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Grenzüberschreitung als Wertevertretung in realistischen Ehebruchsromanen

Hans-Georg Gadamer schreibt in seinem Buch Wahrheit und Methode.

Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, „dass Werke, die zur Welt-literatur gehören, sprechend bleiben, obwohl die Welt, zu der sie spre-chen, eine ganz andere ist.“1Aus kommunikationsästhetischer Sicht be-deutet diese Auffassung, dass literarische Texte zu einem „Polysystem“

gehören, dass sie vielerlei Zuordnungen zur Pragmatik erlauben und durch ihre „Polyvalenz“ unter verschiedenen historischen Bedingungen mehrfach gelesen werden können. Konkrete literarische Texte funktio-nieren also als „offene Systeme“, in denen sich der Austausch verschie-dener Diskurse vollzieht.2 Dementsprechend stehen die diskursiven Positionen in literarischen Texten im mehrschichtigen Dialog: einerseits miteinander (in intra- und intertextuellen Positionen), andererseits mit den jeweiligen Rezipienten der Lektüren. Als solche „grenzüberschrei-tenden“ Dialoge betrachte ich auch die komparatistische Interpretation der berühmtesten „Ehebruchsromane“ des europäischen Realismus: den Vergleich von Flauberts Madame Bovary (1857), Tolstojs Anna Karenina (1873–77) und Fontanes Effi Briest(1894–95), mit einbezogen auch den ungarischen Roman Herr Bovary von Zsigmond Móricz (1911).3

Ich versuche die Interpretation nicht aus der Sicht der Frauenfiguren (wie in der Fachliteratur üblich), sondern (eben durch den Titelhelden des ungarischen Werkes inspiriert) konzentriere ich mich auf die Männergestalten (Ehegatten- und Liebhaberfiguren) der Romane. Ich möchte aber die Texte nicht als „Gender“-Diskurse analy-sieren, d. h. ich werde nicht die geschlechtsspezifischen individual- oder sozialpsychologischen Aspekte der Ehebruchsgeschichten interpretieren.

Die „Männer“-Diskurse in diesen Romanen verstehe ich vor allem als Repräsentation solcher kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Positi-onen, die gerade durch ihre traditionelle, institutionell unterstützte Stabilität, durch ihre „Ordnung“ die Ehebruchsversuche der Roman-heldinnen als „Protest“- oder „Flucht“-Reaktionen auslösen. Ich möch-te beweisen, dass die Autoren eben durch die diskursiven Positionen

ihrer Männergestalten den „Ordnung“-Diskurs ihres Zeitalters in Frage stellen: eben durch die Männerfiguren erscheint für uns die von ihnen repräsentierte Ordnung als „Quasi-Ordnung“, als Scheinstabilität. Des-halb können diese realistischen Frauenromane nicht als „Gender“-Diskurse, sondern als „Werte“-Diskurse gelesen werden. Deshalb dürfen die Ehebruchsgeschehnisse der Romane, d. h. die „Grenzüberschrei-tungen“ der Heldinnen nicht bloß als „Sündenfall“-Variationen betrach-tet werden, sondern vielmehr als eine Art von künstlerischer Werte-vertretung: als Stellungnahme der Verfasser gegen den immer stärker werdenden Prozess der Relativierung und des Verlusts des alten, stabilen Wertesystems.

Es ist kein Zufall, dass die großen Ehebruchsromane des 19.

Jahrhunderts nach ihren Frauengestalten Madame Bovary, Anna Karenina und Effi Briest benannt werden. Früher, im 18. Jahrhundert und am Anfang des 19. Jahrhunderts, waren die traditionellen Werte der europäischen Kultur (die platonische Trias des Wahren, Schönen und Guten) entweder als Ideal oder als Fluchtmöglichkeit aus der Realität noch präsent und zu dieser Blütezeit des bürgerlichen Individuums drückten solche berühmten „Männer“-Diskurse wie die des Faust und die des Wilhelm Meister noch die aufklärerische Hoffnung aus:

Hoffnung auf die Realisierbarkeit der Ideale, auf die Erkennungs- und Verbesserungsmöglichkeiten der Realität, auf den Sieg der inneren und äußeren Schönheit in der Welt. Mit der raschen technischen Entwick-lung, mit der Materialisierung der menschlichen Kultur beginnt aber eine neue Periode in der europäischen Zivilisationsgeschichte: Während früher der wissenschaftliche, materielle Fortschritt der menschlichen Kultur diente, tritt jetzt die Technik selbst als Kultur auf – Technik, die ihrem Wesen nach die inneren Werte in Frage stellt.

Furchtbare Wunden werden […] durch die Technik und die Maschine dem Seelenleben des Menschen und vor allem seinem emotionellen Leben, den menschlichen Gefühlen, zugefügt. Das seelisch-emotionelle Element stirbt in unserer Zivilisation ab.4

so fasst der russische Philosoph Nikolaj Berdjajew (1874–1948) die Gefahr der technischen Entwicklung für das Geistesleben zusammen.

Im Namen der gefährdeten Werte tritt aber nicht nur die russische

Literatur auf, in welcher die Angst vor der westlichen Zivilisation im Laufe des ganzen 19. Jahrhunderts häufig als natürliche seelische Reaktion auf die unnatürlich rasche Öffnung Russlands gegenüber Westeuropa durch Zar Peter den Großen artikuliert wird, sondern selbst die westeuropäischen Nationalliteraturen formulieren ihre Skepsis dem

„Fortschrittsfanatismus“5ihres Zeitalters gegenüber. Anstelle der opti-mistischen Aufklärungs-Diskurse erscheinen überall in der Literatur die verschiedenen (philosophischen, psychologischen, moralischen und ästhetischen) Erklärungs- und Verklärungskonzepte des Realismus. Die früheren selbstsicheren „Männer“-Diskurse verwandeln sich allmählich in ihre eigenen Karikaturen, die die Enttäuschung, Skepsis oder Angst ihrer Verfasser ausdrücken – wie die Männer- und Liebhaberfiguren in den Ehebruchsgeschichten von Flaubert, Tolstoj und Fontane. Und die Karikaturen können noch weiter karikiert werden – wie z. B. in der Bovary-Geschichte der halb feudalen und halb bürgerlichen ungarischen Provinz des frühen 20. Jahrhunderts.

Der letzte in der Reihe der von mir gewählten Ehebruchsromane, das Werk von Zsigmond Móricz, erschien 1911 im Verlag der Zeitschrift Nyugat (Abendland) unter dem Titel Az Isten háta mögött (Hinter Gottes Rücken), in einer späteren Auflage (1917) aber unter dem Titel Bováry úr(Herr Bovary). Es gibt mehrere deutschsprachige Überset-zungen des Romans; die letzte Übersetzung (1999), die auch von mir benutzt wird, trägt den Namen Herr Bovary.6

Die Handlung der ungarischen Bovary-Geschichte spielt in einer gottverlassenen, von Ungarn, Slowaken und Juden bewohnten, oberun-garischen Kleinstadt (Ilosva), deren „geistiges Zentrum“7 der unheim-lich schmutzige „Großgasthof“ ist – mit seinen biertrinkenden, klatsch-süchtigen, schrecklich bornierten Stammgästen, unter ihnen auch der Hauptheld des Romans, der Schulmeister Pál Veres. Zum Gasthof füh-ren alle Wege des Städtchens, so auch der Weg vom Haus des Schul-meisters. Das Schulmeisterhaus dient im Roman als ein zweites Handlungszentrum, als Schauplatz der Privatsphäre. Zwischen diesen beiden „stabilen“ Punkten bewegt sich der Schulmeister, hin und zurück, mit erzwungener Selbstsicherheit und Problemlosigkeit, wobei er seine Angst vor Konfrontation mit den wahren Problemen des Lebens zu verbergen, sogar zu vertreiben versucht. Wenn es irgendwel-che Konflikte mit seiner jungen Frau, oder um seine Frau gibt, läuft er

von zu Hause weg und kehrt zurück, wenn alles bereits wieder in

„Ordnung“ ist.8Er sieht, hört, versteht nichts oder will nicht verstehen, was sein Haus, sein Eheleben, seine Ehre gefährdet. Seine noch begeh-renswerte Frau wird von zahlreichen „Verehrern“ umlagert, die übrigens sehr „ordentliche“9Herren sind: ein alter Pastor, ein junger Vikar, das Haupt einer kinderreichen Familie, ein naiver Gymnasiast und der Quasi-Fremde10in dieser Gesellschaft, ein „Weltmann“, der neue Amts-richter der Stadt, der den Schulmeister immer wieder als „Herr Bovary“

tituliert11und gleich am Anfang des Romans die Parallele zieht:

Er dachte an Madame Bovary, an diesen wunderbaren Fall, der sich nie wiederholen wird. So großartige Frauen gibt es in der Kleinstadt nicht...

Um solches Format zu erlangen, braucht man so etwas wie hohe Kultur...

Diese Welt hier, in der wir leben, ist doch bloß noch die Karikatur einer Karikatur... Das ist bereits Gewöhnlichkeit. Die langweilige, simple Gewöhnlichkeit... [...] nichts kann gewöhnlicher sein als ein Ehebruch in dieser Gesellschaft12.

Die Quasi-Überlegenheit seiner Außenseiterposition enthüllt sich aber schnell, wenn der Amtsrichter im Kreis der „Ehebruchskandidaten“ auf-taucht und einen erstrangigen Platz einnimmt. Eben er vergleicht später sehr begeistert die seelischen Qualitäten der Schulmeistersfrau zur

„schlummernden ewigen Melodie“ eines von „ungeschickten Schüler-händen zerschlagenen Klaviers“, das „eine kleine Stimmung schon so nötig hätte“. „Träumerisch und mit etwas Wehmut fühlte er, wie gern er selbst dieses Stimmen übernehmen würde“.13Er erweist sich jedoch als

„ahnungsloser Dilettant“14 ebenso wie die anderen Quasi-Meister oder Quasi-Künstler in der Serie der „Ehebruchsgeschichten“ von Móricz. Es passiert hier nämlich nichts. Alle „Grenzüberschreitungsversuche“ schei-tern an ganz trivialen Hindernissen: Jemand tritt unerwartet ein (zufällig, neugierig oder eifersüchtig), es werden Personen vertauscht, Zeitpunkte verpasst, Situationen missdeutet – wie in einer banalen Komödie.

Der Amtsrichter, der sich nach einem verfehlten „Sündenfall“ vom Haus des Schulmeisters „weit weg wünschte“ und „nach reinen und noblen Empfindungen“, nach „einer harmonischen Umgebung“ mit

„höheren Themen, kultiviertem Geschmack“15 sehnte und deshalb sofort die Notarsfrau besuchte, wurde vom Notar auf frischer Tat

ertappt. Er springt aus dem Fenster und stirbt, die Notarsfrau wird von ihrem Mann umgebracht. Und die Schulmeisterfrau, als sie die Nachricht über dies alles hört, springt auch aus dem Fenster – fast wie in einer echten Tragödie. Sogar die klassische dramaturgische Ordnung ist eingehalten: die Einheit von Zeit, Ort und Handlung. Von der Dienstmagd aber, die im Gasthaus über die Geschehnisse berichtet, erfahren wir in der Schlussszene: „[...] die gnädige Frau [...] ist ganz glücklich gefallen, als ob sie – die Herren verzeihen, [...] als ob sie wär’

gefallen auf Hintern.“16

Allgemeines Lachen bricht aus, auch der Mann, Pál Veres, lächelt – wie immer im Laufe des Romans. Die diskursive Position dieses Lachens und der Lachenden kann aber nicht als eine Art von Katharsis verstanden werden: Katharsis, wie das gesunde Lachen am Ende der klas-sischen Komödien, wo Lachen im Dienst der Wahrheit und Gerechtigkeit steht und den Sieg des Schönen und Guten bezeichnet.

Hier lachen nicht wir, das Publikum; hier wiederholt sich stets das Lachen der Romanfiguren: ein Zeichen der Ausweg- und Rettungs-losigkeit, eine Kreislinie, die in sich geschlossen ist, eine Schlange, die sich in den eigenen Schwanz beißt. Wie der falsche „Goldzahn“ im Mund der Frau während des ganzen Romans als Quasi-Schönheit glänzt, so vertritt für uns der stets lächelnde, nichts verstehende Mann als Quasi-Held einer Quasi-Tragödie oder Quasi-Komödie, als „Herr Bovary“ in dieser „Karikaturgeschichte“, keinen echten Wahrheitswert.

Mit seiner „Schlussrede“ endet oder lieber bleibt der ganze Roman offen:

Na, daß meiner Frau nur nichts passiert ist, das weitere schert mich nicht...

das heißt... Schade um den jungen Mann...’ und er lüftete zum Abschied den Hut. Bei Gott, ich weiß nicht mal seinen Namen. Er hat meinen auch nicht gewußt. Immer hat er mich als Herr Bovari angeredet, obwohl ich ihm mehrmals gesagt habe, daß ich Pál Veres heiße. Was schließlich ein großer Unterschied ist!17

Der Unterschied ist wirklich groß: In den wahren Ehebruchstragödien – im Vergleich zu der ungarischen „Karikatur der Karikatur“ –, wie schon erwähnt, werden nicht die Männer in die Titel gebende Position gestellt. Sie sind nämlich nach der konventionellen Rollenverteilung die

Repräsentanten der herrschenden gesellschaftlichen Ordnung und als solche vertreten sie die Institutionen, die erstarrten, inhalts- und wertlo-sen Formen und nicht mehr die lebendigen Werte des menschlichen Daseins. Aber auch die „Frauen“-Diskurse der Romane dürfen aus ihrem geschichtlichen Kontext nicht heraus gerissen werden. Emma Bovary, Anna Karenina und Effi Briest sind nicht nur Opfer, sie sind auch aktive Teilnehmer ihres Daseins. Infolge der Konventionen aber können sie – als Frauen – ihre eigene Position nicht selbst bestimmen, sie sind in ihren Krisensituationen der Ordnungswelt ausgeliefert, einer scheinbaren Ordnung, die ihren Zusammenbruch nicht verhindern kann. Deshalb können die „Frauen“-Diskurse der Ehebruchsromane im Namen der alten Werte (des Wahren, Schönen und Guten) auftreten, wenn auch die Frauengestalten selbst – als „Grenzüberschreiter“ – bloß potenzielle und nicht mehr echte Werteträger-Positionen vertreten.

Den tragischen Frauenschicksalen der Romane werden von den Autoren die gar nicht so tragisch geschilderten Männerfiguren gegen-übergestellt, wie in Flauberts Roman Charles Bovary, Emmas bornierter Ehemann, der unbegabte, aber strebsame Arzt der französischen Provinz und Emmas nicht weniger „impotente“ Liebhaber: der ver-klemmte Léon, der sich allein in den Phantasiereisen als zuverlässiger Partner erweist und der gerissene Weltmann Rodolphe, der der mit Emma geplanten Südreiseflucht im letzten Augenblick entflieht.

Ahnliche Position nehmen die Männergestalten in Tolstojs Roman ein:

der russische Aristokrat, Alexej Alexandrowitsch Karenin, der mit Annas Worten „kein Mensch, sondern eine boshafte Maschine“18 ist,

„eine Maschine, die dem Ministerium gehört“19 und auch Annas Liebhaber, Wronskij, der ähnlich wie Karenin „jede Unordnung haßte“, der „eine Art Kodex von Grundsätzen besaß, die alles […] genau bestimmten“ – bis auf seine neue Situation mit Anna20 und der als

„Dilettant“ nicht nur in seinen Liebesbeziehungen zu Frauen, sondern auch in seinen Kunstübungen ebenso wie auf der Pferderennbahn trotz alles Bemühens scheitert. Auch der Ehemann von Effi Briest, Baron von Innstetten in Fontanes Roman, wird „ein Mann von Grundsätzen“21 genannt, nach dessen Meinung alles im Leben von einem „Gesellschafts-Etwas“ abhängt. „Und dagegen – wie er erklärt – zu verstoßen geht nicht; die Gesellschaft verachtet uns, und zuletzt tun wir es selbst und können es nicht aushalten und jagen uns die Kugel durch den Kopf“.22

Er tötet aber nicht sich selbst. Effis Ehebruchspartner, Major Crampas, – der ebenso in der Welt von „Zucht und Ordnung“23lebt und dem

„Naturkind“24Effi zur echten Flucht aus der Ordnungswelt nicht ver-helfen kann –, wird am Ende des Romans eben von Innstetten im Duell getötet – im Namen derselben Normen, in deren Namen auch Effi in der Isoliertheit des Elternhauses stirbt, im Namen einer solchen Ordnung, an deren Wahrheit selbst Innstetten nicht mehr glaubt: „[…]

jenes, […] uns tyrannisierende Gesellschafts-Etwas, das fragt nicht nach Charme und nicht nach Liebe und nicht nach Verjährung. Ich habe keine Wahl. Ich muß.“25

Während Flauberts Roman nach dem Frauentitel der Heldin Madame Bovary benannt worden ist und die Aufmerksamkeit mit diesem signifikanten Element der individual- und sozialpsychologischen Diskurse des Textes auf die Identifikationsstörungen einer hypersensib-len Frau in der von Männern dominierten, von leblosen Konventionen

„entnervten“ und „abgestumpften“26 Gesellschaft gelenkt wird, verfügt Anna Karenina als Anna Karenina in Tolstojs gleichnamigem Roman über eine potenzielle Vollständigkeit. Ihre Suche nach Harmonie schei-tert aber an der Disharmonie ihrer „von Sorgen, Betrug, Kummer und Bösem erfüllten“27 Existenz und ihre ganze „grenzüberschreitende“

Geschichte endet auf dem Bahnsteig, wo alles begann, unter den „gußei-sernen Rädern des langsam dahinrollenden ersten Wagens“.28Im dritten Roman, in Fontanes Effi Briest, stirbt die Frau als Effi Briest, wie sie gebo-ren ist, nicht als Frau von Innstetten. Nach ihrem Wunsch steht ihr Mädchenname auf ihrem Grabstein im Garten des Elternhauses – viel-leicht als Zeichen eines letzten „Grenzüberschreitungsversuchs“, ihre Identität zu finden. Das unreife „Naturkind“, ein Quasi-Naturkind eigentlich, – Effi war nämlich unvorbereitet, aber auf eigenen Wunsch aus ihrem Mädchenspiel ausgerissen –, ist bis zum Tod ein

„Fehlprodukt“ der Ordnung geblieben, eine unreife Frau und eine unrei-fe Mutter. Die gesellschaftlich tradierten Rollenspiele können ihr die echten, erlebten Werte des Lebens nicht ersetzen.

In diesen ganz unterschiedlichen, tragischen Geschichten protestie-ren die Hauptheldinnen der Romane gegen die unpersönliche, entleer-te Ordnung ihrer Umgebung mit dem Ehebruch. Jede Frau auf eigene Art, aber was allen gemeinsam ist: um den Preis ihres Lebens. Allein die Schulmeistersfrau im Roman von Móricz lebt am Ende der Geschichte

weiter, sie ist aber bloß eine Quasi-Ehebrecherin, ihren Namen kennen wir gar nicht, und sie ist keine Titelheldin. Der Titel des ungarischen Romans lautet nicht zufällig Herr Bovary.

Zusammenfassend können wir behaupten: Obwohl die großen Ehebruchsromane des europäischen Realismus auch die mentalitätsge-schichtlichen Traditionen ihrer Nationalkulturen widerspiegeln29, versuch-ten wir jetzt mit einer „grenzüberschreiversuch-tenden“ Analyse der Frauen- und Männer-Diskurse der Ehebruchsthematik die Wertevorstellungen der Verfasser zu interpretieren. Das Gemeinsame der drei Repräsentanten des europäischen Romans ist: sie empfehlen uns nicht die Wege der institutio-nalisierten Moral und Ästhetik, sondern die Wahrheit des natürlichen und lebendigen Schönen und Guten. Von verschiedenen geschichtlichen Umständen wird aber bedingt, wie Flauberts ästhetisierender Sensualismus, Tolstojs Moralphilosophie und Fontanes Skepsis gegenüber der „eisernen Ordnung“ von den späteren Epochen „gelesen“ werden. Die ungarische Bovary-Geschichte von Zsigmond Móricz erscheint als eine solche spezifi-sche „Lesart“: eine mit Ironie gewürzte Dokumentation vollständiges Werteverlusts, eine schonungslose Karikatur menschliches Daseins.

Anmerkungen

1Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 2. Aufl. Tübingen: Mohr, 1965, S. 154. – Zitiert nach Corbineau-Hoffmann, Angelika: Einführung in die Komparatistik. Berlin: Erich Schmidt, 2000, S. 24.

2Corbineau-Hoffmann [Anm. 1], S. 32–33.

3Der Roman von Zsigmond Móricz erschien unter dem Titel Az Isten háta mögött [Hinter Gottes Rücken] 1911 im Verlag der Zeitschrift Nyugat [Abendland], und in der Auflage von 1917 unter dem Titel Bováry úr [Herr Bovary]. Es gibt mehrere deutschsprachige Übersetzungen des Romans, z. B.

Hinter Gottes Rücken. Übersetzt von Heinrich Horváth. Berlin: Rowohlt, 1922;

Herr Bovary. Übersetzt von Ruth Futaky. Budapest: Corvina, 1999. (Diese letz-te Übersetzung wird von uns benutzt).

4Berdijajew, Nikolaj: Mensch und Technik. Schriften zur Philosophie.Hg. v. André Sikojev. Mössingen-Talheim, 1989, S. 29. (Hervorhebung im Original).

5Flaubert, Gustave: Madame Bovary. Revidierte Übersetzung aus dem Französischen von Schurig, Arthur. Frankfurt am Main/Leipzig: Insel, 1994, S. 453.

6Móricz [Anm. 5].

7 Mándi-Fazekas, Ildikó: Nachwort zum Roman von Móricz: In: Móricz [Anm.5], S.183.

8Móricz [Anm. 5], S. 55, 171.

9Ebd., S. 171.

10Ebd., S. 110.

11Ebd., S. 83, 91, 116, 179.

12Ebd., S. 16–17.

13Ebd., S. 100–101.

14Ebd., S. 101.

15Ebd., S. 144–145.

16Ebd., S. 179.

17Ebd., S. 179.

18Tolstoj, Leo N.: Anna Karenina. Hg. v. Gisela Drohla. Frankfurt am Main:

Insel, 1966, S. 282–283.

19Ebd., S. 539.

20Ebd., S. 451–456.

21Fontane, Theodor: Effi Briest. Stuttgart: Reclam, 1989, S. 35.

22Ebd.,S. 267–268.

23Ebd., S. 144.

24Ebd., S. 38.

25Ebd., S. 266–268.

26Flaubert, Gustave: Briefe. Hg. und übers. v. Helmut Scheffel. Zürich: Diogenes Verlag, 1977, S. 215.

27Tolstoj [Anm. 20], S. 1131.

28Ebd., S. 1130.

29Siehe ausführlicher in: Harmat, Márta: Eisenbahnen. Zivilisationskritik und Kulturskepsis in „Anna Karenina“ und „Effi Briest“. In: Segebrecht, Wulf (Hg.):

Europavisionen im 19. Jahrhundert: Vorstellungen von Europa in Literatur und Kunst, Geschichte und Philosophie. Würzburg: Ergon, 1999 (Literatura 10), S. 190–198;

Harmat, Márta: „Madame Bovary“, „Anna Karenina“ und „Effi Briest“:

Frauenschicksale im Spiegel der europäischen Kultur- und Mentalitätsgeschichte.

In: Földes, Csaba (Hg.): Auslandsgermanistische Beiträge im Europäischen Jahr der Sprachen.Wien: Edition Praesens, 2002, S. 115–121.

Die Grenzauflösung zwischen Dichtung und Historie