mit wohl im selben Hauptsatz vor, vgl. (220), in dem, wie auch in weiteren 6 Belegen, andere epistemische Aus‑

drücke im Kontext auftreten:

(220) Dafür wäre allerdings eine Analyse von einem mehrfachen Umfang dieses Buches erforderlich. Sie bliebe vermutlich auch, wie zahl‑

reiche einschlägige Publikationen zeigen, wohl eher an der Oberflä‑

che, und möglicherweise ginge auch die Übersicht über unsere ei‑

gentliche Fragestellung verloren. Daher wird im Folgenden von den für die europäische Einigung maßgeblichen Politiken, Struk turen und Verfahren der EU ausgegangen. (EU 18)

5.3.2.11. Wohl

In Tabelle 15 wurde nur die Anzahl derjenigen Belege mit wohl angeführt, in de‑

nen es als Modalwort fungiert.214 Diese Funktion ist auf Aussagesätze mit unbe‑

tontem wohl beschränkt, das in der Fachliteratur allerdings nicht nur als Modal‑

wort (z.B. bei Lehmann/Spranger 1966: 245, Hoberg 1973: 88 und 99, Kątny 1979:

35f., Péteri 2002: 121f.), sondern auch als Abtönungspartikel (z.B. bei Molnár 2002:

35ff., 56ff.) klassifiziert wird. Nach Doherty (1985: 81) und Thurmair (1989: 139ff.) stellt es aber einen Grenzfall zwischen Abtönungspartikeln und Satzadverbien dar,215 während es Zifonun et al. (1997: 1131) als Abtönungspartikel behandeln, die

214 Es kann außer dieser – und der modaladverbialen – Funktion in zwei weiteren Verwendungen vorkommen: als Modalpartikel/Abtönungspartikel und als „Affirmationsadverb“ (Thurmair 1989: 110, 139). In der Fachliteratur besteht Einigkeit darüber, dass es in Fragesätzen als Abtönungspartikel zu betrachten ist (vgl. Thurmair 1989: 139ff., Molnár 2002: 35ff., 56ff., Péteri 2002: 121f. und Helbig/Helbig 1993: 283 mit dem Hinweis, dass das Modalwort wohl auf Aussagesätze beschränkt ist). In diesen Fällen bezieht sich die Unsicherheit des Sprechers nicht auf den propositionalen Inhalt, sondern darauf, „ob er auf die Frage eine befriedigende Antwort erhalten kann“ (Péteri 2002: 121). Ähnlicherweise wird nach Thurmair „durch die Partikel wohl die Fragehandlung hinsichtlich der Fähigkeit des Gesprächspartners zu antworten eingeschränkt“ (Thurmair 1989: 144). Als Abtönungspartikel bezieht sich also wohl nicht auf den propositionalen sondern auf den illokutionären (Thurmair) bzw. kollokutionären (Péteri) Bereich. Diese Verwendung liegt im nur im Prosa‑ und Tagebuchkorpus, insgesamt 9mal vor: Als ich den neuen Job annahm, warnte mein Vor gänger vor dem Reisen: Gerade du, sagte er, als Frau. Ich lachte ihn aus. Es war leicht, ihm nicht zu glauben, er hatte Familie. Was war wohl zuerst da, das Reisen oder die Einsamkeit? (Prosa 199).

Die Verwendung in Aussagesätzen, in der Thurmair wohl ein „Affirmationsadverb“ nennt, zeichnet sich dadurch aus, dass es immer betont ist, meistens im Mittelfeld, selten im Vorfeld steht, und dazu dient, einer der vorangehenden Äußerung widersprechenden Behauptung Nachdruck zu verleihen. Dies stellt mit insgesamt 26 Belegen (die meisten aus den Tagebüchern und den Bundestagsprotokollen) eine relativ häufige Verwendung im Korpus dar. Außer der formelhaften Ausdrücke wohl wahr (4mal) und Das kann man wohl sagen (2mal) steht wohl 2mal im Vorfeld, und wird in 8 Belegen (d.h. in fast einem Drittel der einschlägigen Belege) mit der Partikel sehr fokussiert: Trotz aller öffentlichen Meinungsmache: Unser solidarisches System ist sehr wohl auch für die Zukunft tragfähig. Die gesetzliche Rentenversicherung ist in der Vergangenheit immer wieder an veränderte gesellschaftliche Entwicklungen angepasst worden, und zwar auch im Hinblick auf die demographischen Veränderungen. (BT 17. Januar 2003).

215 Nach Thurmair (1989: 139f.) kann sich das unbetonte wohl in Aussagesätzen nicht auf den illokutiven sondern auf den propositionalen Bereich beziehen, was gegen eine Einordnung als Abtönungspartikel und für die Einordnung als Satzadverb spricht. Allerdings hält sie gegen die Klassifizierung als Satzadverb einerseits fest, dass es sich syntaktisch von den meisten Satzadverbien unterscheidet, indem es nicht im Vorfeld und nicht als Antwort auf eine Entscheidungsfrage stehen kann. Andererseits weist sie darauf hin, dass es in manchen Fällen auch in Aussagesätzen nicht mehr durch vermutlich paraphrasiert werden kann, und zwar genau dann, wenn es sich „nicht (nur)“ auf die propositionale, „sondern (auch)“

auf die illokutive Ebene bezieht (Thurmair 1989: 140). Sie rechnet also in Aussagesätzen mit unbetontem

allerdings der Gruppe der modal abschwächenden Satzadverbialia semantisch sehr nahe steht.

Der Überblick der Belege mit unbetontem wohl ergibt, dass es sich zumindest im vorliegenden Korpus durchgehend mit einem epistemischen Modalwort erset‑

zen ließe. Dieses Ergebnis untermauert die Annahme von Péteri (2002: 123), der bei unbetontem wohl in Aussagesätzen von einer Modalwortfunktion ausgeht und es folglich aus seiner Partikeluntersuchung ausklammert.

Von den 67 einschlägigen Belegen treten 16 in einem negierten Kontext auf:

(221) Das Europa der Bürger kann nur, will es real und lebensfähig sein, ein Europa der Gesellschaften sein. Es wird vollständig als solches wohl nie zustande kommen können. Aber schon gewisse Annähe‑

rungen wären ein großer Fortschritt für eine wirkliche Einigung Eu‑

ropas. (EU 114)

Das Modalwort bezieht sich lediglich in zwei Belegen auf ein attributives Adjektiv (222), und hat in einem weiteren Beleg, bedingt durch seine Stellung zusammen mit der Bezugskonstituente im Nachfeld, nicht propositionalen Skopus (223):

(222) Ich revanchierte mich ko stenlos mit einer kostbaren roten Pille, die ihre Zähne extrem knallrot einfärbte. Als Versöhnungsgeschenk brachte sie ein Päckchen »Luvos Heilerde« an, gegen meine wohl be‑

ruflich bedingten Magenstiche, gab mir einen Löffel voll, ich spuck‑

te das Pulver hustend von mir, als erdbraune Riesen‑Qualmwolke.

(Prosa 93‑94)

(223) Der Fonds wird direkt dem Staatsrat unterstehen. Jin nannte keine genauen Zahlen zur Menge der betroffenen Reserven, wohl auch aus Furcht, den Dollarkurs zu drücken. Denn rund zwei Drittel der chi-nesischen Devisenreserven sind in amerikanischen Staatsanleihen an-gelegt. (SZ 10. März 2007 China)

In 14 Belegen, d.h. bedeutend häufiger als bei vermutlich, werden die Evidenzen genannt, vgl. (225) unten, und in weiteren 7 Belegen werden gerade die möglichen Gründe für einen Sachverhalt thematisiert:

(224) Wenn es Kritik gab, wie bei der Studentendemonstration von 1989, dann entzündete sie sich an sozialen Problemen oder an der Korrup‑

tion von Kadern, nicht aber an der mangelnden Kohärenz der Lehre.

Gewiss hat dies mit der umfassenden ideologischen Ernüchterung durch die Kulturrevolution zu tun, nach der man von Großtheori‑

wohl mit einem Übergangsbereich zwischen der Satzadverb‑ und der Abtönungspartikelfunktion, weshalb sie alle unbetonten Verwendungen im Aussagesatz bei der Behandlung der Abtönungspartikel

wohl mit einem Übergangsbereich zwischen der Satzadverb‑ und der Abtönungspartikelfunktion, weshalb sie alle unbetonten Verwendungen im Aussagesatz bei der Behandlung der Abtönungspartikel