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Gert Jonkes Spiel mit der Kamera und den Nerven der Leser

„Camera obscura, Kamera und Erzähler sind strukturidentisch: Sie sind black boxes, durch die die Ordnung des Abgebildeten begründet wird“1, sagt Bernd Stiegler über die Erzählperspektive der Texte. Danach sollte dem Rezipienten, im Falle der Literatur dem Leser, die Genauigkeit der Übersetzung des Abgebildeten in einen Text garantiert werden. Der im Jahre 1969 erschienene Geometrische Heimatroman des österreichischen Schriftstellers Gert Jonke weist ein ganz anderes Experimentieren mit der Erzählperspektive – und nicht zuletzt mit der Erzähltechnik – auf.

Aber zuerst zu dem „Heimatroman“: schon der Titel Geometrischer Heimatromanerinnert an den Kubismus, an Bildern von einem aus geo-metrischen Formen bestehenden Dorf. Und tatsächlich beginnt der Roman mit der Aussage: „Der Dorfplatz ist viereckig.“2Die Umgebung besteht aus geometrischen Formen, die Bergkette hat die Form der Sinus- und Kosinuskurven, sogar das Land ist in Rechtecke eingeteilt.

Wie in einem Schulbuch oder Lexikon ist der Text durch Zeichnungen3 ergänzt, z. B. ist der Dorfplatz mit seinen rechteckigen oder kreisförmi-gen Häusern mit den Namen der Bewohner beschriftet (unter ihnen ist auch der Name des Autors zu lesen). Darunter steht der Hinweis: „der Dorfplatz ist ein strukturales Muster“.4

Der lehrbuchartige Roman parodiert durch die ganze Erzählung das Klischee des idyllischen Dorfes, dabei wird der mit konventionellen Heimatgeschichten vertraute Leser irritiert. Die eigentümliche Beschrei-bungsmethode, die auch bei Handke bemerkbar ist, verunsichert den Leser mit jedem einzelnen Satz, es wird mit der Erzählungsperspektive gespielt. Die Ausgangsituation der Dorfplatz-Kapitel ist immer die glei-che: zwei Figuren, die nicht näher bestimmt werden, verbergen sich in der Schmiede und beobachten von dort aus den Dorfplatz. Sie wollen immer wieder den Dorfplatz überqueren, aber der eine warnt, der Platz sei nicht leer. Weiters spielen sie keine Rolle, Menschen gibt es im ganzen Roman nur als unpersönliche Schemen, die alltägliche Tätigkeiten verrichten:

Nachbarn, die Besuche abstatten, Kinder, die zur Schule gehen usw. Das Dorf ist ein Modell und die Beziehungen der Menschen eine Funktion dieser Struktur. Die Dinge dominieren über alles. Die Beschreibung gibt nur die Oberfläche der Dinge, nicht ihre Tiefe. Die zwei Personen, die in der Schmiede verborgen sind, funktionieren als eine Kamera (vielleicht die Perspektive des Erzählers), es handelt sich aber um eine betrachtende Erzählperspektive, die Figuren registrieren das Geschehen durch den gan-zen Roman nur als einen visuellen Vorgang, ihr Standpunkt liegt außer-halb der Ereignisse. Die Erzählperspektive ändert sich gelegentlich, wenn z. B. vom Lehrer berichtet wird, der den Kindern das Dorf beschreibt.

Es werden einfache Grundverhältnisse, Selbstverständlichkeiten wiedergegeben, wie Wasserschöpfen aus dem Dorfbrunnen, das Fegen des Dorfplatzes, Aufkleben von Plakaten, aber all diese einfachen Vorgänge werden unnatürlich minuziös beschrieben und durch ständige Wiederholungen verfremdet. Dieses Verfahren dient zur Desorientierung des Lesers, Jonke selbst äußert sich dazu in einem Interview:

Manche Sachen scheinen so unverständlich, weil sie so deutlich sind. Je näher man etwas ans Auge hält, desto verschwommener wird es. Das ist viel-fach eine Technik – aber eine sehr reizvolle Technik, deren ich mich manch-mal bediene, weil so die Dinge ganz anders anschaulich werden […] In die-sem, „Geometrischen Heimatroman“ z. B. ist es halt so, dass die Dinge immer ganz nah angeschaut werden, durch eine minuziöse Genauigkeit.

Obwohl sie viel realistischer werden, werden sie plötzlich völlig unwirklich, weil alles nah vor Augen ist und zu verschwimmen scheint.5

Bei Musil finden wir ein ähnliches Verfahren: in seinem Triëdere betrachtet er die Welt durch ein Fernrohr, die sich dadurch verändert und eine Veränderung der Wahrnehmung verursacht. Jonke hat den ganzen Roman in dieser verfremdenden Perspektive geschrieben. Es gibt nur die aus der Nähe beschriebene und dadurch verzerrte Welt, in der alle Vorgänge mit der Zeitlupe fotografiert werden. Nach Stiegler habe der Leser die Aufgabe, die verschiedenen Perspektiven zu verbinden, um eine Logik des Blicks zu entwerfen.6 Diese Methode scheint bei den Texten von Jonke nicht zu funktionieren, die verfremdenden Perspek-tiven verwirren die Orientierung des Lesers.

Jonke verwendet noch eine Beschreibungstechnik um den Leser zu verunsichern und sein Wirklichkeitsbewusstsein zu erschüttern. Er be-richtet über eine Geschichte, aber sie wird auf solche Weise erzählt, dass am Ende der Leser unsicher bleibt, ob sich das Ereignis tatsächlich zuge-tragen hat. Die Details werden so genau beschrieben, dass der Leser ver-gisst, dass hier nur etwas als Möglichkeit angenommen wird. Dann wird alles in umgekehrter Reihenfolge noch einmal erzählt, aber bis zur ersten Möglichkeit alles negiert. Jonkes Meinung darüber: das eben Berichtete sei „fast mit Sicherheit anzunehmen, obwohl im Grunde genommen ansonsten überhaupt nichts mit Sicherheit anzunehmen ist“.7 Diese Methode, durch die eine neue, imaginative Wirklichkeit geschaffen wird, steigert noch die Irritation des Lesers, dessen Nerven wegen der ausführlichen Beschreibungen und ständigen Wiederho-lungen zum Zerreißen gespannt sind.

An einer anderen Stelle schafft Jonke eine Art Doppelbild der Wirklichkeit und geht dadurch fast in eine utopische Dimension hinü-ber, wo man zwischen Wirklichkeit und gespiegelter Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden kann:

In den Glasteilen der Tür kannst du die Spiegelung des Brunnens sehen.

Wenn die Tür langsam geöffnet wird, kannst du sehen, wie das Spiegelbild des Brunnens […] langsam dem Glas entgleitet, es hat den Anschein, als bewege sich das Brunnenspiegelbild in die Mauer des Hauses oder direkt in den hinter der Tür liegenden Raum hinein, aber das ist ein Irrtum dei-nerseits, denn es entflieht lediglich das Glas der Tür dem Spiegelbild, und das Spiegelbild bleibt in der Luft zwischen den Türstockrahmen erhalten, unsichtbar für deine Netzhaut.8

In einem so genannten Intermezzo wird eine Geschichte über den Auf-tritt eines Seiltänzers eingeschoben, die verschiedenen Varianten werden aus wechselnder Perspektive erzählt. Bei einem Drahtseilakt reißt der Ast, an dem das Seil befestigt ist, der Artist stürzt ab und bricht sich das Rückgrat. Zunächst hören wir die Varianten anderer Leute, dann refe-riert der Ich-Erzähler. Der Schluss der Geschichte zeigt mehrere Möglichkeiten auf: Einige bezeugen den tödlichen Unfall, andere mei-nen, dass der Mann im Himmel verschwunden sei. Das Geschehen wird in einem satirischen Ton auch als Pressebericht geschildert.

Im letzten Dorfplatz-Kapitel können die beiden heimlichen Beo-bachter aus der Schmiede endlich ihr Versteck verlassen und über den Dorfplatz gehen. Niemand hat sie bemerkt und sie verschwinden ein-fach. Die Möglichkeit der Handlung bewies sich als sinnlos, der Leser ist enttäuscht. Warum sie sich verbergen mussten, bleibt offen.

Am Ende macht der Schriftsteller den Vorschlag: „das Dorf in wei-ßes oder andersfarbiges Packpapier mit oder ohne Firmeninschrift einzu-wickeln oder durch einem Ellipsoid mit den Ausmaßen eines herkömm-lichen Rugbyballes zusammenzufalten, über eine der Schultern oder durch eine der Achselhöhlen hindurch zehn oder mehr oder weniger Meter hinter den Rücken zu werfen, um in eine andere Landschaft einzubie-gen.“9 So wird das bisher Gesagte zurückgenommen, um einen neuen Horizont öffnen zu können. Der ganze Roman war eine Hypothese, etwas Provisorisches, weil „alles so, wie es beschrieben ist, ja eigentlich auch ganz anders sein könnte“.10

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der experimentelle Charakter des Geometrischen Heimatromansalle bisherigen perspektivisch-räumlichen Ordnungen umwirft. Dadurch wird die Verunsicherung des Lesers und die Destruktion des Wirklichkeitsbewusstseins erzielt.

Anmerkungen

1Stiegler, Bernd: Wechselnde Blicke: Perspektive in Photographie, Film und Literatur. In: Bosse, Heinrich –Renner, Ursula (Hg.). Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Stuttgart: Reclam, 1997, S. 290.

2Jonke, Gert: Geometrischer Heimatroman. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1969, S. 7.

3Siehe dazu die Abbildung am Ende der Arbeit.

4Ebd., S.50.

5Kunne, Andrea: Gespräch mit Gert Jonke. Zit. n.: Dies: Heimat im Roman: Last oder Lust? Transformationen eines Genres in der österreichischen Nachkriegsliteratur.

Amsterdam: Rodopi, 1991, S. 255.

6Stiegler [Anm. 1], S. 293.

7Jonke [Anm. 2], S. 93.

8Ebd., S. 93.

9Jonke [Anm. 2], S.143.

10Kunne [Anm. 5], S. 257.