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Die Wahrnehmungen von Zentren und Peripherien im Roman Der rote Reiter von Franz Xaver Kappus

Nach dem Zerfall der k. u. k. Monarchie entstehen auf der Landkarte Europas neue Staaten, es werden neue Grenzen gezogen. Ehemalige Zentren werden plötzlich ersetzt, und die Peripherien müssen sich neu orientieren. Es ist nicht nur ein politisches System, das zusammen-bricht, sondern in vielen Fällen ein ganzes Weltbild. Die Hauptfigur des Romans Der rote Reitervon Franz Xaver Kappus scheint als ehemaliger k. u. k. Offizier keinen Platz für sich zu finden in dem nach neuen Werten und Kriterien geordneten Universum. Er bewegt sich chaotisch zwischen zwei Welten, der alten und der neuen, ein Konflikt, der von dem Pendeln zwischen zwei Frauen, die eine ein Symbol für das Zentrum, die andere eines für die Peripherie stehend, unterstrichen wird. In meinem Beitrag werde ich zunächst auf die theoretische Problematik der Dichotomie von Zentrum und Peripherie sowie auf diesbezügliche Konstellationen innerhalb der Habsburgermonarchie eingehen. Danach möchte ich anhand des in Wien, Temeswar und Berlin in den Jahren unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg spielenden Romans von Kappus diese theoretischen Vorüberlegungen überprüfen.

Die Begriffe Zentrum und Peripherie können einerseits ohne ein-ander nicht existieren, sind ein-andererseits aber auch mehrdeutig:

„Zentrum“ und „Peripherie“ bilden ein Begriffspaar, das auf Fragen von Raum und Entfernung, von Herrschaft und Macht, von wirtschaftlicher Stärke und Eigenständigkeit, von sozialer Kompetenz und kultureller Leistungsfähigkeit gleichermaßen angewandt werden kann. […]

Auch politische, kulturelle, ethnische und soziale Differenzen können nach dem Grad von Macht, Hegemonie, Dominanz bzw. Partizipation gemessen werden und eine Abfolge von Zentrum-Peripherie-Beziehungen bilden. Ökonomische, politische, kulturelle oder ethnische Stärke müssen dabei keineswegs Hand in Hand gehen. Im Gegenteil: Ein ökonomisches oder ein kulturelles Zentrum kann gleichzeitig politische Peripherie sein, ein politischer Zentralraum ökonomisches Randgebiet.1

Man kann also nicht von einem einzigen Zentrum sprechen und von einerPeripherie. Die Problematik erweist sich als eine viel komplexere.

Es gibt verschiedene Arten von Zentren und Peripherien. Jedes Zentrum kann zur Peripherie werden, so wie jede Peripherie, von einem anderen Standpunkt aus betrachtet, als Zentrum gelten kann. Diese Überlegun-gen spielen eine bedeutende Rolle in meiner Auseinandersetzung mit dem Roman von Kappus.

Um die Ambivalenz der zwei Termini zu unterstreichen, benutzen sie manche Autoren immer im Plural. Wichtig ist auch, dass man sie, ob im Singular oder Plural benutzt, nie als absolute Kategorien daste-hen lässt, sondern ihre „erzeugte“ Bedeutung versteht:

Wichtig ist unseres Erachtens, dass sich die Dichotomie von „Zentrum“

und „Peripherie“ sinnvollerweise nur im Rahmen eines sozialen bzw. kul-turellen Konstruktivismus– also nicht essenzialistisch– behaupten lässt, mit anderen Worten: der Gegensatz ist gemachtund existiert nicht außerhalb der sozialen Praxis.2

Dies gilt für jegliche Art von Zentrum/Peripherie. Die Position auf einer geographischen Landkarte oder in einem zeitlichen Diagramm ist im Prinzip egal. Da ich mich aber mit dem Roman eines aus dem ehe-maligen Kakanien stammenden Autors befasse, muss auch auf dieses spezifische Gefälle kurz eingegangen werden.

Das habsburgische Imperium lebt förmlich durch seine Peri-pherien, unterstreicht der rumänische Literaturkritiker und Mittel-europaexperte Cornel Ungureanu; man kann die österreichisch-ungari-sche Monarchie nicht verstehen, wenn man die Situation in den Rand-gebieten nicht studiert.3 Das Reich zieht seine Kraft aus den Peri-pherien, aus den Städtchen, in denen das Zentrum/die Zentren (Wien, Budapest, Prag) noch eine Art „axis mundi“ darstellen. Der Zerfall die-ser Zentren ist da nicht bemerkbar, ein konstruiertes Idealbild lebt am Rande weiter und trotzt der Veränderung bis zum Schluss. Die Macht des Zentrums kommt bis 1914 aus den Peripherien.

Die Hauptstadt Wien könnte man, glaube ich, als eine „fata mor-gana“, das Abbild eines Wunschdenkens betrachten. Die Großstadt lie-fert genau das, was der durstige, am Rande der „zivilisierten Welt“

schmachtende Provinzler von ihr erwartet: einen Mittelpunkt, ein Ideal, Simina Melwisch-Birãescu

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manchmal natürlich auch ein Hassbild. Wien bekommt ambivalente Konnotationen in den Schriften verschiedener Provinzautoren: es ist einmal Kulturmetropole und der Ort, wo einem nie langweilig wird, es vermittelt dem Kleinstadtbürger den Eindruck grenzenloser Freiheit und steht sogar, wie im Roman Der rote Reiter, als Sinnbild für die geliebte Frau. Gleichzeitig wird Wien aber, vor allem unmittelbar vor dem Zusammenbruch des Imperiums und in der Zeit danach, als Platz, von dem man fliehen muss, empfunden, als tote Stadt ohne Zukunft, erstarrt in der Vergangenheit. Es unterdrückt, stagniert, ist verkommen und zieht alle, die sich nicht gleichzeitig retten, mit in den Verfall. Wien wirkt trotz allem wie ein Magnet auf die Bürger der Provinz (in man-chen Fällen sogar bis spät nach der Auflösung der Monarchie) und stößt gleichzeitig diejenigen, die es nicht mehr braucht, weg. Besonders nach 1918 passiert das vielen. Einer dieser „Verlierer“, der droht, von den Geschehnissen eingeholt zu werden, ist die Hauptfigur des 1922 ver-öffentlichten Romans von Kappus.

Da Franz Xaver Kappus manchen vermutlich kein Begriff ist, werde ich nun einige wichtige Daten aus seinem Leben erwähnen, vor allem auch, weil sich viele autobiographische Parallelen zum von mir gewählten Roman herstellen lassen. Franz Xaver Kappus, gewöhnlich bekannt aus-schließlich als Empfänger von Rilkes Briefen an einen jungen Dichter, war die längste Zeit seines Lebens als Lektor und Autor von Unterhaltungs-romanen beim Ullstein Verlag in Berlin tätig. 1883 in Temeswar geboren, verbrachte er seine Jugend in Militärschulen in Sankt Pölten und Mährisch-Weißkirchen und kämpfte kurz als Leutnant im Ersten Weltkrieg. Nach einer Verletzung arbeitete er im k.u.k. Pressequartier und versuchte sein Glück, genau wie die Hauptfigur im Roten Reiter unmittel-bar nach dem Ende des Krieges in Wien. Er gab eine satirische Wochen-schrift heraus, konnte aber damit nicht seinen Lebensunterhalt bestreiten und kehrte schließlich 1919 nach Temeswar zurück. Hier arbeitete er als Redakteur des Banater Tagblatts und der Temesvarer Zeitung, schrieb Trivialliteratur, die in Berlin gedruckt wurde: In der Provinzstadt hat er sich aber nie so richtig einleben können, wovon seine äußerst kritischen Bemerkungen im Artikel Abschied von Temeswar zeugen. 1925 ergreift er die Möglichkeit wegzukommen und nimmt das Angebot des Berliner Verlags an. In der Zwischenkriegszeit sowie nach dem Zweiten Weltkrieg machte er sich dann einen Namen als Autor von

„Sonntagnachmittags-Die Wahrnehmungen von Zentren und Peripherien

lektüre“, wie er selbst sein literarisches Schaffen ironisch bezeichnete.4Die Tatsache, dass er aus der Provinz stammt, wird der vom Metropolenleben stets faszinierte Schriftsteller nie vergessen können. Dazu kommt noch die bittere Erkenntnis der Grenzen seines eigenen literarischen Talents.

Frühzeitig bemerkte er nämlich schon, dass seine schriftstellerische Gabe nie ausreichen würde, um das Werk zu schaffen, das er bei Rilke zum Beispiel so bewunderte, ließ daraufhin das Dichten und wählte, pragma-tisch, den Weg, der ihn bald zum erfolgreichen Trivialautor führte. Der rote Reiter versinnbildlicht eine sehr ähnliche Art von Menschentypus, einen, der sich, seine Grenzen erkennend, mit dem Leben „arrangiert“, den „gesunden Menschenverstand“ walten lässt anstatt sich für ein „tragi-sches Schicksal“ zu entscheiden.

Und nun zum Roman. Rittmeister Otto von Wellisch ist seit kur-zem aus dem Krieg zurückgekehrt in ein Wien, das nunmehr gestrande-ten Exisgestrande-tenzen wie ihm kein Gefühl von Halt geben kann. Die Welt hat sich verändert. Zusammen mit seiner Geliebten Hasia, einer polnischen Aristokratin, die ebenfalls durch den Krieg alles verloren hat, lebt er in den Tag hinein, hält sich über Wasser durch den Verkauf von Wert-sachen und Geborgtem. Verzweifelt klammert er sich an die Welt von früher, kann Angewohnheiten wie das Wohnen im Hotel Bristol und das ständige Ausgehen nicht lassen, selbst jetzt, wo er ruiniert ist.

Deswegen entscheidet er sich ohne jegliche Bedenken, ein Geschäft mit Paul Livius, einen aus dem Banat stammenden, überaus reichen Indust-riellen, abzuschließen. Dieser hatte ihn in einer Wiener Bar entdeckt und, verblüfft von der Ähnlichkeit Wellischs mit dem im Krieg gefalle-nen Verlobten seiner Tochter (Otto Medretter), ihm vorgeschlagen, des-sen Rolle einzunehmen, nach Heidestadt (Temeswar) zu kommen und jene zu heiraten. Etelka hatte Otto sowieso erst einige Tage gekannt und würde den „Austausch“ somit nicht merken. Sie wäre überglücklich, dass ihr Geliebter heil zurückgekehrt ist und Wellisch würde ein reicher Mann werden. Seine Entscheidung schiebt dieser im Gespräch mit Hasia der Welt zu, die verkehrt steht:

Wir alle, du und ich und die anderen, wir sind nicht mehr die, die wir waren. Über Nacht haben Gebote, Begriffe, Vorstellungen die Umrisse verloren. Alles steht auf dem Kopf. Nirgends ein Halt, nirgends Sicherheit, nirgends fester Boden. Und da drin stecken wir. Sollen leben,

Simina Melwisch-Birãescu

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arbeiten, hoffen. Tausendmal hat man’s erfahren, wie die Menschen zu Bestien werden.5

Wellisch ist sich keiner Schuld, zumindest Hasia gegenüber, bewusst und sieht sich als Opfer der gegenwärtigen Zustände. Der Abschied von der Geliebten und vor allem der von Wien fällt ihm schwer, das Abenteuer lockt ihn aber. Während der Zugfahrt durch die endlose Ebene brennt er darauf, an diesem mysteriösen „Ende der Welt“ anzukommen:

Es prickelte in seinen Adern, juckte in allen Fibern. Jetzt lag Wien schon weit hinter ihm. Wider sah er, wie so oft schon, nur das Abenteuer, das dicht verschleiert vor ihm stand.6

Die entfernte Provinz garantiert nicht nur das Abenteuer, sondern auch einen Neuanfang. Nach der gescheiterten Militärkarriere scheint Heide-stadt eine unerschöpfliche Anzahl an Aufstiegsmöglichkeiten zu bieten.

Rumänien befindet sich im Aufschwung, das Banat hat sich nach dem Krieg rasch erholt, und das Geld liegt förmlich auf der Straße, wie es öfters im Roman geschildert wird. Heidestadt wird zu dem, was Karl Schlögel einen „Ort der Karriere“ nennt:

Er [der Ort] muß selbst eine Art Durchgangstor, eine Membran zwischen abgelegenem Raum und Metropole sein, wichtig genug, um nicht vernach-lässigt zu werden, zu wenig wichtig, um als Endziel der Meisterschaft, der Anerkennung zu gelten. Orte der Karriere besitzen eine Attraktion und eine Repulsion. Man muß sich ihnen unterwerfen, aber sie zwingen auch zur Flucht. Man flieht, wenn man sich durchgesetzt hat. Sie werden zu einer Stufe der Karriere, weil sie als Betätigungsfeld zu eng geworden sind.7 Angrenzend an neue Staaten, selbst ein Teil der ehemaligen habsburgi-schen Welt, passte sich das Banat Anfang der Zwanziger Jahre an einen anderen Lebensstil, an eine andere Kultur an. Es mag dem ehemaligen Offizier nicht alle Annehmlichkeiten Wiens bieten, es mag ihm abge-schottet und einfallslos erscheinen, kulturell extrem provinziell, es hat aber etwas zu bieten, was Wien ihm nicht geben konnte: eine Möglich-keit zur Karriere, zum schnellen Geld, zum Aufstieg.

Die Wahrnehmungen von Zentren und Peripherien

Für Otto scheint alles endlich in die richtige Bahn gekommen zu sein, wenn er nicht immer mehr mit der Langeweile zu kämpfen hätte, mit dem trostlosen Gefühl verschleppt worden zu sein an einen faden, glanzlosen, kleinbürgerlichen Ort, welcher einem Großstadtmenschen nichts bieten kann. Das Hotel, wo er anfangs übernachtet, erscheint in symbolischer Weise als Ort, an dem das Verstaubte, Provinzielle mit dem protzigen, typisch arrivierten Prunk verschmilzt:

Imposant war das Hotel Union nicht. Nach außen hin auf den Glanz la-ckiert, wies es innen deutliche Spuren der Vernachlässigung: die Vorhänge zerschlissen, der Parkettboden blind, die Wasserflasche halb gefüllt. Dafür prunkten auf Treppenabsätzen und Gängen Spiegel um Spiegel, dafür roch es überall nach feinstem Parfüm.8

Die fiktive Heidestadt und seine Bewohner geben insgesamt dasselbe Bild ab. Es fehlt anscheinend keinem an Geld, aber überall an Bildung, Stil und Charakter, wie wir noch sehen werden. Im Roman erscheint die Welt der Gewinner des ersten Weltkrieges als eine der Neureichen, als eine, wo jeden Tag Millionengeschäfte abgewickelt werden. Gleichzeitig ist es eine Welt voller Grobheit, Ungehobeltheit, eine Welt der Arbeit und nicht des Spaßes, des Geldes und nicht der Kultur. Otto empfindet sie als eine verkehrte, nicht nur wegen der großen politischen und wirt-schaftlichen Umwälzungen, welche bei vielen Zeitgenossen ein Gefühl von Chaos hinterließen, sondern weil er die Veränderungen als eine Art Werteverlust sieht. Im ganzen Text beklagt Kappus implizit das Ersetzen der alten Ideale mit neuen, falschen Werten.

Bissige Kritik an diesem neuen Typus von Mensch, der nichts als Geld und Gewinn im Sinn hat, scheint immer wieder durch. Viele in Rumänien haben, wie der Schwiegervater der Hauptfigur, Paul Livius, von ganz unten angefangen, haben sich in Amerika durchgeschlagen, oder sind skrupellos und korrupt wie der Großkaufmann Schopf. Die

„Harmlosen“ hier sind kleinkarierte Bürger, die ewig in denselben Cafés herumhängen und über Belangloses tratschen. Ironisch malt der Autor das Bild der ehemaligen k. u. k. Provinz, auf die er, der Großstadt-mensch, nur herabschauen kann:

Simina Melwisch-Birãescu

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Otto sprach wenig, besah sich die Menschen – und war enttäuscht. Die meisten kleinkalibriges Gelichter, der Durchschnitt letzte Provinz, die Besseren nach fernen Vorbildern weltmännisch zurechtgeschnitten.

Ungarischer Adel tat sich hervor, jonglierte französisch, schwärmte für Pferderennen, Budapest, Paris. Manche trugen Zeichen alter Kultur, waren schweigsamer, unaufdringlicher. Daneben die junge Gentry-Garde, verbit-tert über den Ausgang des Krieges, sehnsüchtig über die Grenze lugend.

Dann derb biedere Gutsbesitzer: ein Baron Bescélnyi von hünenhaftem Wuchs mit dem Gehaben eines Kindes, ein Herr Wildamer aus schwäbi-schem Bauernblut, klotzig, urwüchsig, volkstümlich9.

Im Kaffeehaus spielen die Zigeuner immer die gleichen ungarischen Lieder, die Zeitungen sind voll von Nichtigkeiten, und Nachrichten aus den Zentren Europas, aus der zivilisierten Welt, erreichen den Grenzort verspätet. Der Lauf der Dinge hat sich 1918 verändert, eine Tatsache, die Wellisch alias Medretter nicht akzeptieren kann. Anstatt nach Wien oder Berlin zu fahren, müssen die frisch Verheirateten nach Constanza und Bukarest. Die „Entdeckungsfahrt“ wird zum Albtraum: der Zug ist schlecht, das Personal arrogant, das gebuchte Zimmer vergeben, die Straßen überfüllt. Alles in allem ist es eine vollkommen andere Welt:

Das Tempo eines anderen Lebens flutete in der Hauptstadt, in der Provinz, am Meer. Der Orient sandte seine Vorposten auf Schritt und Tritt. Üppiger Luxus stellte sich aus, prunkte in Schaufenstern, auf Frauen-leibern, in Theatern und Varietés. Alles in Parfümwolken gehüllt, auf greif-bare Wirkung gestellt. Vergeudeter Reichtum im Zentrum der Städte, pri-mitives Elend am Rand10.

Zurück aus den Flitterwochen, wird Otto zum Direktor einer Ziegel-fabrik seines Schwiegervaters ernannt. Nach einigen Monaten aber ist das Leben in der Provinz nicht mehr auszuhalten, so dass er, vor allem nachdem er seine ehemalige Geliebte in einem Kinofilm sieht, einen Ausbruch zu planen beginnt. Geschäftlich muss er nach Belgrad, von wo aus er, ohne das Wissen Etelkas, nach Wien, „die Stadt, die jetzt Hasia hieß“11„flieht“. Nach der Zeit in Heidestadt erscheint ihm Wien noch prachtvoller, noch lebendiger:

Die Wahrnehmungen von Zentren und Peripherien

Es war ein anderes Wien, in das er endlich Einzug hielt: eine Stadt wie mit Fahnen geschmückt, mit Musikkapellen überall, mit festlich gestimmten, leichtbeschwingten Menschen. […] Und Otto ließ sich treiben. Lebte einen Tag mit allen Fasern an den ersehnten Rausch verloren, wie ein Grandseigneur. […]Ganz für sich wollte er die Stimmung genießen: dieses Bewusstsein, daß er da war, dieses Gefühl, daß er jeden Augenblick tun konnte, was ihm beliebe. Alles trank seine Seele, auf deren Grund die große Erwartung stand: Hasia.12

Das gesamte Leben in Heidestadt ist vergessen. Die Großstadt und Hasia haben ihn in ihren Bann gezogen. Zusammen mit ihr, die jetzt eine bekannte Schauspielerin ist, reist er nach Berlin, lebt ekstatisch den Luxus, den Trubel der Großstadt und die Nähe einer der begehrtesten und schönsten Frauen im Filmgeschäft aus. Nach einem viel längeren Aufenthalt als geplant kehrt er zur besorgten Etelka zurück, seine Gedanken kreisen ab jetzt aber nur noch um eine Möglichkeit des Ausstiegs. Kurzerhand verlässt er seine schwangere Frau und deren wütende Familie und kehrt nach einigen Monaten nach Wien zurück, diesmal um selbst in einem Film zu spielen. Die Entscheidung, endgül-tig aus der verstaubten Provinz zu verschwinden, wird mit dem Ausbruch aus einen „Kerker“ verglichen.13

Der Roman endet melodramatisch mit einem schweren Unfall Ottos während der Dreharbeiten. Sobald die Nachricht davon Heidestadt erreicht, reisen Etelka und ihre Eltern nach Wien ab. Im Krankenhaus versöhnen sich alle vor den Augen Hasias, welche die, für den Leser überraschend schnell getroffene und gänzlich unbegründete Entscheidung Ottos mit Etelka zusammenzubleiben, billigt.

Was definitiv kein gelungener Schluss in literarischer Hinsicht ist, spielt eine wichtige Rolle für die im Roman konstruierte Dichotomie zwischen Zentrum und Peripherie. Otto wird mit Etelka und mit seinen Schwiegereltern in Wien bleiben, eine Rückkehr in die Provinz ist aus-geschlossen. Trotz der Entscheidung für die Frau, die während des gan-zen Geschehens ein Inbegriff für das Marginale, für die Sicherheit des kleinbürgerlichen Lebens war, steht der Entschluss für ein Leben im Zentrum fest. Wie könnte man diese seltsame Lösung interpretieren?

Vielleicht als eine Art, die verkehrte Welt gerade zu biegen, Ordnung zu schaffen.

Simina Melwisch-Birãescu

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Eine Beziehung zu Hasia, die sinnbildlich für die Großstadt, die verrückte, moderne Welt steht, hätte Otto, der sich von den Werten der

„alten“ Zeit noch nicht gelöst hat (symbolisch dafür der schwere Unfall, der seine kaum begonnene Filmkarriere beendet) nichts gebracht.

Anfangs noch unter den großen Verlierern des Krieges, hat sich Hasia am Ende einen Namen im fortschrittlichsten Medium der Zeit gemacht.

Sie symbolisiert alles, was Otto am „Gewinner“-Typ fasziniert, so wie die Kaufmänner in Heidestadt oder Bukarest für all das stehen, was er an diesem Typ verabscheut. Hasia hat sich nicht nur blitzschnell an die Regeln der neuen Welt adaptiert, sondern bestimmt diese auch mit.

Stilvoll und zugleich gefühl- und reuelos nimmt sie Männer aus, lebt im Luxus, wird sogar von amerikanischen Regisseuren umworben. Sie gehört eigentlich einer neuen Art von Frau an, ist femme fatale, Diva, ein Konstrukt der Filmindustrie, das später eine unglaubliche Faszination auf die Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts ausgeübt hat.

Als „Ort der Karriere“ hat Wellisch die Provinz alles gegeben, was zu gewinnen war: eine liebende, überaus fürsorgliche Frau und ein gutes Vermögen. Die Möglichkeiten am Ort der Karriere sind ausgeschöpft, mit dem dort gewonnenen Halt kann er aber im Zentrum ein neues Ziel anstreben. Worin dieses bestehen könnte, bleibt unklar. Der Schrift-steller versucht die dichotomischen Spannungen durch eine Versöh-nung zweier eigentlich unversöhnlicher Lebenskonzepte zu lösen: das leichte, anständige, bürgerliche Familienleben mit dem „verrückten“, von einer gewissen Tragik, aber auch von Luxus geprägten Dasein einer damals entstehenden neuen Menschenklasse, nämlich der Stars der Unterhaltungsindustrie.

Anmerkungen

1Komlósy, Andrea: Innere Peripherien als Ersatz für Kolonien? Zentrenbildung

1Komlósy, Andrea: Innere Peripherien als Ersatz für Kolonien? Zentrenbildung