• Nem Talált Eredményt

I.

Ernst Cassirer hat im Blick auf Alexander Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier früh auf den für die Gesamtkultur des 18. Jahrhunderts cha-rakteristischen Zusammenhang hingewiesen, daß die Problematisierung des Schönen nicht nur zu einer Grundlegung der Ästhetik geführt, sondern auch zur Begründung einer »neuen ›philosophischen Anthropologie‹« geleitet habe1. Insofern die Ästhetik – verstanden als eine Wissenschaft von der sensitiven Er-kenntnis (und ihrer Darstellung) – den »ganzen Menschen« belebe und den Gelehrten menschlicher mache2, findet die mit ihr einhergehende »Legitimie-rung«, »Emanzipation« und »›Humanisierung‹ der Sinnlichkeit«3 bei Cassirer ihren klassischen Ausdruck in Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung (1795). Insofern Anthropologie, Ästhetik und Dichtung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in der Utopie einer unbegrenzt steigerungsfähigen ›Bildung des Menschen‹ zusammenlaufen, sind Schillers ›ästhetische Briefe‹ daher in der an Cassirer anschließenden Forschung als der »Kulminationspunkt der anthro-pologischen Ästhetik in Deutschland«4 bezeichnet worden.

Cassirers Akzentuierung der kulturierenden und humanisierenden Lei-stung eines Ästhetikmodells, in denen die ›unteren Erkenntnisvermögen‹ phi-losophisch thematisiert werden, steht sichtlich im Kontext des Versuchs, ange-sichts der aufziehenden Nazi-Diktatur am Erbe der Aufklärung festzuhalten.

Das »gewaltige«, 1932 publizierte Werk, Die Philosophie der Aufklärung, in der der Konnex von Ästhetik und Humanisierung herausgestellt wird, hat der frühe Foucault zurecht als ein »Manifest« interpretiert, das Cassirer »zurück lässt«, bevor er Deutschland verließ.5

Zugleich haben Cassirers vielzitierte Überlegungen, in denen Ästhetik und Anthropologie zu einer ›ästhetischen Anthropologie‹ zusammenzuwachsen schei-nen, auch einen innerphilosophischen Kontext, genauer: einen präzisen philo-sophiehistorischen Prätext. »Indem«, heißt es im Hinblick auf die ethische Le-gitimierung der schönen Wissenschaften durch den Ausweis ihrer belebenden Wirkung auf den ganzen Menschen bei Cassirer weiter, »auf diese Weise das Problem des Schönen nicht nur zu einer systematischen Grundlegung der Ästhe-tik, sondern auch zur Begründung einer neuen ›philosophischen Anthropologie‹

hinleitet, erfährt dadurch ein Gedanke, der für die Gesamtkultur des achtzehnten Jahrhunderts charakteristisch ist, seine Bestätigung und Bekräftigung.«6 Die Be-zeichnung ›philosophische Anthropologie‹ ist bei Cassirer in Anführungszeichen gesetzt – warum? Die in Anführungsstriche gesetzte Bezeichnung verweist darauf, daß hier nicht die Rede von irgendeiner philosophischen Anthropologie ist, son-dern von einer bestimmten, und zwar derjenigen, die Ende der 20er Jahre durch Max Scheler und Helmuth Plessner begründet worden war und in der Begriffe wie ›Weltoffenheit‹ oder ›exzentrische Positionalität‹ eine zentrale Rolle spielen.7 In einem nachgelassenen Text von 1928 – also kurz vor dem Davoser Ferienkurs – setzt sich Cassirer mit ihr ausführlich auseinander und bringt darin nicht nur

›Anthropologie‹ hier nicht historisch (etwa mit Ernst Platner) im Sinn einer Lehre des ganzen Menschen, sondern mithilfe einer systematischen »Elementar-Topik« (433), die den Menschen in seiner Dreidimensionalität als Gattungs-, Individual- und Gesell-schaftssubjekt (423 f.) zu fassen sucht.

5 Michel Foucault: »Eine Geschichte, die stumm geblieben ist« [zuerst u.d.T.: »Une his-toire restée muette«. In: La Quinzaine littéraire n° 8, 1er–15 juillet, 1966, 3–4)]. In:

Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Hg. Daniel Defert, François Ewald. Bd. 1:

1954–1969. Frankfurt am Main 2001, 703–708, hier: 704.

6 Cassirer: Philosophie der Aufklärung (= Anm. 1), 472 f.

7 Hierzu Joachim Fischer: Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahr-hunderts. Freiburg, München 2008, bes. 101 ff.

Kant, sondern gerade auch Schiller ins Spiel. Kant ist für ihn derjenige, der »auf einer weiteren und sichereren Basis als es die psychologischen Lehrmeinungen des 18ten Jahrhunderts sie darzubieten vermochten, ein System der Anthropologie aufzubauen versucht hat.«8 Schiller ist für Cassirer derjenige, der zentrale Ein-sichten der Philosophischen Anthropologie Schelers und Plessners, z.B. den Be-griff der ›Weltoffenheit‹, früh in einschlägigen Passagen der ›ästhetischen Briefe‹

der Sache nach formuliert habe. Jene »Umkehr« und »geistige Revolution«, mit der der Mensch aus dem geschlossenen Funktionskreis des Tieres hinaustritt, je-nes Ausgestoßenwerden »aus dem Paradies des organischen Daseins«, das nach Scheler die ›Sonderstellung‹ des Menschen im Kosmos begründet, habe Schil-ler in den ›ästhetischen Briefen‹ prägnant herausgearbeitet. »SchilSchil-ler hat dieses Grundverhältnis bezeichnet, in dem er die Betrachtung«, heißt es bei Cassirer mit einem Zitat vom Beginn des 25. ›ästhetischen Briefs‹, »›das erste liberale Ver-hältnis des Menschen zu dem Weltall, das ihn umgibt‹, nennt.« Und Cassirer schließt das ausführliche Schiller-Zitat mit dem Fazit ab: »Diese Sätze, die Schil-lers Briefen über die aesthetische Erziehung des Menschen angehören, sind im Sinne seines spezifisch-aesthetisch gerichteten Humanismus zu nehmen.«9 Liest man Cassirers Text auf dieser Folie nochmals genauer, wird deutlich, daß eine Reihe der von ihm benutzten Bezeichnungen – ›Revolution‹ oder ›ausgestoßen werden aus dem Paradies‹ – Katachresen aus dem Metaphernrepertoire des Schil-lerschen Theoriewerks sind.

Der Blickwinkel, unter dem ›Ästhetisches‹ in dem nachgelassenen Text von 1928 und in der 1932 publizierten Philosophie der Aufklärung in Konjunktur mit

›Anthropologischem‹ tritt, ist freilich nicht identisch. Geht es im Anschluß an Ba-umgarten und Meier um die Leistung, mit der die ›unteren Erkenntnisvermögen‹10 im Rahmen der Ästhetik zum philosophischen Thema mit dem Ziel ihrer ›Eman-8 Ernst Cassirer: »[Das Problem der philosophischen Anthropologie]« [192›Eman-8]. In: Ders.:

Zur Metaphysik der symbolischen Formen. Hg. John Michael Krois. Hamburg 1995 (= Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte, 1), 32–54, hier: 32.

9 Ebd., 36, 43 und 44. Vgl. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Men-schen. Briefe an den Augustenburger, Ankündigung der ›Horen‹ und letzte, verbesserte Fas-sung. Hg. Wolfhart Henckmann. München 1967 (= Studientexte, 1), Fünfundzwanzigs-ter Brief, 169 f.

10 Die unteren ›Erkenntniskräfte‹ umfassen nach Baumgartens Metaphysica (1. Aufl. Halle 1739, pars III, cap. i, sec. 3–11; s. Anm. 14) sensus (›Sinn‹), phantasia (›Einbildungs-kraft‹), perspicacia (›scharfsinniger Witz‹), memoria (›Gedächtnis‹), facultas fingendi (›Dichtungsvermögen‹), praevisio (›Vorhersehungsvermögen‹), iudicium (›Beurtei-lungsvermögen‹), praesagitio (›Vermögen, das Zukünftige zu erwarten‹) und facultas characteristica (›Bezeichnungsvermögen‹). Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten: Meta-physik. Übers. Georg Friedrich Meier. Halle 1766, §§ 396–460, 172–408 [recte: 208].

zipation‹ und ›Humanisierung‹, d.h. ihrer Kultivierung gemacht werden, zweckt der Schiller-Bezug im Kontext einer Auseinandersetzung mit Schlüsselbegriffen der Philosophischen Anthropologie darauf ab, das freie, uninteressierte, vom Druck der Notwendigkeit entlastete Weltverhältnis des ›ästhetischen Zustands‹

zu akzentuieren: dort also Fokussierung auf Sinnlichkeit, hier Herausstellung von Freiheit – und zwar sowohl von Natur- als auch von Vernunftgesetzen. Von der Bezugnahme auf den ›ganzen Menschen‹ sind beide Hinsichten Cassirers geprägt, die Perspektivierung auf die »›Janusköpfigkeit dieses Lebewesens‹«11 fällt jedoch unterschiedlich aus. Man könnte den Aufbau der Ästhetik von der Sinnlichkeit her als anthropologische Ästhetik, ihren Aufbau von einer – wie Schiller sie nennt –

»uninteressierten freien Schätzung«12 als ästhetische Anthropologie bezeichnen, um die beiden entgegenlaufenden Hinsichtnahmen zu unterscheiden. Ein solches Spiel mit dem Chiasmus, das darauf abzielt, den zum Ausdruck gebrachten Ge-gensatz zu markieren, steht freilich quer zur eingeführten, freilich widersprüch-lich gebrauchten Terminologie.

II.

In umfassender Weise ist der »Modellbegriff einer anthropologischen Ästhetik«

von Ernst Stöckmann im Anschluß an die Innovation Baumgartens und Mei-ers, d.h. aus der Perspektive der Sinnlichkeit, entfaltet worden.13

11 Cassirer: »[Das Problem der philosophischen Anthropologie]« (= Anm. 8), 36. Cassirer zitiert hier Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie [1928]. Dritte, unveränderte Aufl. Berlin. New York 1975, 32.

12 Schiller: Über die ästhetische Erziehung (= Anm. 9), Siebenundzwanzigster Brief, 180.

13 Ernst Stöckmann: »›Natur des Menschen‹ als ästhetisches Paradigma. Anthropologi-scher Perspektivenwechsel in der Ästhetiktheorie der deutschen Spätaufklärung«. In:

Ästhetik von unten. Empirie und ästhetisches Wissen. Hg. Marie Guthmüller, Wolf-gang Klein. Tübingen, Basel 2006, 47–94, hier: 51. Vgl. ders.: »Von der sinnlichen Erkenntnis zur Psychologie der Emotionen. Anthropologische und ästhetische Progres-sion der Aisthesis in der vorkantischen Ästhetiktheorie«. In: Physis und Norm. Neue Perspektiven der Anthropologie im 18. Jahrhundert. Hg. Manfred Beetz, Jörn Garber, Heinz Thoma. Göttingen 2007, 69–106; ders.: Anthropologische Ästhetik. Philosophie, Psychologie und ästhetische Theorie der Emotionen im Diskurs der Aufklärung. Tübingen 2009 (= Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, 39). Zu Stöckmanns Mono-graphie kritisch die Rezension von Gideon Stiening, in: Arbitrium 28 (2010), H. 2, 189–192. Vgl. auch die ausführlichen Besprechungen von Tomaš Hlobil, in: Estetika 48/N.S. 4 (2011), No. 1, 121–126, und Kai Marcel Sicks, in: KULT-online 30 (2012) [elektronische Ressource].

Ästhetik ist für Baumgarten »scientia sensitive cognoscendi et proponendi«14 – und als solche findet sie ihren systematischen Ort, das macht der Blick in Baumgartens Metaphysica deutlich, im Rahmen einer der rationalen Psycho-logie seit Christian Wolff gegenübergestellten ›psychologia empirica‹, d.h. der empirischen Psychologie bzw. Erfahrungsseelenkunde. Ästhetik ist also von ihrem wolffianistischen Gründungsszenario her Teil der empirischen Psycho-logie. Daher ist die Kritik, die die psychologische Ästhetik gegenüber ihrer wei-terausholenden Geschichte an Gustav Theodor Fechner15 binden will, weil es eine psychologische Ästhetik »natürlich aber erst« gegeben habe, nachdem sich die Psychologie im 19. Jahrhundert zu einer empirischen Wissenschaft eman-zipierte16, kurzsichtig und verfehlt, und zwar gleichermaßen für ihren wolf-fianischen Ursprung als auch für ihren Fluchtpunkt im 18. Jahrhundert bei Heinrich Zschokke in dessen Ideen zur psychologischen Ästhetik von 1793.17

Tatsächlich ist die ›psychologia empirica‹ ein Werk des Wolffianismus.

Ihr Geburtsjahr ist auf das Jahr 1732 datierbar.18 Die empirische Psycholo-gie, deren Initiator Christian Wolff ist und die über Johann Gottlob Krügers

14 Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica [1739; 71779], pars III: Psychologia, caput I: Psychologia empirica, sectio II: Facultatas cognoscitiva inferior, § 533; zit. nach ders.:

Texte zur Grundlegung der Ästhetik. Übers., Hg. Hans Rudolf Schweizer. Hamburg 1983. 16 f.

15 Gustav Theodor Fechner: Vorschule der Ästhetik. Tl. I. Leipzig 1876, Kap. I. »Die Aest-hetik von Oben und von Unten«, 1–7.

16 Michael Hog: Die anthropologische Ästhetik Arnold Gehlens und Helmuth Plessners. Ent-lastung der Kunst und Kunst der EntEnt-lastung. Tübingen 2015, 45, Anm. 4. Das Vorurteil, empirische Psychologie sei Errungenschaft des 19. Jahrhunderts, korrigiert Fernando Vidal: Les sciences de l‘âme. XVIe–XVIIIe siècles. Paris 2006 (engl. Chicago 2011).

17 Heinrich Zschokke: Ideen zur psychologischen Aesthetik. Berlin, Frankfurt an der Oder 1793.

18 Christian Wolff: Psychologia empirica methodo scientifica pertractata […]. Francofurti, Lipsiae 1732 (Editio Nova Priori Emendatior. Francofurti, Lipsiae 1738). Die empi-rische Psychologie wird bei Wolff als Teil der Metaphysik abgehandelt. Vgl. ders.: Ver-nünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt [1720]. Neue [= 11.] Aufl. hin und wieder vermehret. Halle 1751 (= Deutsche Metaphysik), 3. Kap. »Von der Seele überhaupt, was wir nehmlich von ihr wahrneh-men«, §§ 191–539, 106–329. Zur Stellung und zu den Inhalten der empirischen Psy-chologie vgl. ders.: Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schrifften, die er in deutscher Sprache herausgegeben [1726]. 3., verb. Aufl. Franckfurt am Mayn 1757, §§ 79 und 89 ff. Zum »Skandalon einer ›empirischen Metaphysik‹« bei Wolff und den Wolffianern s. Gideon Stiening: »›Metaphysick aller schönen Wissenschaften und Künste‹. Georg Friedrich Meiers ästhetische Theorie«. In: Georg Friedrich Meier (1718–1777). Philoso-phie als »wahre Weltweisheit«. Hg. Frank Grunert, Gideon Stiening. Berlin, Boston 2015 (= Werkprofile, 7), 299–321, bes. 308–316, hier. 311, Fn. 64.

Experimental=Seelenlehre und Karl Philipp Moritz’ Projekt einer Erfahrungssee-lenkunde zu einer Art neuer Leitwissenschaft im 18. Jahrhundert wird – Kant wird nach Baumgartens Erfahrungspsychologie seine Anthropologie lesen –, ist in zwei Teile geteilt, die wiederum ihrerseits in jeweils zwei Sektionen zerfallen.

So ergibt sich eine vierfältige baumdiagrammartige Taxonomie der Seelenlehre, die für das 18. Jahrhundert lange prägend gewesen ist. Unterschieden werden Erkenntnis- und Begehrungsvermögen, die ihrerseits jeweils in untere und obe-re Teile diffeobe-renziert sind. Die disziplinäobe-re Ausfaltung der Philosophie in die seit alters her verfolgte Logik, die von Baumgarten begründete Ästhetik, praktische Philosophie bzw. Morallehre und philosophische Pathologie, d.h. Affektenleh-re, zu der das Frühwerk Meiers den entscheidenden Auftakt bildet19, folgt der Vermögenstaxonomie, die Wolffs empirische Psychologie gliedert (Abb. 1).

19 Georg Friedrich Meier: Theoretische Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt. Halle 1744 (eine von Meier angekündigte ›praktische‹ Affektenlehre kam nicht zustande).

Vgl. hierin insbes. die Ausführungen zur »ästhetischen Pathologie«, d.h. Wissenschaft der Gemütsbewegungen »in Absicht auf den sinnlichen Vortrag«. Die ›ästhetische Pa-Wolff: Psychologia

empirica (1732,

21738)

Vermögen bzw. Kräfte der Seele entsprechende philoso­

phische Teildisziplin

appe-tendi parte inferiori untere Begehrungskräfte, d.h. Be-gierden bzw. Verabscheuungen (sie werden zusammen mit den unteren Erkenntniskräften »das Fleisch (caro)« genannt), stärkere heißen:

»Leidenschaften oder Gemüths-bewegungen (affectus, passiones, affectiones, pertubationes animi).

Die Wissenschaft derselben ist die Pathologie« (Baumgarten: Metaphy-sik. Übers. G. F.Meier. Halle 1766,

§§ 499 ff.).

appe-tendi parte inferiori obere Begehrungskräfte, d.h. Wille bzw. Beweggründe (motiva) (ebd.

§§ 510 ff.)

praktische Philosophie, d.h. Morallehre

Abb. 1: Taxonomie der empirischen Psychologie seit Christian Wolff

Die ästhetische Theorie zumal der Spätaufklärung wird von Stöckmann als ›transdisziplinäres‹ Zugleich von anthropologischer Ästhetik und ästhetischer Anthropologie zu fassen versucht. Die Ästhetik ist anthropologisch, »insofern die Begründungen des ästhetischen Wissens ihren Ausgangspunkt in der philo-sophisch untersetzten, gleichwohl erfahrungswissenschaftlich ausgerichteten Disziplin der Psychologie bzw. Anthropologie nehmen […].«20 Daß in dieser Formulierung Psychologie und Anthropologie durch die Konjunktion ›bezie-hungsweise‹ synonym gesetzt werden, verweist auf den noch uneindeutigen Status dieser Gebiete und auf die charakteristische Unschärfe anthropologisch-psychologischer Themen oder Veranstaltungen, so daß die Bezeichnungen

›Anthropologie‹ und ›Psychologie‹ um 1800 im Einzelfall durchaus noch »fast äquivok«21 gebraucht werden konnten. Die Anthropologie ist ästhetisch, »insofern sich die theoretische Modellierung sinnlich-ästhetischer Erfahrungsmuster […]

als Beitrag zu einer Differenzierung anthropologisch-erfahrungswissenschaft-licher Wissensbestände niederschlägt […].«22 Die jeweilige Ästhetik baut auf dem, was die jeweilige Anthropologie als menschliches Proprium herausstellt.

Und umgekehrt: Die Reflexion über das jeweilige anthropologische Proprium findet im Medium ästhetischer Theorie statt.

In Stöckmanns Entwurf einer ›anthropologischen Ästhetik‹ wird die Äs-thetik des 18. Jahrhunderts als ein Diskurs über Emotionen gekennzeichnet,

thologie‹, die den Rhetoriken bzw. Poetiken bisher nur »mangelhaft« ausgeführt worden sei, enthält nach Meier alles, was der Redner oder Dichter hinsichtlich der »Gemüths-bewegungen in seinem Vortrage« zu berücksichtigen hat (§ 7). Der in der spärlichen Forschung zu Zschokkes psychologischer Ästhetik hervorgehobene vierte Abschnitt des Werks, der unter der Überschrift »Aesthetische Pathologie« (Zschokke: Ideen, wie Anm.

17, 229–396) eine »ästhetische[n] Empfindungslehre« bzw. »Theorie der Empfindun-gen« enthält, die lehrt, »wie Empfindungen erweckt, vermehrt, vermindert, unterdrückt und bezeichnet werden müssen« (ebd., 230 f.), knüpft an diesen Wortgebrauch an und übernimmt im übrigen wörtlich die Definition aus Baumgartens Metaphysik (= Anm.

10), § 501, 216.

20 Stöckmann: »Von der sinnlichen Erkenntnis zur Psychologie der Emotionen« (= Anm.

13), 73.

21 Paul Ziche: »Anthropologie und Psychologie als Wissenschaften«. In: Georg Eckhardt, Matthias John, Temilo van Zantwijk, Paul Ziche: Anthropologie und empirische Psycho-logie um 1800. Ansätze einer Entwicklung zur Wissenschaft. Köln, Weimar, Wien 2001, 73–109, hier: 85 im Blick auf den Jenaer Mediziner Justus Christian Loder. Zum ak-tuellen Forschungsstand s. Jörn Garber: »Anthropologie«. In: Handbuch Europäische Aufklärung. Begriffe, Konzepte, Wirkung. Hg. Heinz Thoma. Stuttgart, Weimar 2015, 23–40.

22 Stöckmann: »Von der sinnlichen Erkenntnis zur Psychologie der Emotionen« (= Anm.

13), 73.

wodurch die ›Emotion‹ bzw. das ›Gefühl‹ entsprechend zum anthropologisch-ästhetischen »Zentralbegriff« bzw. »Fundamentalbegriff« der Aufklärung auf-rückt.23 Stöckmann rekonstruiert auf diese Weise ›anthropologische Ästhetik‹

als den dominanten Ästhetiktypus der Spätaufklärung, versteht sie als ersten historischen Modellfall einer Ästhetik ›von Unten‹ und profiliert sie entspre-chend gegenüber dem transzendentalen Neuansatz Kants und der Philosophie des Schönen Hegels, aus deren ästhetikgeschichtlichen Schatten die Vielzahl der bisher vernachlässigten Schriften befreit werden.24

Mit seinem Verständnis der anthropologischen Ästhetik setzt sich Stöck-mann, wenn auch nicht in expliziter Kritik, von einer vorangehenden, anders akzentuierten Verwendungsweise der Bezeichnung ab, wie sie in der bereits zi-tierten Wertung der ›ästhetischen Briefe‹ Schillers durch Lothar Bornscheuer zum Ausdruck kam. Auch andere hatten seinerzeit Ästhetik als eine Reflexion,

»die die Weise des Darstellens auf den Menschen zurückbezieht und von dort-her begründet«, aufgefasst, dabei freilich aber betont, daß eine solche ›anthro-pologische Ästhetik‹ »[…] die ursprüngliche Freiheit des Menschen aus[legt], welche die Sinnlichkeit übersteigt und doch auf diese zurückbezogen ist«. Eine so verstandene anthropologische Ästhetik entsteht – ganz im Gegensatz zu den von Stöckmann gezogenen Frontlinien – »mit Kant und Schiller« und wirkt auf die Romantik ein.25

Den Schlusspunkt der von Stöckmann verfolgten spätaufklärerischen Ent-wicklung setzt Zschokkes im Herbst 1793 publiziertes Werk Ideen zur

psycho-23 Stöckmann: Anthropologische Ästhetik (= Anm. 13), 14, und ders.: »Von der sinnlichen Erkenntnis zur Psychologie der Emotionen« (= Anm. 13), 106. Zur uneinheitlichen, hybriden und unscharfen Begriffsbildung im Wortfeld ›Emotion‹ s. ders.: Anthropolo-gische Ästhetik (= Anm. 13), 15–17, und vgl. ders.: »›Natur des Menschen‹« (= Anm.

13), 81 f. Zum ›emotionalistischen Neuansatz‹ in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts s.

seinerzeit bereits Carsten Zelle: ›Angenehmes Grauen‹. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert. Hamburg 1987, 117 ff.

24 Stöckmann: Anthropologische Ästhetik (= Anm. 13), 12 und 33 f. Zurecht konstatiert Stöckmann (»›Natur des Menschen‹«, wie Anm. 13, 53, Fn. 21), daß ein »erschöpfendes Inventar zur deutschen Aufklärungsästhetik […] ein echtes Desiderat zur deutschen Aufklärungsästhetik« darstelle. Das gilt bis heute.

25 Joseph Müller: »Die Bedeutung einer anthropologischen Ästhetik«. In: Literatur und Religion. Hg. Helmut Koopmann, Winfried Woesler. Freiburg, Basel, Wien 1984, 22–33, hier: 23 und 32. Müller (1916–2007), der Professor für scholastische Philoso-phie in Tübingen war, profiliert seine Auffassung einer ›anthropologischen Ästhetik‹ in kulturkritischer Absicht gegen eine (formale bzw. strukturalistische) »Ästhetik jenseits des Subjekts« (28 f.).

logischen Ästhetik (Abb. 2)26, in dem der damals an der Viadrina lehren-de Privatdozent die anthropolo-gische Ästhetik konsequent empi-risiert, d.h. Ästhetik »vollends auf die Analyse des anthropologischen Sinnesdatums der Emotionen, ihrer Erlebnispotentiale wie ihrer expres-siven Funktionen« abgestellt habe.27

III.

Heinrich Zschokke, 1771 in Mag-deburg geboren, war Anfang 1788 von zu Hause weggegangen, hatte sich als Hauslehrer, Schauspieler und Romanschreiber durchzuschla-gen versucht und konnte sich nach bestandener Maturitätsprüfung an der Stadtschule in Landsberg (heute Saalekreis) im April 1790 an der Universität in Frankfurt an der Oder (Viadrina) zum Studi-um der Theologie, die er u.a. bei

26 Berlin, Frankfurt/Oder: Johann Andreas Kunze 1739. Vorbericht (vii-xxiv); Einleitung (1–32); I. Vom Wesen der schönen Kunst (35–67); II. Kritik des Schönen (68–175);

III. Ueber den ästhetischen Geschmack (176–228); IV. Aesthetische Pathologie (229–

396); Register (nach 396, unpag.). Die Vignette auf dem Titelblatt (Abb. 2) zeigt in Anspielung auf die Vignette des Titelblatts von William Hogarth‘ The Analyis of Beauty (London 1753), auf der Pyramide und Schlangenlinie unter dem Begriff ›variety‹ verei-nigt sind, die »Figur der Pyramide (F I) und die »Hogarthsche[n] Schönheitslinie« (F II), die beide aufgrund ihrer »Verhältnißsmäßigkeit« gefallen (Zschokke: Ideen, wie Anm.

17), § 97, 300 f.). Gewidmet ist das Werk Friedrich Franz I. (1756–1837), seit 1785 regierender Herzog zu Mecklenburg.

27 Vgl. Stöckmann: Anthropologische Ästhetik (= Anm. 13), ›Schluss‹, 277–281, hier: 279.

Vgl. ders.: »›Natur des Menschen‹« (= Anm. 13), 86–88.

Abb. 2: Titelblatt des Göttinger Exemplars (SUB Göttingen: 8 AESTH 3123)

Gotthilf Samuel Steinbart (1738–1809) hörte, einschreiben.28 Da Zschokke sich jedoch nicht einer Prüfung durch die in Preußen im Mai 1791 eingeführte Imme-diatexamenskommission, die infolge des Woellnerschen Religionsedikts (1788) für alle Geistlichen eingeführt worden war, unterwerfen wollte, brach er das Studi-um schon im vierten Semester mit dem Grad eines Doktors der Philosophie und Magisters der freien Künste ab (Abb. 3).

Es gelingt ihm, sich zum Wintersemester 1792/93 an der Philosophischen Fakultät als Privatdozent zu etablieren, der neben Veranstaltungen über Welt- und Kir-chengeschichte, Naturrecht, Exegese des Neuen Testaments und Moralphilosophie auch Privatvorlesungen zur Rede- und Dichtkunst (SS 1793) und zur Ästhetik (WS 1792/93; WS 1794/95) anbot.29 Je-doch hat Zschokke die für SS 1794 und WS 1794/95 angekündigten Vorlesungen nicht mehr gehalten, da ein Gesuch des kaum 23jährigen Mannes auf Beförde-rung auf eine außerordentliche Professur für Philosophie im Januar 1794 abge-lehnt wurde und Zschokke daraufhin das laufende Semester zwar noch zu Ende gebracht, danach aber nicht mehr gelehrt und die Universitätslaufbahn

verlas-28 Zum Frankfurter Studium, zur Privatdozentur und zu den Ideen Zschokkes s. Wer-ner Ort: Heinrich Zschokke (1771–1848). Eine Biographie. Baden 2013, 99–148. Vgl.

Heinrich Zschokke: Eine Selbstschau. Thl. I: Das Schicksal und der Mensch [1842]. 2., unveränderte wohlfeilere Ausg. Aarau 1842, bes. 45–63.

29 S. PRAELECTIONES IN REGIA VNIVERSITATE LITTERARIA VIADRINA A DOCTORIBUS PROFESSORIBUS ATQUE MAGISTRIS […] PVBLICE AC PRI-VATIM HABENDAE. FRANCOFVRTI AD VIADRVUM […]. GStA PK, I. HA Rep.

76 alt Ältere Oberbehörden für Wissenschaft, Kunst, Kirchen- und Schulsachen, II Nr. 197, Bd. 1: Vorlesungen der Universität Frankfurt an der Oder, Bd. 1, Laufzeit:

1787–1796. Das Lehrangebot Zschokkes ist hierin für das WS 1792/93 (Bl. 84–87v) bis einschließlich WS 1794/95 (Bl. 113–116v) nachgewiesen. Angekündigt wurden ins-gesamt 15 Veranstaltungen.

Abb. 3: Zschokke, Porträt eines un-bekannten Künstlers, um 1792 (Ort:

Zschokke, wie Anm. 28, 123)

sen hat.30 Den Sommer 1794 ver-bringt er in der Nähe Frankfurts auf dem Land, Mitte Januar 1795 ist er in Berlin, Anfang Mai wird er in eine Frankfurter Freimau-erloge aufgenommen und Mit-glied in der Frankfurter Sozietät der Wissenschaften und schönen Künste. Unmittelbar danach ver-lässt er Frankfurt, geht auf eine Reise, die ihn durch Deutschland, die Schweiz und nach Frankreich

sen hat.30 Den Sommer 1794 ver-bringt er in der Nähe Frankfurts auf dem Land, Mitte Januar 1795 ist er in Berlin, Anfang Mai wird er in eine Frankfurter Freimau-erloge aufgenommen und Mit-glied in der Frankfurter Sozietät der Wissenschaften und schönen Künste. Unmittelbar danach ver-lässt er Frankfurt, geht auf eine Reise, die ihn durch Deutschland, die Schweiz und nach Frankreich