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Heute ist, wenn man von kulturellen Kontakten und Kontroversen spricht, die Bewertung eindeutig: die Begegnung ist gut und produktiv, der Konflikt ist schlecht und destruktiv. Die sogenannte „multikulturel-le Gesellschaft“ ist geradezu ein Ideal des Westens geworden, während man auf kulturelle Konflikte der Vergangenheit, wie etwa auf die Kreuz-züge oder auf den Kolonialismus, mit moralischer Entrüstung herab-blickt. Die Frage, ob nicht manche anfangs feindliche Begegnung schließlich bedeutendere Früchte trug als die friedlichste Amalgamie-rung, soll hier nur gestellt, aber nicht beantwortet werden. Ich möchte vielmehr über die weniger heikle, aber verwandte Frage sprechen, ob es bei kulturellen Begegnungen nicht angemessener ist, das Andersartige zu bemerken und über das Fremde zu staunen, als immer zu versuchen, Gemeinsamkeiten zu entdecken oder notfalls zu konstruieren.

Schließlich kann nur das Fremde eine Bereicherung sein.

Wo immer von westlicher Seite Begegnungen mit anderen Kul-turen veranstaltet werden, ist man, besonders wenn es sich um offiziel-le Kulturpolitik handelt, an einer Harmonisierung interessiert, auch wenn man zu diesem Zweck offenkundige Gegensätze und Wider-sprüche verkleinern oder ganz abstreiten muß. Gerade im Umgang mit der islamischen Welt ist das westliche Bemühen eklatant, einen guten und richtigen von einem falschen und schlechten Islam zu unterschei-den, wobei dann aber die uns bequeme und genehme Form nur allzu sehr dem säkularen Bewußtsein des Westens ähnelt und im Grunde nur seine höchst überflüssige Wiederholung wäre.

Ich möchte nun über einen deutschen Schriftsteller des späten neunzehnten Jahrhunderts reden, der viel gereist ist, der viel gesehen und beschrieben hat und der sich dabei doch das Staunen über das Andere, sei es bewundernd, sei es ablehnend, bewahrt hat. Ja, er bringt es sogar fertig, bewundernd abzulehnen oder ablehnend zu bewundern.

Er schildert fremde Menschen und Länder ohne den übereilten Anspruch auf Verständnis, aber mit Sympathie für ihre Eigenart. Er

sieht in China und Japan die objektiven Konflikte zwischen Asiaten und Europäern, im Osmanischen Reich zwischen Türken und Armeniern, Griechen oder Arabern, ohne sich doch zu einer moralischen Beurteilung berufen zu fühlen. Beide Seiten sieht er gewöhnlich in ihrem Recht, und im übrigen weiß auch er, daß die Sieger nicht nur die Geschichte schrei-ben, sondern auch das Recht sprechen. Heutzutage, wo man unter kultu-rellem Austausch die Globalisierung der eigenen Anschauungen versteht, wo man an die universelle Gültigkeit der eigenen Wertvorstellungen und an die Berechtigung ihres Exports glaubt, heutzutage ist diese moralische Skepsis ganz und gar unzeitgemäß. Und gerade deshalb, denke ich, lohnt sich eine Betrachtung dieser uns fremden Sicht.

Der 1829 geborene Rudolf Lindau hatte schon in jungen Jahren Gelegenheit, in Ostasien fremde Länder und kulturelle Konflikte der Einheimischen mit den Fremden kennenzulernen. Auch hier vermied er gewöhnlich jedes moralische Urteil; als Beobachter interessierten ihn immer beide Seiten und ihre subjektiven Rechtfertigungen gleicherma-ßen. 1892 kam er dann für ein Jahrzehnt in die Türkei. Inzwischen hatte er im deutschen Staatsdienst Karriere gemacht und war zuletzt ein hoher Beamter im Auswärtigen Amt in Berlin.2 Nach Bismarcks Sturz erhielt er die Stelle als deutscher Repräsentant bei der internationalen Verwaltung der türkischen Staatsschulden in Konstantinopel. Er war hier beruflich nicht übermäßig in Anspruch genommen und fand wie-der mehr Zeit zum Schreiben und auch zu Reisen durch das Land. Im Unterschied zu Ostasien fühlte er sich in der Türkei mehr zu Hause, aber nicht, weil er die Türken europäisierte, sondern im Gegenteil, weil er Eigenschaften an ihnen entdeckte, die ihm sympathisch und wesens-verwandt waren, die er aber in Europa vermißte. Es war also eine Art Heimkehr in die Fremde. Bei alledem sah er aber auch scharf die Fehler und Gebrechen der türkischen Gesellschaft, die Unzulänglichkeiten der Staatsverwaltung, der Justizpflege, der öffentlichen Arbeiten und derglei-chen mehr.

Auch jetzt betonte Lindau lieber und deutlicher die Unterschiede, das Andersartige des Landes. Für ihn war die Türkei gerade kein euro-päisches Land. Nicht durch Vereinnahmung nach Europa, sondern durch ihre Ausgrenzung waren ihm die Türken interessant. Bekanntlich hat sich dann, nach Lindaus Tod, auch in der Türkei eine Europäisie-rung vollzogen, die sicherlich nicht seine ungeteilte Sympathie gefun-Rainer Hillenbrand

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den hätte. Aber Lindau ging noch weiter: er hütete sich auch vor einem einheitlichen Türkei-Bild. Was ihn an der osmanischen Gesellschaft interessierte, waren gerade die Gegensätze und Spannungen. Er nahm sich vor, in der Türkei vier Bücher zu schreiben: eines über die Türken, eines über die Griechen, eines über die Armenier und eines über die Levantiner.

Das letztere kam nicht zustande, dafür schilderte er aber in den Erzählungen eines Effendi3 noch die Araberstämme des osmanischen Mesopotamiens, also des heutigen Iraks. Dieses schmale Buch ist in mancher Hinsicht das künstlerisch bemerkenswerteste, weil es eine dop-pelte Fremdheit vermittelt. Der Erzähler ist ein türkischer Staats-beamter, der in seiner Jugend nach Bagdad versetzt wurde und der nun seine damaligen Erlebnisse schildert. Dies ist von Lindau, der überhaupt mit Vorliebe selbst Gesehenes oder zumindest selbst Gehörtes nacher-zählte, keine Fiktion. Es handelt sich vielmehr um seinen türkischen Freund und Kollegen in der Staatsschuldenverwaltung, den Archäolo-gen, Museumsdirektor und Maler Osman Hamdi Bey, der 1869–71 als Direktor der auswärtigen Angelegenheiten unter dem Gouverneur Midhat Pascha in Bagdad stationiert war.4

Dieser im europäischen Ausland gebildete Türke erlebt nun den Fernen Osten seines Reiches und seine Menschen als fremdartige, faszi-nierende, aber letztlich unverständliche Wesen. Der deutsche Nach-erzähler, der, wie er im Vorwort schreibt, versuchen will, einige dieser Geschichten, „in den Worten des Erzählers“ wiederzugeben (S. 2), ver-mittelt seinem deutschen Leser eine doppelt gespiegelte Perspektive: es wird ihm nicht nur die Fremdheit der arabischen Nomadenstämme gezeigt, sondern sogar ihre Fremdheit für den Türken, der doch selbst schon fremd und orientalisch genug ist. Einige Beispiele dafür:

Djinn und Manßur, ein edles Pferd und ein junger Mann vom Stamme der Annesi, die Helden der gleichnamigen Erzählung, erregen im Osten die Bewunderung des Effendi, der sie beide mit nach Konstantinopel nimmt. Hier aber hat er andere Geschäfte, vernachläs-sigt das Pferd und schenkt es schließlich gar einer europäischen Dame.

Manßur ist hier ebenfalls fehl am Platz, mißbilligt heftig das Verhalten seines Herrn und kehrt nach Hause zurück. Die türkische Metropole erscheint als Ort der naturfernen Zivilisation, wo so eng verwandte Kreaturen wie Djinn und Manßur ihre eigentliche Natur nicht

bewah-Das Fremde in Rudolf Lindaus Türkischen Erzählungen

ren können. Nur in der Wildnis, nur in der Wüste können Mensch und Pferd wirklich zusammenwachsen. Der türkische Erzähler selbst erlebt seine gesellschaftliche Existenz als Verlust ursprünglicher Werte. Und es hat nun eben einen besonderen Reiz, daß die für den europäischen Leser so „orientalische“ Welt Konstantinopels aus türkischer Sicht als vergleichsweise dekadent erscheint. Für den Türken sind der Orient und die Naturnähe noch ein Stück weiter gen Osten gerückt.

Noch fremdartiger ist die Geschichte von dem kleinen Tschet-schenen-Jungen Hassan, der von den Türken, die Freiwillige für den Krieg gegen aufständische Stämme anwerben, wegen seiner Jugend immer wieder abgewiesen wird, aus verletztem Stolz aber trotzdem und ohne Sold mit-kämpft, greuliche Taten vollbringt und schließlich glücklich den Heldentod stirbt. Für den Europäer ist dieser „Kindersoldat“, wie man ihn heute wohl mit moralischer Entrüstung nennen würde, unverständlich, für den türkischen Erzähler immerhin äußerst befremdlich; aber für den Jungen selbst ist die Abweisung das größte Übel und seine Anerkennung als Krieger, und sei es im Sterben, das höchste Glück. Wer will hier urtei-len? Lindau will es nicht. Auch Hassan ist eine elementare Natur, ein Menschenschlag, wie er in unserer gewöhnlichen Welt nicht denkbar ist und daher auch nicht mit deren Maßstäben beurteilt werden kann, viel-mehr als ästhetisches oder kulturelles Phänomen geschätzt werden muss.

Auch die Liebesgeschichte in dem Zyklus endet nicht im üblichen Sinne glücklich. Das Arabermädchen Salihahläßt sich von dem jungen Türken entführen, wird seine Geliebte und wohnt mit ihm in Bagdad offen zusammen. Eines Tages ist sie aber verschwunden. Nach einem Jahr trifft er sie zufällig andernorts wieder; sie mußte sich auf Befehl ihres Vaters um die Kinder ihrer verstorbenen Schwester kümmern und schließlich ihren Schwager heiraten. Ihr Verhalten ist jederzeit ruhig und sicher, wenn auch für andere schwer verständlich: sie läßt sich von ihrem Geliebten dem Vater entführen, und doch gehorcht sie dessen Befehl, den Platz der Schwester einzunehmen. Anscheinend muß es so sein. Nicht nur der verlassene Liebhaber versteht das nicht eigentlich, auch der Leser muß es nehmen, wie es ist.

Die vielleicht eindrucksvollste Geschichte, jedenfalls was die arabi-sche Kulturschilderung betrifft, ist Hattidja, die Ruferin zum Streit. Sie ist ein schönes, majestätisches Mädchen, das in einer Art Trance die Krieger mit Koran-Versen zum Krieg begeistert. Von den Araberscheichs Rainer Hillenbrand

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ermutigt, spielt der türkische Gast ihr gegenüber den Verliebten, stößt aber, solange sie ihres Amtes waltet, auf Gleichgültigkeit. Erst nach der Schlacht bemerkt er beim endgültigen Abschied, daß aus seinem Spiel doch Ernst hätte werden können. Auch hier ist keine dauernde Verbin-dung zwischen den beiden denkbar, wiederum ist die arabische Frau für den türkischen Beamten ein fremdes Wesen aus einer anderen Welt:

großartig, beeindruckend, aber fast auch ein wenig ungemütlich. Und um so fremder ist sie wiederum dem europäischen Leser, dem die Fremdheit innerhalb des ihm Fremden vorgeführt wird.

Künstlerisch wohl weniger bedeutend, wartet die Erzählung Reihan doch mit einem neuen Motiv auf: mit dem des Rassismus. Der Held ist ein Mischling mit schwarzem Blut, den der arabische Onkel mißhandelt und gerne gegen Geld an den türkischen Effendi loswird. Der gewinnt den Jungen lieb und macht ihn quasi zu seinem Adoptivsohn. Auf der Schule in Konstantinopel wird er aber wegen seiner Hautfarbe verspottet, und als er sich in die schöne Nuriéh verliebt, verweigert sie deren Vater aus dem selben Grunde. Schließlich verkümmert er und stirbt. Auch in diesem Fall vermißt man den erhobenen Zeigefinger des Autors. Was geschieht, ist traurig, aber wohl nicht anders möglich. Und auch hier ist es merkwürdig zu sehen, wie sogar der Rassismus kein europäisches Privileg ist, sondern unter Arabern und Türken gleichermaßen stattfindet.

Wird also in diesen mehr oder weniger biographisch fundierten Erzählungen eines Effendidie inhaltliche Fremdheit, aber auch der poeti-sche Reiz der arabipoeti-schen Nomadenwelt gerade dadurch potenziert, daß sie sogar dem Türken fremd und unverständlich erscheint, so liegt bei den märchenhaften Türkischen Geschichten5 der Fall wiederum anders.

Hier sind die Erzählungen selbst befremdlich, nämlich vor allem in ihrer Form und Komposition. Es handelt sich, so wird in einer Vorrede versichert, lediglich um Nacherzählungen von bekannten türkischen Volkssagen, die der Autor von seinem türkischen Lehrer erfahren habe.

Lindau legte nun großen Wert darauf, diese echt türkische Eigenart in seinen Bearbeitungen zu bewahren.

Formal war die für europäische Begriffe mangelhafte Motivation der Handlung und die damit verbundene große Bedeutung des Zufalls das Hauptproblem. Lindau wies aber diese Kritik zurück mit dem Argument, daß ihm diese Geschichten gerade deswegen gefielen, weil sie sich von den europäischen Erzählungen unterschieden. Der Gewinn für deutsche Leser

Das Fremde in Rudolf Lindaus Türkischen Erzählungen

liegt für ihn im Anderen, im Fremden, im Ungewohnten, im Kontrast zu seinen gewöhnlichen Anschauungen. Das entspricht übrigens ganz dem traditionellen Begriff der Novelle, die ja eine Neuigkeit verspricht.

Besonders kritisiert wurde auch die fehlende psychologische Erklä-rung der Verhaltensweisen. Aber gerade das gefiel Lindau, dessen Erzäh-lungen schon immer etwas Unergründliches, Undurchdringbares hat-ten. Die Scheu vor „den heute beliebten psychologischen Klügeleien“, wie es nun im Vorwort heißt, die Zurückhaltung vor dem Alles-genau-wissen-Können, nicht zuletzt auch der Respekt vor der äußeren Haltung war bei ihm auch früher schon bemerkbar. In der deutschen Literatur seiner Zeit stand er damit ziemlich allein; es muß einen besonderen Reiz für ihn gehabt haben, nun seine persönlichen Vorlieben gewisser-maßen als Nationaleigentümlichkeit, als das Natürliche und Selbstver-ständliche zu erleben.

Verzicht auf überdeutlichen Realismus, auf festgelegte Bedeutung, auf psychologische Motivation macht also den orientalischen Charakter der Geschichten aus.6 Die türkisch-islamische Welt und teilweise auch der legendarische Charakter bieten Lindau Gelegenheit zu großartigen, in sich geschlossenen Personen mit patriarchalisch-selbstbewußter Handlungsweise. In seinen türkischen Erzählungen findet Lindau eine Welt, in der ihm gerade wegen ihrer Fremdartigkeit wohl wird. Zum Befremden mancher Kritiker schließt dies auch die Akzeptanz eines märchenhaften Despotismus mit ein, den ein stets wohlwollender Sultan praktiziert. Die Guten werden belohnt und die Bösen milde be-straft. Aber hier ist es eben die betont ausgestaltete Gattung des Märchens oder der Volkssage, die das positive, märchenhafte Ende rela-tiviert. Außerdem macht Lindau deutlich, daß der Sultan oft nur zufäl-lig das Richtige erfahren hat, daß er oft nur zufälzufäl-lig in der richtigen Stimmung war und daß alles auch sehr böse hätte enden können. Das Märchenhafte erscheint als das Unwahrscheinliche, als die Ausnahme von der Regel. Und die Tatsache, daß der Herrscher überhaupt so häu-fig persönlich eingreifen muß, um der mangelhaften Rechtspflege auf-zuhelfen, zeigt eben auch die sozialen und politischen Zustände, wo man von mächtigen Beamten übervorteilt und ohne jeden Grund ins Gefängnis geworfen werden kann.

Lindau findet im Fremden die Bereicherung, gerade weil es das Fremde ist und neue Möglichkeiten bietet. Er lehnt eine weitgehende Rainer Hillenbrand

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Aufbereitung des Orientalischen für den europäischen Geschmack ab, weil es dadurch seine Existenzberechtigung verlieren würde. Natürlich kann es nur wirklich fruchtbar werden, wenn sich, wie bei Lindaus Begegnung mit der türkischen Welt, Anknüpfungspunkte ergeben. Es muß aber als Alternative dienen können und darf nicht als Karikatur des Altgewohnten enden. Dazu gehört auch, daß das Fremde nicht ide-alisiert wird, daß seine Fehler gesehen und dargestellt werden. Dazu gehört aber auch, daß man selbst seine Eigenart gegenüber dem Fremden nicht aufgibt, daß man nicht selbst zur Karikatur des Fremden und sich selbst fremd wird.

Lindau wurde literarisch kein Orientale; er hat seine westliche Sicht, seinen fremden Blick niemals aufgegeben. Auch das wäre nur eine exotische Maskerade. Lindau blieb als Erzähler Realist in der europäi-schen Tradition des 19. Jahrhunderts. Und er besaß auch schon zuvor einen skeptischen Realismus, weil er das individuelle Seelenleben, die letzte Motivation des menschlichen Handelns oder die Mentalität der Völker nicht als legitime Gegenstände realistischer Beschreibung aner-kannt hatte. Auch der Zufall, als Manifestation des blinden Schicksals, hatte schon immer eine sehr große Rolle bei der Katastrophe seiner Geschichten gespielt. Etwas Fatalistisches war auch früher schon an ihm. Für alles das, was ihn von der Hauptströmung des psychologisie-renden, soziologisiepsychologisie-renden, alles zu wissen meinenden Naturalismus sei-ner Zeit unterschied, für seine individuelle Eigenart fand er nun eine Entsprechung im Orient, die er als Anregung gerne ergriff. Er spielte jedoch nicht den Türken, sondern stellte ihn dar. Es findet kein Ausgleich, keine Nivellierung statt, sondern eine Anregung durch das Fremde.

Das heute in der westlichen Welt vorherrschende Ideal von der Begegnung der Kulturen ist ein harmonischeres, aber es ist eben des-wegen problematisch. Die multikulturelle Gesellschaft bedroht die mul-tikulturelle Welt. Sie ersetzt die mannigfaltigen Einzelkulturen durch ein global gleichgeschaltetes Verhaltens- und Denkmuster auf unterstem Niveau. Man hat gerade auch in Deutschland in den letzten Jahr-zehnten einem Internationalismus gehuldigt, der nicht nur das Fremde verfälscht und mißbraucht, sondern auch das Eigene verleugnet und schließlich verloren hat. Beides gehört zusammen: im Unterschied der Kulturen kann man sowohl das Fremde wie das Eigene besser erkennen.

Das Fremde in Rudolf Lindaus Türkischen Erzählungen

Ich denke, wir haben einen Punkt erreicht, wo es mehr darauf an-kommt, die Vielfalt und das Eigentümliche zu sehen, als das Einheit-liche und Verbindende. Das würde uns nicht zuletzt auch zu einer realistischeren Einschätzung unserer eigenen Lage führen und zu größe-rer Ehrlichkeit im Umgang mit anderen Kulturen. Wir könnten unsere Interessen verfolgen, wir könnten aber auch über unsere eigenen Schwächen nachdenken und die Ergänzung im Fremden suchen. Und dafür könnte der fremde Blick Rudolf Lindaus zum Muster dienen.

Anmerkungen

1 Eine längere Fassung dieses Vortrags, die auch auf Lindaus in der Türkei spie-lende Romane eingeht, erschien unter dem Titel: Der fremde Blick. Rudolf Lindaus Begegnung mit der osmanischen Welt, in: Archiv für Kulturgeschichte88 (2006), S. 389–408. Vgl. außerdem meine Monographie: Das erzählerische Werk Rudolf Lindaus. Frankfurt am Main etc.: P. Lang, 2005 (mit Materialien zur Aufnahme Lindaus bei anderen Schriftstellern und in der Literaturkritik); sowie meine Edition: Die politische und literarische Korrespondenz Rudolf Lindaus. 2 Bde.

Frankfurt am Main: P. Lang, 2007.

2 Zu Lindaus amtlicher Tätigkeit vgl. meinen Aufsatz: Rudolf Lindau und der Bismarcksche Wahlkampf von 1881, in: Schwarz, Hans-Günther – Stutterheim, Christiane von – Loquai, Franz (Hg.): Fenster zur Welt: Deutsch als Fremdsprachenphilologie. Festschrift für Friedrich Strack. München: iudicium 2004, S.

250–280 (mit weiterer Literatur).

3Erzählungen eines Effendi. Berlin: F. Fontane & Co., 1896.

4 Vgl. Lindaus Würdigung des Freundes in dem Aufsatz: Osman Hamdy Bey, in: Nord und Süd. Bd. 104. März 1903, S. 323–329, mit einem Porträt vor S. 297.

Vgl. außerdem: Edhem Eldem, Quelques lettres d’Osman Hamdi Bey à son père lors de son séjour en Irak (1869–1870), in: Bacqué-Grammont, Jean-Louis et alii (Hg.): Anatolia Moderna. Yeni Anadolu, Bd. 1. Paris 1991 (Bibliothèque de l’Institut Français d’Etudes Anatoliennes d’Istanbul 33), S. 115–136.

5Türkische Geschichten.Berlin: F. Fontane & Co, 1897; 2. Aufl. 1903.

6 Zum Mangel an Psychologie und Motivierung und zur Bedeutung des Zufalls als Charakteristika des orientalischen Märchens vgl. Schwarz, Hans-Günther:

Der Orient und die Ästhetik der Moderne. München: iudicium 2003, insbesondere S. 109.

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Barbara Breysach (Frankfurt an der Oder/Berlin)