• Nem Talált Eredményt

Noémi Kordics (Großwardein) Die ungarische Rilke-Rezeption

1. Intermediale Systemreferenz

Kern und Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchungen bildet eine Systematisierung der Bezugnahmen auf Musikalisches von Celan, die von Jens Finckha (2008)1 skizziert wird. Er unterscheidet drei Formen der Bezugnahme auf Musikalisches, die in den Gedichten von Paul Celan auf-gezeigt werden können: musikalische Motivik, intermediale Einzelwerk-referenz und intermediale SystemEinzelwerk-referenz.2

Unter Systemreferenz wird bei Finckh die Übertragung musikalischer Formen auf die Struktur des jeweiligen literarischen Textes verstanden.3 Diese Kategorie findet man auch in der Systematisierung von Irina O.

Rajewsky (2002)4, die den Bereich der intermedialen Bezüge in weitere Subkategorien aufteilt. Sie spricht neben Einzelreferenz, d. h. Verfahren der Bedeutungskonstitution eines medialen Produkts durch Bezugnahme auf ein Produkt, auch über Systemreferenz.5 Unter letzterer versteht sie die Bezugnahme eines medialen Produkts mit den eigenen Mitteln auf ein anderes semiotisches System eines konventionell als distinkt wahrgenom-menen Mediums.

Systemreferenzen reichen nach Rajewskys Einteilung vom bloßen Erwähnen eines fremdmedialen Bezugsystems über die Reproduktion bestimmter Elemente und/oder Strukturen des Bezugssystems bis hin zur durchgehenden Konstitution eines Textes in Relation zu diesem.

Demnach unterscheidet Rajewsky zwei Arten intermedialer System-referenz: intermediale Systemerwähnung und Systemkontamination.6

Bei ersterer wird ein fremdmediales System punktuell und vor dem Hintergrund des zur Texterzeugung verwendeten Systems erwähnt (d. h.

direkt thematisiert oder indirekt aufgerufen bzw. evoziert)“.7 Dies kann auf zwei Arten geschehen: einerseits durch explizite Systemerwähnung und andererseits durch Systemerwähnung qua Transposition. Bei der expliziten Systemerwähnung kommt keine fremd- bzw. altermedial bezo-gene Illusionsbildung zustande.

Andrea Benedek

Im Gesamtwerk Celans gibt es eine Reihe von Gedichten, die klan-gassoziative Titel tragen. Musikalisierte Titel sind beispielsweise Corona8, welcher auf die metrisch-freie Ausführung der Fermate in der Musik anspielt, Cello-Einsatz9, welcher auf den Einsatz des Solo-Cellos im lang-samen Satz, Adagio ma non troppo10 rekurriert, Notturno11, dessen Titel an spezifische Charakterstücke12 erinnert, oder Largo13, was im Fachwortschatz der Musik ein langsames Tempo indiziert.

Aus dieser Reihe hebt Finckh jedoch nur Todesfuge14 und Engführung15 hervor, die in Celans Werk durch ihr Verhältnis zur Musik eine Sonderstellung einnehmen. Diese Unterklasse der Systemreferenz (d.h. die explizite Systemerwähnung) mag aus formaler oder verfahrenstechnischer Sicht zu Recht nicht als genuin intermedial betrachtet werden. Die Relevanz beider Titel liegt jedoch in ihrer marker-Funktion, d.h. in der Tatsache, dass sie als Signal oder Markierung weiterer intermedialer Bezüge im Laufe des Gedichts dienen werden. Den expliziten Systemerwähnungen ist nämlich die Markierung der Bezugnahme inhärent. So Rajewsky:

Systemerwähnungen dieses Typs werden für die Untersuchung intermedialer Bezüge aus formaler Sicht vor allem als Indikatoren des Bezugsystems eines Textes und als Markierungen solcher Bezüge relevant, die anderweitig nicht klar erfaß- und nachweisbar und/oder nicht eindeutig auf ein bestimmtes System zu beziehen wären.16

In beiden Fällen eröffnen sie den Schauplatz weiterer intermedialer Phänomene: Einzelwerkreferenzen und Systemreferenzen verschiedener Art, denen im Folgenden nachgegangen wird.

Beide Texte enthalten mehrere, die intermediale Systemreferenz unterstützende Einzelwerkreferenzen: Im Gedicht Todesfuge gibt es Anspielungen auf Bachs Kunst der Fuge sowie dessen Arie Komm süßer Tod, auf eine Arie aus Puccinis Tosca, E lucevan le stelle, auf Wagners Meistersinger von Nürnberg, aber auch auf den trivialen Schlager Heimat, deine Sterne.17 Dem Gedicht Engführung liegen Brahms’ Deutsches Requiem18 und Schönbergs Survivor from Warsaw zugrunde.19

Der Systemerwähnung qua Transposition liegt im Gegensatz zur Erwähnung eine illusionsbildende Qualität zu Grunde,20 bei welcher die scheinhafte Form des Als Ob zur Basis des Rekursverfahrens wird.21 Diese beiden Termini deuten auf einen wichtigen Aspekt hin: Jörg Helbigs

Intermediale Systemreferenzen zur Musik bei Paul Celan (2001)22 Definition der Intermedialität, wo als zentrales Definitionskriterium die Tatsache gilt, dass ein Wechsel des Zeichensystems nicht vollzogen wird, erweist sich hier als wesentlich: „Verweis eines präsenten (und daher dominanten) Mediums auf ein absentes (nicht-dominantes) bezeichnetes Medium unter ausschließlicher Verwendung des Zeicheninventars des bezeichnenden Mediums.“23

Erinnert werden soll an dieser Stelle auch an Schers (1984)24 Kategorie Musik in der Literatur. Was die vergleichenden Untersuchungen zwischen Dichtung und Musik anbelangt, unterscheidet er nämlich zwi-schen drei voneinander klar abgrenzbaren Hauptbereichen: Musik und Literatur, Literatur in der Musik und Musik in der Literatur. Der dritte Bereich des Wechselverhältnisses ist der einzige der drei Hauptbereiche, der ausschließlich das literarische Medium zum Forschungsgegenstand hat. Unter Musikalität wird hier nicht das eigentlich Musikalische, sondern die Musikähnlichkeit verstanden. So Scher:

Das eigentlich Musikalische ist in diesen Werken einfach nicht vorhanden und kann auch durch sprachliche Mittel und literarische Techniken nur impliziert, evoziert, imitiert oder sonst mittelbar approximiert werden.25 Rajewsky (2003)26 versteht unter dem Als-Ob-Charakter der System-erwähnung qua Transposition dasselbe Phänomen:

Ein Text kann zwar mit seinen Mitteln medienspezifische Komponenten eines fremdmedialen Bezugssystems nicht reproduzieren; die traditionsrei-che Rede von der filmistraditionsrei-chen Schreibweise, von der Musikalisierung der Literatur und ähnlichen Phänomenen weist jedoch darauf hin, daß er [der Text] sehr wohl in der Lage ist, eine Rezeptionslenkung und Illusionsbildung hervorzu-rufen, die dazu führen, daß bestimmte Textelemente und/oder –strukturen vom Leser als altermediale – d.h. filmische, televisuelle, musikalische usw. – oder zumindest als dem Bezugssystem analoge rezipiert werden.27

Die Transposition kann nach Rajewsky wiederum durch verschiedene Realisationsverfahren verwirklicht werden: durch Evozierung, Simulierung und schließlich durch die (Teil-) Reproduktion. Beim Rezipienten werden hier durch suggestive Elemente bestimmte fremdmediale Erfahrungen herausgelöst: im Falle der evozierenden Systemerwähnung wird dies

vor-Andrea Benedek

wiegend über Vergleiche und Metaphorik, der simulierenden System-erwähnung über die Suggestion einer fremdmedialen Erfahrung mit Mitteln der Sprache und bei der (teil-) reproduzierenden Systemerwähnung durch die Modifizierung des sprachlichen Systems nach Regeln des Fremdmediums erreicht.

Die Systemkontamination, ein Verfahren, das als intermediale Variante der intramedialen Systemaktualisierung gilt, ist nach Rajewsky der zweite Grundtypus systemreferenzieller Bezüge. Bei der intramedialen Systemaktualisierung, wo ein bestimmtes System zur Textkonstitution verwendet wird, gibt es keine Differenz zwischen den beiden Systemen.

Im Gegensatz dazu kann der Terminus „Aktualisierung“ in der interme-dialen Variante des Verfahrens nicht mehr gebraucht werden.

Zwischen den Medien Musik und Sprache, in unserem Fall zwischen der kontaktgebenden Musik und kontaktnehmender Sprache, gibt es näm-lich eine unüberbrückbare mediale Differenz. Dieses Intermedial Gap erlaubt nun nicht mehr, das andere System in genuiner Weise zu verwen-den.28 Die Systemkontamination, die stärkste Variante systemreferenziel-ler Bezüge, bedeutet nach Rajewsky:

nicht einfach die (Teil-)Reproduktion oder Simulation einzelner Elemente und Strukturen, sondern eine, wenn auch systemverschobene, Applikation und Einhaltung von teils präskriptiven, teils restriktiven Regeln des Bezugs-systems.29

Je nach der Stärke dieser Applikation und Einhaltung der Regeln auf ein anderes System wird eine weitere Unterscheidung vorgenommen. Die Systemkontamination qua Translation bedeutet erstens, dass die teils prä-skriptiven, teils restriktiven Regeln des Bezugssystems fremdmediale Regeln nur dem Prinzip nach verfolgt, d. h. in das Fremdmedium „über-setzt“ werden. Die teilaktualisierende Systemkontamination hingegen setzt eine durchgehende Verwendung medial gleicher und/oder medie-nunspezifischer Komponenten voraus.30

Rajewskys bisher besprochene Systematisierung kann durch das fol-gende Schema zusammengefasst werden:

Intermediale Systemreferenzen zur Musik bei Paul Celan

Abb. 1

Systematisierung der Phänomene:

Intra-, Trans- und Intermedialität nach Rajewsky.

aus: Rajewsky, Irina O.: Intermedialität.

Tübingen/Basel: Francke 2002.

Auf die Frage durch welche Verfahren der Als-Ob-Charakter beider Gedichte zur Engführung der musikalischen Fuge verwirklicht wird, um welche systemreferenziellen Bezüge es sich in beiden Fällen handelt, wird im nachfolgenden Teil des vorliegenden Beitrages eine Antwort gesucht.

Todesfuge und Engführung werden nicht nur aufgrund ihrer systemrefe-renziellen Bezüge zur Musik in den Mittelpunkt gestellt. Ein weiteres Ziel ist es, auf das Verhältnis beider Gedichte zueinander hinzuweisen und in ihnen die gemeinsamen und unterschiedlichen Formen der Systemreferenz zu untersuchen.