• Nem Talált Eredményt

Noémi Kordics (Großwardein) Die ungarische Rilke-Rezeption

2. Systemreferenzen im Gedicht Todesfuge

Die notwendige Differenzierung zwischen Musikalischem und Musikähnlichkem ist bei dieser Analyse unentbehrlich. Das eigentlich Musikalische, das hier als Prototyp fungiert, ist das Kompositionsschema der Fuge:

Andrea Benedek

Die Fuge (lat. und ital. fuga, frz. und engl. fugue), ist die letztentwickelte Kunstform des kontrapunktischen Stils. Ein prägnantes Thema, das nachah-mend in allen Stimmen eingeführt wird, durchläuft weiterhin dieselben abwechselnd, so daß jeweils die thementragende Stimme zur Hauptstimme wird. Das zunächst von einer Stimme in der Haupttonart vorgetragene Thema trägt den besonderen Namen „Führer“ (lat. dux, frz. sujet, ital. guida, proposta). Es wird beantwortet durch eine neu einsetzende Stimme in der Quint oder Unterquart, den „Gefährten“ (lat. comes, frz. reponse, ital. ripo-sta); die dritte Stimme setzt (bei Vierstimmigkeit der Fuge) meist wieder mit dem Führer, die vierte mit dem Gefährten ein. Die Schichtung der Einsätze, ob von unten nach oben und umgekehrt oder von den inneren Stimme aus, ist dem Komponisten freigestellt. Dagegen ist er an die Regel der „tonalen Beantwortung“ gebunden. Um zunächst innerhalb der Tonart zu bleiben, soll der Grundton der Tonart mit der Quint, die Quint aber (sofern sie für das Thema konstitutiv ist) mit dem Grundton beantwortet werden. Der Beantwortung im Comes stellt der Dux einen Gegensatz (Kontrapunkt, Kontrasubjekt) gegenüber. Dieser Gegensatz ist also zugleich die Fortspinnung des Themas und seine Kontrapunktierung. Seine Stellung bald über, bald unter dem Thema fordert Ausarbeitung im doppelten Kontrapunkt.

In größeren Fugen kann auch ein weiterer Gegensatz auftreten. Mit dem Durchgang des Themas durch alle Stimmen ist die erste „Durchführung“

und meist auch der erste Teil der Fuge beendet […]Die Durchführungsordnung entspricht der des 1. Teils, kann aber auch unvollständig sein. Im 3.Teil besonders ist die „Engführung“ am Platz. Sie entsteht, wenn eine Stimme mit dem Thema einsetzt, bevor es in der vorhergehenden zu Ende gebracht ist. Die Möglichkeit der Engführung hängt vom Bau des Themas ab […] Zu den Mitteln der Fugengestaltung gehören außer der Engführung die Vergrößerung und die Verkleinerung des Themas (Verlängerung bzw.

Verkürzung der Notenwerte), sowie die Versetzung des Themas in die Gegenbewegung.31

Die Übernahme der Musikfuge in die Literatur ist nach Horst Petri32 aus zwei zentralen Gründen schwierig. Die erste Schwierigkeit einer solchen Übernahme liegt nach ihm im statischen Charakter des Themas einer Musikfuge, welche sich nur schwer in den Text integrieren lässt, ohne das Gefühl des Müdewerdens hervorzurufen.33

Intermediale Systemreferenzen zur Musik bei Paul Celan Petris Beweggrund für die Analyse des Gedichts im Vergleich zur musikalischen Fuge war nicht die Tatsache, dass es dem äußeren Konstruktionsschema einer musikalischen Fuge genüge, sondern um das der Fuge immanente statische Prinzip offenzulegen.34 Das der musikalischen Fuge immanente statische Prinzip bedeutet, dass sich das darin enthaltene Thema nicht entwickelt, sondern in verschiedenen Stimmen in unverän-derter Weise erscheint.35 Evidenz für diese Feststellung liefern nach Petri die verschiedenen Bilder, die Celan zunächst aneinander reiht. Diese Metaphern werden im Gedicht statisch beibehalten (insbesondere spürbar wird dies im Wir-Thema). Dabei erscheinen sie im Laufe des Gedichts entweder unverändert oder ineinandergeschoben. Die auftretenden neuen Motive (z.B.: der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau) bewirken wiederum keine dynamische Fortentwicklung, da sie jeweils in das stati-sche Umfeld des Gedichts miteinbezogen werden.

Die zweite Schwierigkeit bei der Übernahme der Musikfuge in die Literatur läge nach Petri in der Polyphonie:

Die besondere Schwierigkeit, das Fugenprinzip in der Literatur zu verwen-den, besteht darin, daß die Fuge ein notwendig polyphones Gebilde ist, dessen Sinn nicht nur in der horizontalen Gliederung, sondern auch in der vertikalen zu suchen ist. Eine solche Verklammerung erscheint jedoch zunächst für die Literatur wesensfremd.36

Lech Kolago (1997)37 und Andreas Sichelstiehl (2004)38 hingegen gelang es, musikalische Polyphonie und Kontrapunkt als teilaktualisierende System-kontaminationen in diesem Text zu erkennen.

Die Imitation der Polyphonie wird nach ihnen durch den Wechsel zwischen mindestens zwei als zusammengehörig empfundenen Bereichen spürbar. Die Illusion der Vielstimmigkeit ergibt sich aus dem Wechsel des Wir- und Er-Themas, aus denen sich das Gedicht zusammensetzt. Sie wer-den aber nicht primär als Bestandteil der Themen (im Sinne von Petri) be-trachtet, sondern als Kennzeichen zweier Stimmen im musikalischen Sinn.

Dadurch können die folgenden Ähnlichkeiten zu einer vereinfachten Fugenkonstruktion (d.h. das Prinzip der Imitation von Dux-Comes ohne die Quart-Quint) festgestellt werden. Eine Fuge beginnt, wie das Zitat am Anfang dieses Unterkapitels zeigt, mit der Exposition der Stimmen. Die erste Stimme trägt das prägnante, kurze Thema, den Dux39 vor. Diesen

Andrea Benedek

Themeneinsatz findet man in den Zeilen 1 bis 4, die Wir-Stimme der Opfer des Holocaust. Hierzu gesellt sich eine zweite Stimme, die das Thema nun als Comes40 vorträgt. Es handelt sich um die Er-Stimme, wel-che inhaltlich als Kontrasubjekt in den Zeilen 5 bis 9 erswel-cheint. Ein dem musikalischen Kontrapunkt entsprechender Gegensatz wird auf der Inhaltsebene des Textes hergestellt. Diese anfängliche Gegenüberstellung dient im weiteren Verlauf des Gedichts zur Illusion einer polyphon-kon-trapunktischen Form, welche jedoch auf der linearen Ebene des Textes verwirklicht wird. Die inhaltlichen Bestandteile, die diesen beiden Stimmen zugeordnet sind, werden im weiteren Verlauf des Textes verschränkt.

Durch diese Verschränkung fließen die beiden Stimmen ineinander, wobei sie neue Einheiten bilden. Sie erklingen in der gleichen Zeit, d. h. mit Sichelstiehl: „Der Wechsel zwischen Elementen aus den kontrastierend wahrgenommenen Bereichen kann so die sinnliche Wahrnehmung, die sich beim Hören eines polyphonischen musikalischen Werkes ergibt, simulieren.“41

Bei der Untersuchung der Realisierungsmöglichkeiten der Polyphonie innerhalb der Todesfuge tritt ein wichtiger Gedanke in den Vordergrund, nämlich dass Sichestiehl jede Imitation einer musikalischen Form inner-halb eines literarischen Werkes in Anlehnung an Wolfgang Iser als Bestandteil eines Kommunikationsaktes sieht, der vom Autor ausgehend über den (literarischen) Text mit dem Leser stattfindet.42 Sichelstiehl stellt eine These in Anlehnung an Iser auf, welche einen der von Petri43 als Hauptschwierigkeit bezeichneten Aspekt klärt.

Nach Iser bewege sich der Leser als wandernder Blickpunkt durch das Buch und rekonstruiere es in der Abfolge seiner Synthesen. Das lesen-de Bewusstsein folge lesen-dem Text und entwickle immer wielesen-der Erwartungen für den Fortgang des Gelesenen (Protention), während es gleichzeitig soeben Gelesenes in Erinnerung behielte (Retention).44 Sichelstiehl deutet darauf hin, dass die zeitlich nacheinander geordneten Stimmen (während des Leseaktes) nach Isers Modell des wandernden Blickpunkts in ein Nebeneinander treten. Die Polyphonie würde eben durch die verräum-lichte Gleichzeitigkeit beider Themen und durch ihre inhaltliche Antithese erreicht.45 Ein Vorteil ist dabei, dass es sich hier um ein Gedicht handelt.

In der Prosa würde der Leser den Wechsel von Stimmen schwerer wahr-nehmen. Im Gedicht findet der Wechsel in einem engeren Raum statt und ermöglicht somit die Wahrnehmung innerhalb eines relativ begrenzten

Intermediale Systemreferenzen zur Musik bei Paul Celan Lesemoments (etwa innerhalb einer Zeile). Dies ergäbe eine sinnliche Wahrnehmung, welche der der Musik ähnle. Sichelstiehls Fazit lautet also zusammenfassend folgenderweise: der Wechsel zwischen den beiden Einheiten, der zwar eine grundlegend horizontale Gestaltung nicht auf-hebt, führt jedoch im Bewusstseinskorrelat des Lesers zu einem räumlichen Nebeneinander dieser Einheiten.

Die rasche Aufeinanderfolge der Stimmen gegen Ende des Gedichts46 erzeugt eine weitere teilaktualisierende Systemkontamination: einen der musikalischen Engführung entsprechenden Effekt. Die Engführung bezeichnet in der Fuge Stimmeneinsätze, welche gewöhnlich kurz vor dem Schluss auftreten. Sie erfolgen zeitlich verkürzt, so dass das Thema noch nicht beendet ist, während es in der nächsten Stimme bereits ein-setzt. Das polyphone und kontrapunktische Element kommt somit in den beiden letzten Verszeilen am prägnantesten zum Ausdruck, wo die zwei Motive beider Themen unmittelbar nacheinander in den Kurzzeilen erscheinen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Systemkontamination qua Transposition, die – im Gegensatz zum das System erwähnenden und evozierenden Titel – über eine illusionsbildende Qualität verfügt, zahlreiche Analogien zur musikalischen Fuge verwirklichen kann. Sie stellt hier die Gesamtheit unterschiedlichster Techniken, die von vielfältigen metrischen und stilistischen Mitteln bis hin zu denen der Intertextualität reichen.

Durch diese Verfahren entsteht der Als-Ob-Charakter, welcher an die Hauptmerkmale eines altermedialen Subsystems schließen lässt. Wichtig ist dabei, dass der intermedialen Analyse des Textes kein übliches Fugenschema zu Grunde gelegt werden kann oder darf, oder mit Petri, dass erst die Reduktion des Fugenschemas die analoge literarische Anwendung der Fuge möglich mache.47

3. Systemreferenzielle Bezüge zur Musik im Gedicht Engführung