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Noémi Kordics (Großwardein) Die ungarische Rilke-Rezeption

3. Die Rilke-Rezeption

von Dezső Kosztolányi und Ágnes Nemes Nagy

Die Wirkung von Rilke in der deutschen und in der Weltliteratur ist unbe-streitbar. Auch in der ungarischen Literatur erfreut er sich für einer breiten Rezeption. Um die Rezeption für eine Leserschaft, in unserem Fall für das ungarische Lesepublikum, zugänglich zu machen, benötigt man das Übersetzen als kulturvermittelnde Tätigkeit. Im Folgenden versuche ich die Rezeption des Werkes von Rainer Maria Rilke in der ungarischen Literatur durch Übersetzungen verschiedener ungarischer Dichter, wie Dezső Kosztolányi und Ágnes Nemes Nagy zu schildern. Die beiden Autoren gehörten, zwei aufeinander folgenden, aber verschiedenen Dichtergenerationen an, die eine eigene Weltanschauung und eigene Konzeptionen über die Literatur, und natürlich auch über das Literaturübersetzen hatten. Diese Autoren haben sehr prägnant das Bild von Rainer Maria Rilke in der ungarischen Kultur etabliert. Natürlich zeigen diese Bilder ganz verschiedene Auffassungen von den literarischen und menschlichen Werten Rilkes. Jeder Autor hatte ein eigenes Weltbild,

Die ungarische Rilke-Rezeption aus der Sicht der Übersetzungen und er wählte die für sich selbst aktuelle Idee aus dem Rilkeschen Schaffen aus.

Auch die anderen bedeutenden Vertreter der beiden Dichter-generationen haben sich mit dem Schaffen, mit den Werken von Rilke beschäftigt und haben einige recht gut gelungene Übersetzungen angefer-tigt. Ich habe aber trotzdem die Repräsentanten dieser zwei Gruppierungen gewählt, weil sie nicht nur am Übersetzen der Rilkeschen Texte gearbeitet haben, sondern weil die beiden Übersetzer auch mit bis heute interessan-ten theoretischen Schrifinteressan-ten die Rezeption Rilkes geprägt haben.

Aus dieser Perspektive erweist sich Kosztolányis im Jahre 1909 in der Zeitschrift Nyugat veröffentlichter langer Aufsatz mit dem Titel Rilke als zentral. Der Essay ist in fünf Kapitel aufgeteilt: Er und die Dinge, Der Gott, Ein Gedicht, Metaphysik der Gefühle, Der Dichter und der Künstler. Jedes Kapitel beschäftigt sich mit den Grundproblemen des Rilkeschen Schaffens. Er sah den Höhepunkt von Rilkes Werk in den beiden Bänden der Neuen Gedichte und machte viele interessante Beobachtungen. In dem fünften Kapitel, mit dem Untertitel Der Dichter und der Künstler, wies er auf die Bedeutung von Rodins Kunst für das dichterische Schaffen Rilkes hin. Mit diesem Aufsatz, der das erste Stück der Rilke-Rezeption in Ungarn ist, hat Kosztolányi ganz wichtige Haupteigenschaften und Themen der Gedichte von Rilke in den Vordergrund gesetzt. Durch die Interpretation bestimm-ter Gedichte hat er dem ungarischen Lesepublikum und den anderen Literaten der Zeit die Werke von Rilke gezeigt und das Interesse an Rilke in Ungarn geweckt. Das so entstandene Rilke-Bild prägte für mehrere Jahrzehnte die Interpretationslandschaft der Werke von Rilke in Ungarn.

Kosztolányi betonte aber nur eine, für ihn wichtige Seite des Rilkeschen Schaffens, nämlich die stimmungshafte Lyrik des Jugendstils, eine Tatsache, die er auch zugibt.

Seine erste Rilke-Nachdichtung, die des Gedichtes Lösch mir die Augen aus aus dem Buch von der Pilgerschaft ist am 7. Juni 1908 in der literarischen Wochenschrift A Hét (Die Woche) erschienen. Einige Monate später, am 28. Februar 1909, schrieb er an Mihály Babits folgendes: „Jetzt schreibe ich im Nyugat eine Studie über Rainer Maria Rilke. Kennst du ihn? Mich interessiert er von allen Lyrikern am meisten. Er würde auch dir neue Sensationen bringen. Lies ihn!“6

Bereits die erste Sammlung von Kosztolányis Gedichtübertragungen, die 1914 unter dem Titel Moderne Dichter erschien, enthielt 18

Rilke-Noémi Kordics

Gedichte. 1921 kam eine zweite, erweiterte Auflage mit 61 Rilke-Gedichten heraus. Ab 1937 hieß die aus dem Nachlass herausgegebene Sammlung Anthologie fremder Dichter und erlebte neue, jeweils mit neu auf-gefundenen Texten vermehrte Auflagen. In der bisher letzten (1988) sind 95 Rilke-Nachdichtungen zu lesen, hauptsächlich aus dem Stundenbuch, aus dem Buch der Bilder und aus den Neuen Gedichten, aber Kosztolányi über-setzte auch das 21. Sonett des Ersten Teils der Sonette an Orpheus, einige aus den nachgelassenen und fünf aus den französischen Gedichten Rilkes.

Nur an die Duineser Elegien wagte er sich nicht heran, denn seine Lebenserfahrungen waren ganz anders als die von Rilke.

Kosztolányis außerordentlich starker Instinkt für das Ästhetische ließ ihn in Rilkes Dichtung die besondere Qualität entdecken, aber er hat die andere gedankliche Dimension dieser Dichtung nicht verstanden. In sei-nem im September 1909 in der Zeitschrift Nyugat erschienenen Essay erkennt zwar Kosztolányi an, dass Rilke den Impressionismus überwun-den, „die verworrene, unruhige Technik der heutigen Verskunst vertieft, in dem Augenblicke Ewiges gefunden hat“7, aber in seiner Rilke-Darstellung sind ebenso wie in seinen Nachdichtungen die verfeinerten Gefühle, „die schwebenden Gesten“8 wichtiger als das Gesetzmäßige, als die „Erfahrungen“, die für Malte die Gedichte waren.

Das Rilke-Bild, das Kosztolányis Nachdichtungen vermitteln, ist eine ins Stimmungshafte verschobene Lyrik, die die straffe gedankliche Struktur der Originale nicht wiederzugeben vermag. Ähnlich sind auch die 25 Nachdichtungen des Herbsttages, sie sind schöne Stimmungsbilder, aber die tragische Spannung des An-dem-Wendepunkt-Stehens ist in ihnen verloren gegangen.

Ágnes Nemes Nagy ist eine Übersetzerin, die eine ganz andere Seite dieses Schaffens betont, und zwar die gedankliche Tiefe der Gedichte. Sie hat, wie auch Kosztolányi, viele Gedichte von Rilke selbst übersetzt.

Wichtig ist, dass sie mit ihrem Aufsatz Rilke-Apfelbaum auch wichtige Interpretationen bestimmter Gedichte geleistet hat, und damit hat sie es geschafft, ihrer Generation ein ganz anderes Rilke-Bild zu zeigen.9 Nemes Nagy, die sich Rilke mit den Erlebnissen ihrer Generation nähert (der zweite Weltkrieg, die Philosophie Heideggers und Sartres), nahm die tie-fen existentiellen Probleme, die sich in Rilkes Dichtung artikulieren, zur Kenntnis, erkannte ihren Misserfolg bei der Übersetzung dieses Gedichtes an und vernichtete ihre Varianten. Die Dichterin hat mit ihren

Rilke-Die ungarische Rilke-Rezeption aus der Sicht der Übersetzungen Übertragungen auch andere, wichtigere Eigenschaften von Rilkes Schaffen betont und der ungarischen Leserschaft gezeigt; solche Töne, die in den Übersetzungen von Kosztolányi nicht so stark oder gar nicht prägnant sind. Das Werk von Nemes Nagy ist durch eine introspektiv-kritische Tätigkeit gekennzeichnet, diese Tätigkeit der Nemes Nagy richtet sich aber nicht ausschließlich auf die dichterische Produktion des Gedichtes, sondern auch auf die Übersetzung. In vielen ihren Essays beschäftigte sie sich mit der Problematik der Übersetzung, der Übersetzbarkeit von litera-rischen Texten.

In ihrem Essay Übersetzen spricht sie über die Isolation der ungari-schen Sprache in Europa. Sie sagt, dass die ungarische Sprache ein „welt-literarischer Tod“ sei. Aber eben dieser weltliterarische Tod führt anderer-seits zu einer ungewohnten Blüte der Übersetzungsliteratur in Ungarn:

„Die Kulturgeschichte kann zwar den Umfang, vielleicht auch die Wichtigkeit der ungarischen Übersetzungsliteratur hinreichend erklären, aber nicht ihr Niveau. […] Es ist etwas geschehen[…], was bei kleinen Völkern öfters der Fall ist:[…] wir haben gelernt, die Nachteile unserer Lage zu nützen. […] Mit dem Ergebnis, dass die produktiven Züge in der ungarischen Übersetzung viel stärker hervortreten, als es bei Übersetzungen gewohnt ist.“10

Nemes Nagy unterscheidet die Tätigkeit des Dichters von der des Übersetzers nicht, sie will diese beiden Tätigkeitsformen nicht trennen.

Der im Jahre 1964 veröffentlichte Band Wanderjahre enthält Übersetzungen von mehr als achtzig Dichtern aus den verschiedenen Epochen und Sprachen, wobei Rilke mit einundvierzig Gedichten am stärksten vertreten ist. Die einundvierzig Rilke-Gedichte der Wanderjahre erscheinen dann 1983 in dem Rilke-Band des Budapester Europa Verlages wieder in der Übersetzung von Nemes Nagy. Sie übersetzt überwiegend den frühen Rilke: fünfzehn Gedichte stammen aus dem Stunden-Buch, vierzehn aus dem Buch der Bilder, dazu kommen sechs Gedichte aus dem Band Neue Gedichte, die Erste Duineser Elegie, das 14. Stück aus dem ersten und das 12.

Stück aus dem zweiten Teil der Sonette an Orpheus und drei Gedichte aus Rilkes Nachlass.

Wie und in welchen Perioden die einundvierzig Rilke-Übersetzungen von Nemes Nagy entstanden sind, erfährt man aus ihrem Essay Verlorene Schlachten.11 Die erste Begegnung mit Rilke liegt weit zurück: mit achtzehn Jahren, also Anfang der vierziger Jahre, nimmt sie zuerst das Buch der Bilder

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in die Hand und fängt sofort an, Rilke zu übersetzen – mit einem schlech-ten Ergebnis, wie sie es selbst einsieht. Aber sie hat bei dieser verlorenen Schlacht viel gewonnen, da sie Rilkes Stimme aus einer intimen Nähe kennen gelernt hatte. Es geht dann aber auch noch eine zweite Schlacht verloren, denn selbst mit Übersetzungen, die in einer viel späteren Periode entstanden sind, ist Nemes Nagy nicht vollkommen zufrieden: „Ich hegte den Wunsch, möglichst treu zu übersetzen; dienen wollte ich mit all mei-nen Worten. Und doch habe ich Rilke umgeformt, nach meinem eigemei-nen Rilke-Bilde. Warum gefällt mir denn dieses Bild nicht? Warum bin ich mit ihm unzufrieden? […] Ich bin mit meinen Rilke-Übersetzungen unzufrie-den, wie er Dichter mit den eigenen Gedichten unzufrieden ist. Von innen gesehen bin ich unzufrieden. Von außen gesehen – das ist was anderes. So habe ich auch die zweite Schlacht gegen Rilke verloren. Und habe ich noch viel mehr gewonnen, als beim ersten Mal. Einen sehr hart verdien-ten, nicht mit leichter Hand hingeworfenen Ausdruck meines eigenen Selbst.“12

Nemes Nagy hat die Beziehung zwischen diesen zwei Tätigkeitsformen nicht ohne kompliziertes Aufeinander-Einwirken gesehen: „Ob die Arbeit des Übersetzers und die Arbeit des Dichters aufeinander einwirken?

Selbstverständlich wirken sie aufeinander ein. Nur ist dieses Aufeinander-Einwirken eben nicht einfach. Sie wirken sehr kompliziert, durch Umwege, Missverständnisse (die so wichtig sind), Entfernungen und Neubegegnungen aufeinander ein.“13

In ihren Rilke-Essays versucht Nemes Nagy vor allem, mit zwei weit verbreiten Missverständnissen der ungarischen Rilke-Rezeption aufzuräu-men. Das eine sieht in Rilke nur den ornamentalen Dichter der Sezession, das andere feiert in ihm den stillen und empfindsamen Lyriker der Innerlichkeit.14 Dagegen stellt Nemes Nagy ihr eigenes Rilke-Bild, das

„härter, spröder, bitterer“15 ist. Die zwar verborgene, jedoch wesentliche Modernität Rilkes mag der Grund dafür sei, dass Nemes Nagy den Anschein, Rilke sei ein kulturhistorischer Zeitgenosse der ersten großen Dichtergeneration der Nyugat, zu der Dichter wie Kosztolányi und Árpád Tóth gehörten, nicht gelten lässt. Nemes Nagy hat ein anderes Rilke-Bild in die ungarische Rilke-Rezeption eingeführt, indem sie die tieferen Bedeutungen von Rilkes Schaffen in den Vordergrund gesetzt hat. In ihrem Essay Rilke-Apfelbaum, behauptet sie, dass Rilke mit seiner Dichtung die Perspektiven dafür geöffnet hat, was man moderne Lyrik nennt.

Die ungarische Rilke-Rezeption aus der Sicht der Übersetzungen Nemes Nagy hat natürlich solche Aspekte der Rilkeschen Dichtung her-vorgehoben, die für sich selbst und für die zeitgenössische Lyrik wichtig waren.

Sie hat in den Gedichten von Rilke seinen Drang nach Objektivität, nach Dinglichkeit, nach unpersönlichem Ausdruck hoch geschätzt. Dieser Drang nach Objektivität bei Rilke war sehr wichtig für sie, für das eigene Werk, das sie öfters als objektive Lyrik bezeichnete.16 Sie erblickt in Rilke den Wegbereiter der objektiven, unpersönlichen Strömungen moderner Lyrik. Die größte Leistung dieser Lyrik bestehe darin, das lyrische Ich aus dem Zentrum des Gedichtes herausgehoben und das Gedicht auf diese Weise für die Aufnahme neuer Erfahrungen und Bewusstseinsinhalte geeignet gemacht zu haben.

Nemes Nagy hat in ihrem Essay Abend die Übersetzungspraxis der ersten Dichtergeneration der Zeitschrift Nyugat stark kritisiert Sie meint, dass diese Übersetzungspraxis für die Herausbildung der oben schon erwähnten Missverständnisse der ungarischen Rilke-Rezeption verant-wortlich sei. In dem Essay hat sie ihre Kritik an Kosztolányi geäußert.17 Sie beantwortet die Frage Warum das Übersetzen der Gedichte von Rilke so schwierig sei? zwar nicht, versucht aber, solche Problemstellen aufzuzeigen, die das Übersetzen der Rilkeschen Texte kompliziert machen. Sie behaup-tet, dass die Intellektualisierung der Lyrik bei Rilke sich in der Reimtechnik äußere. „Seine Reime – so Nemes Nagy – tragen die schweren Gesetzmäßigkeiten einer ganzen Welt in sich“.18 Sie versucht in ihren Rilke-Übersetzungen neue Inhalte der Gedichte von Rilke zu zeigen: das Philosophische im Gedicht (z. B. in ihrem Essay mit dem Titel Abend; in diesem Essay gibt sie eigentlich auch eine Interpretation des Gedichtes von Rilke mit dem gleichen Namen), die Benennung und die Aufnahme neuer, bisher unbenannter, moderner Bewusstseinsinhalte in das Gedicht.

Diese neuen Bewusstseinsinhalte blieben für die erste Dichtergeneration der Zeitschrift Nyugat verborgen. Sie suchten in Rilke und propagierten durch ihn ihre eigenen Ideen und Ideale. Die anderen Schichten des Rilkeschen Schaffens sind für die jüngere Dichtergeneration der Zeitschrift Ùj Hold (Neuer Mond) wichtiger geworden. Sie sahen in Rilke den Wegbereiter neuerer Tendenzen der spätmodernen Lyrik.

Die Frage, welche literarische Gruppierung eine richtige Übersetzung der Gedichte von Rilke geleistet hat, lässt sich nur schwer beantworten.

Ob die Gedichtübertragungen einer Gruppe schlecht sind oder die

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Übersetzungen der anderen Gruppe gute Übersetzungen sind, kann man nicht feststellen. Es gibt keine gute oder schlechte Übersetzung. Jede Rilke-Übersetzung vermittelt ein anderes Rilke-Bild in die ungarische Kultur. Jede Übersetzung sei im Prinzip, laut Gadamer, eine Interpretation.19 Der Gedanke, dass die Übersetzung dazu dient, einen Text für eine bestimmte Adressatengruppe verstehbarer als das Original zu machen, führt unmittelbar die Tatsache vor Augen, dass Übersetzen ein zutiefst hermeneutischer Prozess ist. Jede Übersetzung hat zugleich den Anspruch, eine Interpretation in diesem Sinne zu sein.