• Nem Talált Eredményt

Allgemeine Bestimmungen über die Auslegung und Anwendung der Charta

In document Der Familie (Pldal 54-59)

C. Grundrechtsschutz von Geflüchteten und deren Familienleben in der EU

II. Allgemeine Bestimmungen über die Auslegung und Anwendung der Charta

Bevor den Regelungsgehalt von einzelnen Vorschriften der Grund-rechtecharta untersucht wird, sollen die einschlägigen allgemeinen Best-immungen der Charta über Anwendungsbereich, Auslegung und Schutzni-veau dargestellt werden. Diese tragen dafür Sorge, dass die GRCh mög-lichst harmonisch und kohärent in den vorhandenen Grundrechtsstruktu-ren eingepasst wird.

1. Art. 51 - Anwendungsbereich

Art. 51 GRCh bestimmt den Anwendungsbereich der Charta. Die Grund-rechtecharta gilt zunächst für die Union und bindet die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Unionsrechts. Unionsrecht um-fasst neben Primärrecht auch alle sekundärrechtlichen Normen nach Art.

288 AEUV. Die Bindung an die Unionsgrundrechte bei der Durchführung von GEAS-Normen und weiterer asylrechtlicher Verordnungen und Richtli-nien wird im Schrifttum nicht bestritten.135 Durchführen bedeutet sowohl den administrativen Vollzug von Verordnungen als auch die Umsetzung von Richtlinien. Einzelheiten der Grundrechtsbindung und deren Reichweite

133 Ebenda, Rn. 95.

134 Constantin Hruschka: Klare Worte vom EuGH: bei Abschiebungen darf keine unmensch-liche Behandlung drohen, den 18 Februar 2017. Abrufbar:

https://verfassungsblog.de/klare-worte-vom-eugh-abgeschobenen-fluechtlingen-darf-keine-unmenschliche-behandlung-drohen/ letzter Abruf: 28.02.2020.

135 Kingreen, Art. 51 GRC, Rn. 12 in: Calliess/Ruffert EUV/AEUV.

bleiben vielfach unklar, was die Auslegung durch den EuGH erforderlich macht. Mitgliedstaaten sind an Unionsgrundrechte gebunden, wenn dies der Vorrang und die einheitliche Anwendung des Unionsrechts erforderlich machen.136 Der EuGH besagt in dem Fransson-Urteil, dass keine Fallgestal-tung denkbar ist, die vom Unionsrecht erfasst würde, ohne dass die EU-Grundrechte anwendbar wären.137 Diese großzügige Formulierung bedeu-tet, dass die Unionsgrundrechte stets gelten, wenn das Unionsrecht gilt.138 Anhand von drei weiteren Urteilen soll gezeigt werden, wann genau diese Geltung angenommen werden kann.

In der Rechtsache EP gegen Rat139 wurde die Nichtigkeit einzelner Bestim-mungen der Familienzusammenführungsrichtlinie in Frage gestellt. Zu die-ser Zeit (2003) war die Grundrechtecharta kein primäres Unionsrecht, son-dern lediglich ein feierlich deklariertes Dokument. Dennoch ist es das erste Urteil, in welchem der EuGH sich auf die Charta explizit beruft. Der Ge-richtshof nimmt an, dass der Geltungsbereich des Unionsrechts eröffnet ist, wenn die Richtlinie den Mitgliedstaaten einen Ermessensspielraum er-öffnet. Das Ermessen sollte soweit irgend möglich so ausgeübt werden, dass die Anwendung der Vorschriften mit den Erfordernissen des Grund-rechtsschutzes im Einklang steht.140 Im Geist dieser Rechtsprechung geht der EuGH von der Grundrechtsbindung im Fall N.S. gegen Vereinigtes Kö-nigreich aus, wenn der Mitgliedstaat die Ermessensentscheidung fasst, ei-nen Asylantrag selbst zu prüfen. Zwar zwingt die Dublin-VO den nicht zu-ständigen Mitgliedstaat nicht dazu, über den Asylantrag zu entscheiden.

Übt der Staat aber das Ermessen anhand der Bestimmungen der Verord-nung (Art. 3 II Dublin-II-VO) aus, führt er damit Unionsrecht gemäß Art. 51 I GRCh durch.141 Somit muss er auch die Chartagrundrechte bei seiner

136 Ebenda, Rn. 7.

137 EuGH, Urteil vom 26. Februar 2013, Rs. C‑617/10 (Åkerberg Fransson), Rn. 21.

138 Daniel Thym: Die Reichweite der EU-Grundrechte-Charta – Zu viel Grundrechtsschutz?

IN: NVwZ 2013, Heft 14, S. 889-896, S. 890.

139 Eine ausführliche Besprechung des Urteils erfolgt unter Punkt H. II.

140 EuGH, Urteil vom 27. Juni 2006, Rs. C 540/03 (EP gegen Rat), Rn. 104.

141 EuGH, Urteil vom 21.12.2001, Rs. C 411/10 (N.S. gegen Vereinigtes Königreich), Rn. 68-69.

scheidung beachten. Ähnlich hätte der EuGH schussfolgern können, dass in der Rechtsache X und X gegen Belgien142 die Situation der syrischen Familie dem Visakodex und damit dem EU-Recht unterliegt. Generalanwalt Mengozzi war nämlich der Meinung, dass ein Mitgliedstaat, der die Ertei-lung eines aus humanitären Gründen beantragten Visums (Art. 25 I lit. a) Visakodex) ablehnt und damit im Rahmen des ihm überlassenen Ermes-sensspielraums handelt, im Sinne von Art. 51 I GRCh das Recht der Union durchführt.143 Die Erteilung von solch einem Visum unterliegt harmonisier-ten Regelungen, der Mitgliedstaat handelt im Rahmen des Unionsrechts.144 Er beruft sich bei seiner Argumentation auf das N.S.-Urteil:

„Der Umstand, dass eine Unionsverordnung den Mitgliedstaaten ein Ermessen zuerkennt, steht (…) dem nicht entgegen, dass die in Ausübung dieses Ermessens erlassenen Rechtsakte der Durch-führung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta dienen, wenn sich erweist, dass dieses Ermessen integra-ler Bestandteil des mit der betreffenden Verordnung errichteten normativen Systems ist und unter Beachtung ihrer übrigen Best-immungen auszuüben ist.“145

Der EuGH wandte sich aber von dieser Auslegung ab und sah in dem Fall den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht eröffnet. Die Große Kammer entschied, dass beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts die im Aus-gangsverfahren in Rede stehenden Anträge allein anhand des nationalen Rechts zu entscheiden sind.146

Fragen über den Anwendungsbereich der GRCh werden auch zukünftig den Dialog zwischen Mitgliedstaaten und Union prägen. Die Auslegung dessen liegt in der Hand des EuGH, und er zeigt Bereitschaft, klare Linien zwischen

142 Eine ausführliche Besprechung des Urteils erfolgt unter Punkt D. III. 1.

143 Schlussanträge des Generalanwalts Paolo Mengozzi vom 7. Februar 2017(1), Rs. C 638/16 PPU (X und X gegen Belgien), Rn. 84.

144 Ebenda, Rn. 80.

145 Ebenda, Rn. 82.

146 Ebenda, Rn. 51.

nationalen und unionsrechtlichen Grundrechten zu ziehen.147 Die strikte Trennung der europäischen Grundrechtsschichten erscheint aus Sicht des EuGH aber weniger attraktiv als eine Doppelgeltung von Charta und natio-nalen Grundrechten.148 Der Gerichtshof ist bemüht die GRCh zur vorrangi-gen, einheitlichen und effektiven Anwendung zu verhelfen und zugleich ein tragfähiges System des europäischen Grundrechtsschutzes zu etablieren.149

2. Art. 52 - Tragweite der garantierten Rechte

Art. 52 GRCh ist das Herzstück der Charta, welches dafür sorgt, dass diese möglichst reibungslos in das Mehrebenensystem des europäischen Grund-rechtsverbunds eingebettet wird.150 Die Vorschrift enthält wichtige Ausle-gungsregeln, die die einheitliche Interpretation von Chartagrundrechten fördern. Als allgemeine Einschränkungsmaxime gilt der Gesetzesvorbehalt nach Art. 52 I S. 1 GRCh: jede Einschränkung der Chartarechte muss gesetz-lich vorgesehen sein. Daneben können spezielle Schrankenregelungen in der GRCh oder anhand der EMRK in Betracht kommen. Einschränkungen müssen den Wesensgehalt des Grundrechts achten und eine dem Ge-meinwohl dienende Zielsetzung haben.151

Art. 52 II GRCh regelt das Verhältnis zu den primärrechtlichen Verbürgun-gen: die Wirkung der Charta kann nicht zur Veränderung (Erweiterung) die durch den EUV und den AEUV garantierten Rechte führen. Diese Vorschrift muss auch im Verhältnis von Art. 78 AEUV i.V.m. Art. 18 GRCh stets beach-tet werden.

Art. 52 III GRCh schreibt ein Homogenitätsgebot zwischen den Verbürgun-gen der EMRK und der Charta vor.152 Durch diese Transferklausel werden

147 Terhechte, Art. 51. GRC Rn. 11, in: Von der Groeben / Schwarze / Hatje: EU-Kommentar.

148 Daniel Thym: Die Reichweite der EU-Grundrechte-Charta – Zu viel Grundrechtsschutz?

IN: NVwZ 2013, Heft 14, 889-896, S. 896.

149 Terhechte, Art. 51. GRC Rn. 16, in: Von der Groeben / Schwarze / Hatje: EU-Kommentar.

150 Terhechte, Art. 52. GRC Rn. 2, in: Von der Groeben / Schwarze / Hatje: EU-Kommentar.

151 Kingreen, Art. 52 GRC, Rn. 67 in: Calliess/Ruffert EUV/AEUV.

152 Ruth Weinzierl: Deutsche und europäische Grundrechte im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, IN: ZAR 2010, Heft 8, S. 260-270, S. 269.

die EMRK-Standards zur Anforderungen, die nicht unterschritten werden dürfen.153 Den Weg für weiterreichende Unionsgrundrechte bleibt offen.

Für die Bedeutung und Tragweite der Konventionsrechte ist deren Ausle-gung durch den EGMR heranzuziehen. Die Rechtsprechung des EGMR ist zwar zentraler Bezugspunkt für die Auslegung von wortgleichen Chartarechten, eine unmittelbare Bindung lehnt der EuGH aber explizit ab.154 Die hieraus resultierenden Probleme wurden bereits vorher unter Beispielname auf Urteile der beiden Höchstgerichte über das Dublin-Verfahren erläutert. Bis zu einem Beitritt der EU zur EMRK nach Art. 6 II EUV bleibt die Konvention eine Rechtserkenntnisquelle. Art. 52 III GRCh bestimmt lediglich die Anpassung der Auslegung von EU-Grundrechten an die EMRK und nicht deren materiell-rechtliche Bindung.155 Spezielle Schranken der EMRK-Vorschriften wirken zwar auf die kohärente Ausle-gung von Chartarechten, verdrängen aber die allgemeinen Schrankenbe-stimmungen nach Art. 52 I GRCh nicht.156 Der EuGH ist bemüht eine eigen-ständige unionale Grundrechtsordnung mit genuin unionaler Auslegung der Chartagrundrechte zu etablieren.157

Ferner bietet Art. 52 V GRCh einen Anhaltspunkt für die Unterscheidung von Grundrechten und Grundsätzen. Rechte und Freiheiten der Charta sind subjektive Rechte, während Grundsätze durch Akte der Gesetzgebung, durch Ausführung der Unionsorgane sowie durch Akte der Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts konkretisiert werden. Grundsätze sind unmittelbar verbindliches Recht158 und können unter Umständen so-gar vor Gericht herangezogen werden.159 Die GRCh schweigt darüber, wel-che Vorschriften als Rechte und welwel-che als Grundsätze einzuordnen sind.

Die Frage kann anhand der EuGH-Judikatur entschieden werden.

153 Terhechte, Art. 52 GRC, Rn. 15, in: Von der Groeben / Schwarze / Hatje: EU-Kommentar.

154 Kingreen, Art. 52 GRC, Rn. 33 in: Calliess/Ruffert EUV/AEUV.

155 Ebenda.

156 Ebenda, Rn. 38.

157 Terhechte, Art. 52 GRC, Rn. 20, in: Von der Groeben / Schwarze / Hatje: EU-Kommentar.

158 Kingreen, Art. 52 GRC, Rn. 14 in: Calliess/Ruffert EUV/AEUV.

159 Näher dazu unter Punkt E. II.

3. Art. 53 - Schutzniveau

Im Lichte der Rechtsprechung des EuGH ist Art. 53 GRCh als Geltungserhal-tungsregel zu verstehen.160 Die Vorschrift soll sicherstellen, dass andern-orts garantierte Grundrechte neben der Charta zur Anwendung kommen können. Vorrang, Einheit und Wirksamkeit des Unionsrechts müssen aber erhalten bleiben, was zur Unanwendbarkeit nationaler Grundrechte führen kann, wenn Mitgliedstaaten keinen Umsetzungsspielraum besitzen. Eine Doppelgeltung von verschiedenen Grundrechten ist soweit garantiert, wenn diese den Vorrang des EU-Rechts achten.161 Weitergehender Grund-rechtsschutz ist außerhalb des Anwendungsbereichs des Unionsrechts ge-sichert.162 Die Vorschrift ist keine generelle Bestimmung für ein höheres innerstaatliches Schutzniveau, wie es Art. 53 EMRK kennt. Das Wesen der supranationalen Rechtsordnung muss auch durch die Grundrechtecharta bewahrt bleiben.

III. Grundrechtsschutz von Geflüchteten und deren

In document Der Familie (Pldal 54-59)