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1 Einleitung

1.3 Passagen und Quellen

Das vorangestellte Zitat dieses Kapitels ist in den Sockel eines Denkmals graviert, welches im spanischen Grenzort Portbou an den Tod des Philosophen Walter Benjamin (1892-1940) erinnert. Der Künstler Dani Karavan (*1930) nannte das Werk Passagen73 und nahm damit nicht nur Bezug zu Benjamins Leben und Werk, sondern auch metaphorisch zu Raum und Zeit, in denen Bewegungen die in Verbindung stehen stattfinden. Benjamin strebte selbst im unvollendeten Passagen-Werk eine materialistische Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts an, welche aber fragmentarisch bleiben sollte. Der Situation des Exils und der Verfolgung durch die Nationalsozialisten war es geschuldet, dass der Philosoph selbst anonym, an einer nicht gekennzeichneten

72 Foucault, Michel. Andere Räume, In Escher, Anton/ Petermann, Sandra. Raum und Ort, 2016, S. 123-130, hier S. 125.

73 Das Denkmal wurde im Mai 1994 inauguriert, Vgl. Homepage, URL http://walterbenjaminportbou.cat/en/content/lobra [08.06.16].

Stelle auf dem christlichen Friedhof in Portbou beigesetzt wurde, wo seit 1979 eine Plakette an den Verstorbenen erinnert und seit 1994 die Passagen-Konstruktion den Weg von der Küste zum Friedhof leitet. “Solche Denkmäler eines nicht mehr seins sind Passagen. Und die Kraft die in ihnen arbeitet, ist die Dialektik.74” Ein Durchgang oder ein Auszug, in dem sich das Sein spiegelt, welches nicht mehr ist. Vielfach mussten im östlichen Mitteleuropa und speziell auch in der Bukowina nach den Weltkriegen, Gewaltexzessen und Vertreibungen des 20. Jahrhunderts Passagen überwunden werden, bevor Friedhöfe, Denkmäler und Gedächtnis zusammenfinden konnten, um so wieder strukturierte öffentliche sowie andere Räume zu kreieren. So sind es die Übergänge und Wege, die überwunden werden mussten, bis die historischen Konstruktionen vollends wirksam werden konnten, denn ohne die Namenlosen ist Erinnerung nur fragmentarisch.

Und ohne Erinnerungsorte fehlt es der Gesellschaft an Verankerung, welche das Vergangene für die Gegenwart sinnhaft macht. Die Strukturen einer Stadt drücken eine Unmittelbarkeit aus, welche durch Steine und gebaute Strukturen den Raum einnehmen und bestimmen. Gezielte Eingriffe und Veränderungen fügen diesem Konstrukt weitere Ebenen hinzu. So sind Denkmäler, Straßennamen und Platzgestaltung nachträgliche Eingriffe, die Erinnerungen vermitteln und Aussagen über ein kollektives Selbstverständnis zulassen. Dabei werden Quellen erzeugt, mit denen die Kulturgeschichte historisches Wissen analytisch erfassen kann. Dabei kann der grundlegenden Unterscheidung der Quellen nach Gustav Droysen, der im 19. Jahrhundert in der Historik Quellen in unterschiedliche Kategorien zusammenfasste und dabei auch den sogenannten “Überresten” eine Bedeutung beimaß.75 Diese Kategorien wurden vielfach umbenannt, behielten aber ihre Bedeutung in der historischen Wissenschaft.

Auch der Historiker Raul Hilberg verweist bezüglich den Quellen des Holocaust darauf, wobei “zeitgenössische Schriftstücke ‘Dokumente’ und die Erinnerungen ‘Zeugnisse’

genannt” werden.76 Dies ist vor allem für Wortquellen zutreffend. Hinsichtlich der Dinge

74 Thiedemann, Rolf, Hrsg. Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, 1991, Bd. 5, S. 1001.

75 Vgl. Droysen. Gustav. Grundriss der Historik, 1882.

76 Hilberg, Raul. Die Quellen des Holocaust. Entschlüsseln und Interpretieren, S. 21.

als Quellen kann die Unterscheidung der Mittelbarkeit und des Entstehungszusammenhanges auch bedeutsam sein. Die Strukturen einer Stadt werden als Dokumente gelesen und die “Erinnerungen” welche in Form von Gedenksteinen darin positioniert werden, als Zeugnisse. Verschiedene Wortquellen werden in die Analyse eingebunden werden. Diese sind zeitgenössische Dokumente der journalistischen Berichterstattung, der allgemeinen Statistiken, aber auch archivierter Schriftverkehr des Landtages, der städtischen Verwaltungen und Behörden. Hinzu kommen nachträgliche Zeugnisse - in schriftlicher wie in materieller Form. Archivmaterialien sind zuweilen lückenhaft in ihrer Anlage, Aufbewahrung und/ oder Sortierung und stellen nach wie vor eine Herausforderung dar, insbesondere für ausländische Forscher_innen.77 Die Vielfalt der Quellen ergibt sich aus dem Gegenstand, der thematisch zwischen Alltags- und Kulturgeschichte, Städte- und Siedlungsgeschichte und nicht zuletzt die sich überlagernden Nationalgeschichten und Ideologien, wie auch aus den oben angegebenen Beispielen zum Themenfeld deutlich wurde. Auch das “Veto der Quellen” (Koselleck), wenngleich schon lang relativiert, kann nur bedingt Klarheit verschaffen, da die Archive als Speicherorte ebenfalls Teil der allgemeinen Umbrüche waren. Informationen, die dort noch aufbewahrt oder wiederentdeckt werden, bedürfen einer Deutung. “Die Institution des Archivs ist deshalb Teil des kulturellen Gedächtnisses, jedoch nicht in ihrer aktiven Dimension der Erinnerung, sondern in ihrer passiven Dimension der Latenz und des reinen Speicherns.78” Doch steckt bereits im Speichern und/ oder Vergessen der Wille zu gesellschaftlicher Gestaltung. Zuweilen sind die offensichtlichen Bruchlinien auch Forschungs-Hindernisse, da jedem politischen System eigene Sprache, Symbole und Riten eigen sind. Die Brüche sind auch in der Herangehensweise spürbar (gewesen):

österreichische, polnische und rumänische Archivmaterialien, über deren Herausgabe mittels ukrainisch und/ oder russisch verhandelt wurde sind nur das offensichtlichste Zeichen. Nicht weniger bedeutsam sind die Lücken, welche entlang der Bruchlinen

77 Diese sind nicht nur äußerer, formeller Art (Kommunikation, Erreichbarkeit, Arbeitsmöglichkeiten vor Ort, etc.), sondern auch struktureller Art hinsichtlich der Systematik und Kenntnis der Aktenlage. So erklärt sich die Publikation “Schwarze Milch” von Benjamin Grij als Zufallsfund (Zurückgehaltene Briefe aus Transnistrien).

78 Assmann, Aleida (2208), Das Rahmen von Erinnerungen, S. 11.

entstanden: fehlende, falsch beschriftete, falsch abgelegte Archivmaterialien und auch die

‘konkreteren Lücken’, die durch Denkmalstürze und den damit einhergehenden Herrschaftsansprüchen oder Gewaltverbrechen und Zerstörung entstanden. Diese Leerstellen können meist durch andere Schriftstücke ergänzt oder zumindest annäherungsweise erläutert werden. Privates Schriftgut, Zeitungsartikel ebenso wie Literatur und Poesie, Stadt- und Baupläne, Straßenverlauf und Fundsachen tragen zum Verständnis gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen bei. Aussagen der unterschiedlichen Dokumente ermöglichen ein umfassendes Verständnis vom Gegenstand und ergänzen die empirischen Funde. Dieses breite Feld der Möglichkeiten umgeht nicht die von Droysen bereits erwähnte grundsätzliche Gefahr in der Erkenntnissuche: “Die Quellen, auch die vorzüglichsten, geben ihm [dem Forscher, KH] so zu sagen nur polarisiertes Licht.79” Daher müssen auch hier verschiedene Passagen überwunden werden, um das gesamte Spektrum zu erfassen. Dieses Spektrum schenkt gegenwärtigen Grenzen der wissenschaftlichen Disziplinen, Sprachen und Nationalstaaten sowie sogenannten Wertegemeinschaften (EU/ GUS) keine Beachtung. Was einst als Hilfswissenschaften bezeichnet wurde, war integraler Teil der Annäherung und Bestimmung des Feldes. Dazu zählen Kenntnisse in Kurrent, Slawistik, Denkmalkunde, Archäologie, Kartographie, aber auch Blogs, Ressourcen der (online-)Genealogie und Ökologie.

Den Blick auf Friedhöfe zu richten zeigt zuvorderst Vielfalt und Ungewissheiten.

“So ist ein Friedhof ein lapidares lyro-episches Buch, eine Anthologie mit zu vielen Helden und Figuren, noch dazu nicht zu entziffern, wenn es sich um einen jüdischen Friedhof handelt.80” So beschreibt der Schriftsteller Juri Andruchowytch für die in seiner Heimatregion, der Westukraine in der Gegenwart, vielfach verwaisten Orte. Dabei handelt es sich um Sammlungen materieller Kultur, die dort zu sehen sind. Sie sind für die heutigen Bewohner_innen der Region mit fremden Schriftzeichen versehen, da weder Deutsch noch Jiddisch/ Hebräisch oder Rumänisch noch neben kyrillischen Schriftzeichen Raum finden. Aber in Art und Anlage der Grabsteine sind sie ihrem gebauten Umfeld

79 Droysen, Historik, S. 15.

80 Andruchowytch, Juri. Czernowitz I, In Diehl, Johanna. Ukraine Series, o. S.

ähnlich. Daher lohnt der erweiterte Blick auf das städtebauliche Umfeld, um die vielen Helden und Figuren zuordnen zu können. Dieses Umfeld ist notwendig zur genauen Bestimmung, denn Dinge, ebenso wie andere Quellengattungen, können fragmentarisch vorliegen. Daher bedürfen sie neben der Erweiterung um andere Erkenntnisquellen der genauen Analyse und Kritik.

1.3.1 Quellenkritik

Diese Arbeit nutzt die verschiedensten verfügbaren Quellen zum Gegenstand der Bukowina. Es werden verschiedene Quellen und Materialsammlungen als Grundlage.

Hierfür wurden Dokumente des staatlichen Archivs des Gebietes Lwiw (Derschawnij Archiv Lwiwska Oblast, DALO) sowie des staatlichen Archivs des Gebietes Tscherniwtzi (Derschawnij Archiv Tscherniwetzka Oblast, DACz) verwendet. Die vorhandenen Sammlungen sind aufgrund ihres Zuschnitts nur zur Orientierung im Gebiet nutzbar.

Hinzugezogen wurden Zeitschriftensammlungen oder Broschüren. Außerdem werden (jüngere) ukrainische Publikationen sowie Blogs hinzugezogen, die meist unzusammenhängend im Bereich der Familienforschung wichtige Daten zu Tage förderten, die die bisherigen Funde ergänzen, darunter auch eine Vielzahl an publizierten Quellen. Dazu zählen Beiträge der (Tages)Presse, sowie Streitschriften, Gesetzesentwürfe und theoretische Schriften der Zeit. Im mehrheitlich rumänisch-sprachigen Bereich liegen Akten-Editionen zu verschiedenen Aspekten vor, zum Teil noch in der sozialistischen Zeit entstanden, dies fehlt bis dato für den mehrheitlich ukrainischen Teil. Generell ist das Wissen über und die Dokumentation von Vorgängen in den urbanen Zentren Suceava und Czernowitz wesentlich ausgeprägter, als im umliegenden ländlichen Bereich. Doch können diese aufgrund der thematischen Eingrenzung ebenfalls einbezogen werden, da es um das nicht-alltägliche Sterben und materielle Sonderzeichen geht, die nicht in quantitativer Vollständigkeit, sondern in qualitativer Auffälligkeit und gesellschaftlicher Bedeutung beschrieben werden. Diese Sonderstellung von Todeszeichen als räumlichen Markierungen garantiert Nachvollziehbarkeit, auch wenn Alltäglichkeiten in deren Umfeld nicht explizit angegeben werden. Diese konkreten Spuren liefern Kenntnisse, die weniger anfällig für nostalgische Einfärbungen. Aufgrund der Besonderheiten der Region vor allem im literarischen Bereich gibt es zahlreiche Schriften, die den Umständen zur

Ausformung und (Nach-) Wirkungen der Gestaltungen gewidmet sind. Auch zum jüdischen Erbe liegen unterschiedliche Studien vor. Diese umfassen Sammlungen, Archiv-Materialien sowie persönliche Erinnerungen und Nachlässe, die teils im Internet verfügbar sind. Teils wurden diese zusammengefasst und stellen hilfreiche Übersichten dar. Bei genauerer Betrachtung allerdings stellen sich viele Ungenauigkeiten dar, die eine detaillierte Zusammenschau in Form der Dissertation notwendig werden lassen. Der Autor und Journalist Daniel Mendelsohn beschrieb in The Lost seine Suche nach den Spuren seiner Großeltern und deren Geschwister im Galizien der Vorkriegs- und Kriegszeit und verfügte bereits über ein ansehnliches Privatarchiv, welches mit Funden aus Archiven wie Yad Vashem und anderen ergänzt werden sollte, damit die Familiengeschichte vervollständigt werden kann. Er konnte einen Beitrag hierzu leisten, hielt aber dennoch fest, dass keine Daten der benutzten genealogischen Datenbanken korrekt waren. Fehler bei der Schreibweise gehören hierbei noch zu den kalkulierten Risiken, aber auch Geburtsdaten oder familiäre Verhältnisse sind wiederholt fehlerhaft aufgetreten.81 Auch in der vorliegenden Arbeit wurden wiederholt fehlerhafte Angaben in unterschiedlichsten Dokumenten und Aufzeichnungen festgestellt. Dies reicht von Jahreszahlen und Rechtschreib-/ Transliterationsfehlern bis hin zu Auslassungen in Übersichtsdarstellungen. Auch diese Form der Klärung gehört zu den Passagen, die überwunden werden müssen.

81 Vgl. Mendelsohn, Daniel. The Lost. The Search of Six in Six Million, 2013, S. 319 f.