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Oszkár Jászis Tagebücher zwischen 1919 und 1923

Problemstellung

„Jeder tiefere Kontinuitäts- und Traditionsbruch kann“, so der Ägypto-loge und Kulturwissenschaftler Jan Assmann in seinem viel beachteten Buch Das kulturelle Gedächtnis, „zur Entstehung von Vergangenheit füh-ren, dann nämlich, wenn nach solchem Bruch ein Neuanfang versucht wird.“1Die Auflösung der Habsburger Monarchie im Jahre 1918, der Untergang einer staatlichen Formation, die Jahrhunderte lang gesell-schaftliches Leben und kulturelles Bewusstsein der Völker in diesem Machtbereich geprägt hatte, war zweifelsohne ein solch tiefer Riss, der bereits in den unmittelbaren Nachfolgejahren zahlreiche wissenschaftli-che Analysen des historiswissenschaftli-chen Geswissenschaftli-chehens zeitigte. Eine der ersten unter diesen zeitgenössischen Darstellungen legte unter dem Titel Die Auflösung der Habsburger Monarchie der in Ungarn im ersten Drittel des Jahrhunderts hoch angesehene ungarische Soziologe, Politiker und Publizist Oszkár Jászi (1875–1957) vor, der vor allem die massenpsycho-logischen Ursachen dieses historischen Vorgangs freilegen wollte. Jászis Buch, das ihn auch über Europa hinaus bekannt gemacht hat und heute noch als Standardwerk zum Thema gilt, entstand nach der 1926 erfolg-ten endgültigen Übersiedlung des Verfassers in die Vereinigerfolg-ten Staaerfolg-ten.

Nach nur dreijähriger intensiver Forschungsarbeit erschien es zuerst 1929 in englischer Übersetzung.2 Die Publikation des ungarischen Originalmanuskripts erfolgte mit großer Verspätung 19823, der Autor hatte sie nicht mehr erlebt.

Das Erkenntnisinteresse des vorliegenden Beitrags richtet sich jedoch nicht auf diese wissenschaftliche Analyse. Auf der Grundlage der zwischen 1919 und 1923 in Wien entstandenen und erst vor wenigen Jahren edierten Tagebücher Jászis sollte vielmehr danach gefragt werden, wie dieser den historischen Bruch zwischen 1919 und 1923 erlebt, auf welche Art und Weise er versucht, seine durch den Wandel erschütterte Identität mittels Rückgriff auf die Vergangenheit und Verschriftlichung

seiner Erlebnisse im Tagebuch zu stabilisieren bzw. allmählich neue, den veränderten Verhältnissen angepasste Identitäten aufzubauen. Zum Tagebuch als autobiographischer Gattung hat Arno Dusini vor kurzem eine grundlegende, die einschlägige Forschung kritisch bilanzierende Untersuchung vorgelegt, der dieser Beitrag methodisch verpflichtet ist.

Die zusammenfassende Bestimmung der Spezifik des Tagebuchs lautet dort: „Das Tagebuch beantwortet die Frage danach, was der einzelne Mensch unter der Bedingung der täglichen Wahrnehmung seiner Zeit sein, denken und tun könne.“4

Der Tagebuchschreiber

Zugegeben, zunächst war es der aktuelle Anlass einer Konferenz an der Universität Partium, der die Entscheidung nahe legte, das umfassende Thema Autobiographisches Schreiben als Identitätssuche in den frühen zwanziger Jahren, das mich seit längerem beschäftigt, hier gerade am Beispiel Oszkár Jászis zu behandeln. Denn Jászi, einer der Hauptvertreter der ungarischen bürgerlichen Opposition am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, stammte aus dem Partium. Seine Heimatstadt Carei/Nagykároly liegt nicht weit von unserem Tagungsort Oradea/Nagyvárad entfernt. Wie tief er in dieser Landschaft verwurzelt war, wie sehr diese seine Persönlichkeit geprägt hat, verrät ein Tagebuch-Notat vom 3. August 1923, also aus der Zeit der Emigration in Wien, wohin Jászi 1919, nach dem Scheitern der Asternrevolution, geflohen war.

Nagykároly, den 2. Juni 1923

Am Abend in der Stadt. Unsere Straße heißt jetzt Strada Avram Jancu. Das Haus nicht wiederzuerkennen. Auch der Garten und der Hof nicht.

Freundliches und verständnisvolles Interesse seitens des jetzigen Besitzers und dessen Frau. Die Schönheit der Stadt. Das östliche Pathos des großen Marktes. Das Károlyi-Schloss ist jetzt Sanatorium. Die Umgebung der jüdi-schen Kirche Ghetto ähnlicher denn je. Die Stille in der reformierten Kirche.

Mich überkamen viele alte Erinnerungen – und machten mich traurig.5 Die zitierte Eintragung entstand im Kontext einer vom Exilort Wien aus unternommenen Reise durch das nach dem Vertrag von Trianon entstandene Rumänien (mit den Stationen Cluj, Bucureºti, Cluj, Târgu Antonia Opitz

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Mureº, Oradea, Arad, Cluj, Carei), wo Jászi – ein unermüdlicher Kämpfer für ein friedliches Miteinander der Nationalitäten – die Situa-tion der ungarischen Bevölkerung studieren wollte, und in zahlreichen Gesprächen mit befreundeten rumänischen Politikern, Intellektuellen und Freunden für seine, der neuen historischen Situation entsprechen-de Ientsprechen-dee eines Kulturbündnisses unter entsprechen-den Donau-Völkern warb.

Für die Wahl der Jászi-Tagebücher als Vortragsthema war jedoch ein weiterer, gewichtigerer Grund als seine Abstammung aus dieser Gegend ausschlaggebend. Die kulturwissenschaftlich akzentuierte Fragestellung Das Tagebuch als Medium der Identitätssuche nach der Auflösung der Habsburger Monarchielässt sich an seinem Beispiel nämlich deshalb mit besonderem Gewinn entwickeln, weil der Soziologe Jászi die Konsequen-zen eines solchen historischen Bruchs für die an diesem beteiligten Menschen im Blick hatte und über das Problem im Tagebuch ständig reflektierte. „Ich habe mich an die Erarbeitung einer Soziologie der gesellschaftlichen Auflösung gemacht“, meldet das Tagebuch ganz am Anfang des Wiener Aufenthaltes, am 19. Mai 1919.6Auch die ganz per-sönlichen, individuellen Schicksale der mit ihm verbundenen Menschen werden von ihm konsequent unter diesem Gesichtspunkt bewertet.

Stellvertretend für viele ähnliche Einschätzungen soll ein Ausschnitt aus dem Tagebuchkommentar zum im Herbst 1929 erfolgten Selbstmord des mit Jászi einst eng befreundeten Soziologen Bódog Somló belegen:

Sehr schade um ihn. Offenbar hat er die Qualen der gesellschaftlichen Auf-lösung nicht ausgehalten. Er hat sich den Weißen zur Verfügung gestellt, die ganze Atmosphäre hat ihn jedoch in die Verzweiflung getrieben.7

Oszkár Jászi gehörte zu einer Generation junger ungarischer Intellektueller, die sich um die 1900 gegründete Zeitschrift Huszadik Század[Zwanzigstes Jahrhundert] und in der ein Jahr später entstandenen Társadalomtudományi Társaság [Gesellschaft für Gesellschaftswissenschaften] gruppierte, und deren erklärtes Anliegen es war, gesellschaftliche Probleme wissenschaftlich exakt, positivistisch zu untersuchen und die als notwendig erkannten poli-tischen Veränderungen ausschließlich auf der Grundlage rationaler Er-kenntnis friedlich einzuleiten. Aus diesem Kreis, in dem Jászi von Anfang an als einer der führenden Köpfe beteiligt war, ging um 1905 auch die Gruppe bürgerlich-oppositioneller Politiker hervor, die auf

parlamentari-Auf der Suche nach alten und neuen Identitäten

schem Wege Reformen durchsetzen wollten: Ziel war die Umwandlung Ungarns in eine moderne Demokratie. Aus ihr rekrutierte sich später zum großen Teil auch die Führungsmannschaft der bürgerlichen Revo-lution, die erste demokratische Regierung unter dem Grafen Michael Károlyi. Eine gewaltsame, nicht durch Vernunft kontrollierte Lösung gesellschaftlicher Fragen, wie sie die Radikalisierung der Ereignisse unter dem Druck der kriegsmüden und verzweifelten Massen darstellte und zur stufenweisen Verlagerung der Macht in die Hände der Kom-munisten führte, widersprach zutiefst Jászis denkerischem und morali-schem Habitus. Von der politischen Entwicklung angewidert, trat er vor allem deshalb Anfang Januar 1919 von seinem Ministeramt zurück und verließ wenige Monate später, lange vor dem Ende der Rätemacht, seine Heimat. Es war sein persönliches Unglück, dass seine auch sonst, durch gegenseitige Untreue gefährdete Ehe, aus der zwei Söhne hervor-gingen, unter dem Druck der historischen Vorgänge endgültig zer-brach. Zwar war seine Frau, die Dichterin Anna Lesznai, selbst keine Kommunistin, sympathisierte jedoch mit der Sonntagsgesellschaft und deren kommunistischen Mitgliedern Georg Lukács und Béla Balázs.

Sätze wie die folgenden, in denen sich Jászis unversöhnliche, weil philosophisch fundierte Abneigung gegen Kommunisten und Kommunismus artikulieren, durchziehen leitmotivisch den gesamten Tagebuchtext: „Ich empfinde es als unerträglich, dass M.-s8 Freundes-kreis Mitglieder einer Gesellschaft bilden, deren seelisch-moralische Defekte ich instinktiv immer gefühlt habe.“9

Als Jászi am 1. Mai 1919 vom Budapester Ostbahnhof aus die Reise nach Wien antrat, brach seine politische und wissenschaftliche Karriere auf dem Höhepunkt ab. Mit dreiundvierzig Jahren zerfielen all seine bis dahin erworbenen personalen Identitäten, die Identität als Vorstand einer Familie („mein Herd ist zerschlagen“10, notiert er die beziehungsreiche Metapher im Tagebuch) ebenso wie die im Rahmen einer wissenschaft-lichen Gemeinschaft oder politischen Gruppierung. An jenem Maitag war noch nicht abzusehen, dass die Trennung von der Heimat mehre Jahr-zehnte dauern wird, dass es also zugleich auch um den endgültigen Verlust aller alten sozialen Bindungen sowie um ein Herausfallen aus der nationalen Gemeinschaft ging. In den darauf folgenden viereinhalb Jahren lernte dann der Wiener Emigrant erkennen – und dieser Prozess bildet den inhaltlichen Kern seines Tagebuchs – dass all seine bisherigen Antonia Opitz

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