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Zum Werk von Christoph Ransmayr

In document 35 Budapest 2000 (Pldal 75-95)

Wofür ich Ransmayr sehr schätze, sind [...] seine Sätze. Sie stehen für sich, als wä­

ren sie gegen die Prosa angeschrieben, und sind, was selten ist, so genau gefügt wie Poesie. Es ist diese Substanz der Sätze, welche für mich aus Literatur das macht, was sie sein kann, eine Quintessenz, die über die Rhetorik hinausgeht, als wäre sie aus der Erde gegraben, handgeschöpft wie Papier, in Blei gegossen wie die Buch­

staben, als sie es noch wirklich waren. Es ist die einzig ehrliche A rt des Schreibens;

nicht angemaßt, sondern angemessen.

(Raoul Schrott)

1. Bis zu m Ende d er W elt

Christoph Ransmayr (geb. 1954) zählt mit seiner Schriftkunst unleugbar zu den größten Sprach- und Welterfindern der deutschsprachigen Gegenwarts­

literatur des neuesten Fin de siede. Er sei als österreichischer Romancier zum Erfüllen jenes integrativen Kapitels der Geschichte des europäischen Ro- mans< aufgerufen, in dem die postmodernen Erfahrungen als Metastase

»klassizistischer, besänftigten Redeweisen funktionieren. Mit dem langsamen Recycling des »magischen Realismus< wird die übertriebene und in theoreti­

scher Hinsicht schwer belastete Metanarration des Erzählens im Schriftmodus Ransmayrs zur lesbaren fabula, und in seinem sprachlichen Bildkonzept löst die traditionelle Trennung von >epischem< und >lyrischem< Text als Dichtung sich auf. Die poetische Neuheit und Extravaganz der ransmayrschen Erzähl­

weise ist in einer Disjunktion zu suchen, die, nach einem Übergang strebend zwischen der Dichotomie des »europäischen Romans< (Metanarration bzw.

Entfabularisierung versus Psychogramm) und der Erfahrung des »postmoder­

nen Zustandes< (Destruktion des großen Erzählens), in einer metamorphisier- ten1 Übergangsphase besteht. In dieser sprachlichen Metamorphisierung des Übergangs kommen ständige und immer wiederkehrende Reflexionen erleb­

ter und erfundener Epochenprobleme zum Ausdruck, die vor allem zwischen der Erzählbarkeit über den Fall der europäischen restlichen Kultur und einer Erzählbarkeit, die dieses fortlaufende Untergehen auf gültige Weise für das Ganze in We/fganzheiten verwirklicht, vermitteln. In der Modifizierung der Er­

zählweise (fabularisierte Metanarration), in der Erfindung der Sprache und der Welt durch die Sprache (sprachlich bestehende Episteme), im Recycling

1 Neologismen und Quellennachweise wurden so weit als möglich dem Gutdünken des Verf. anheim gestellt; Anm. d. Hg.

alter und neuer Mythen (hypertextuelle Chronotopoi), erfüllt Ransmayr die noch nicht aufgedeckten und wirklichen Leeren der Welt, die im Mangel be­

wußter und neu kodierter Poetik, und überhaupt: gültiger dichtungsschaffen­

der Kraft, bisher unerzählt blieben. Christoph Ransmayrs erfundene Welten, seien sie an welchem Ende der Welt auch immer: in der Oase Bordj Moktar, auf dem nördlichen Franz-Josefs-Land, in der eisernen Stadt Tomi, in dem versteinerten Moor oder im asiatischen Surabaya, werden aus einem >Unter- weltgang« geschaffen, der in seinen wiederholenden Gesetzmäßigkeiten die langsame Destruierung einer für legitim genannten Weltgeschichte vorberei­

tet, und der gegenüber der jeweilig bestehenden wirklichen Welt eine (un)mögliche Weltgeschichte generiert. Der Übergang zwischen den Welten und ihren Geschichten ist vorsätzlich metamorphisiert, um nicht als seine Pa­

rallele betont werden zu können. In dieser sehbaren Übergangssituation erin­

nert die allgemein-ethische dehumanisierte Bestimmtheit der individuellen Welt an die Mängel einer anderen Welt, die aber an Blindheit leidet. Den (un­

sichtbaren) Mangel der Welt erfüllte Ransmayr binnen zweier Jahrzehnte mit fünf übereinander lesbaren Büchern. 1982: »Strahlender Untergang«, 1984:

»Die Schrecken des Eises und der Finsternis«, 1988: »Die letzte Welt«, 1995:

»Morbus Kitahara«, 1997: »Der Weg nach Surabaya«.

Ransmayrs erstes ß/7dbuch »Strahlender Untergang« vermittelt in vier Text­

varianten das Entwässerungsprojekt einer Neuen Wissenschaft, die das na­

türliche und verlorene Ich von seinem zivilisatorisch-psychisch beladenen Teil durch Verschwinden befreien will, ln der Nähe der O ase Bordj Moktar wird mit wissenschaftlicher Zielrichtung eine Ebene in einem mit einer Aluminium­

wand umschlossenen Terrarium gebaut. Ohne Beobachtung und ohne allen Schutz werden freiwillige Probanden der natürlichen Strahlung der Sonne ausgesetzt. Diese Neue Wissenschaft hat Verzicht geleistet a u f die Verzaube­

rung dieser und a lle r umliegenden Welten in eine unübersehbare Ansam m lung von Gegenständen der Beobachtung, der D efinition, der Nachahm ung, Be­

herrschung und M a n ip ulatio n ; eine Wissenschaft, die sich w ieder dem We­

sentlichen zugew andt hat - der Wüste und dem Verschwinden. Die Theorie des Verschwindens setzt voraus, daß das jeweilige Ich seine Lebensdauer trotz aller wissenschaftlichen Erfolge nur verlängern kann, und das wäre eine einfache Verlangsamung des Verfallsprozesses, weil diese der gesetzmäßi­

gen Natürlichkeit des Seins widerspricht. Die Neue Wissenschaft versichert sich der künstlich-natürlichen Verhältnisse der vollkommenen Verfallsmetho­

de. In den letzten Momenten des rapiden Austrocknens kann sich das origi­

nale Ich - befreit von seinem Bewußtsein - erkennen:

Jetzt bin ich / die bypertone Dehydratation, / ich bin der Anstieg des Hämatokrits, / ich bin die Verkleinerung des Volumens / aller Zellen, / die Verringerung der Sauerstofftransport­

kapazität, / die Konzentration / der Natriumlösungen und des Chlorids, / ich bin / die ra­

send gesteigerte Herzfrequenz, / die Weitstellung aller Gefäße, / die Eindickung des Blutes / und die osmotische Konzenztrationsverschiedenheit/ im Gehirn. / Ich bin / der allesumfassen- de Verlust. / Ich konzentriere mich in allem / und werde weniger.

Die vier Textvarianten - erstens: Bericht eines Lastfahrers über die Gescheh­

nisse; zweitens: Rede eines Projektleiters vor Wissenschaftlern über die Theo­

rie des Verschwindens und über die evolutionäre Geschichte des Herrn der Welt; drittens: Hinweise für die Bauleitung des Terrariums; und viertens: eine Halluzination eines Probanden während des Verschwindens und des Erken- nens des Ich - zerstreuen und fokussieren zu gleicher Zeit die stark gefährdete Dialogizität des Ich und der Welt. Von diesem Gesichtspunkt aus bekommen die folgenden Ransmayr-Geschichten eine programmatische Antwort auf ih­

re zeitlich-räumlichen Weltendzustände, in denen das jeweilige Individuum regelmäßig nur einen Ausweg hat: aus der Welt geschafft worden zu sein.

»Strahlender Untergang« als Text sei eine Einführung in die Problematik.

»Die Schrecken des Eises und der Finsternis« dialogisieren zwischen einer wahren Geschichte (Geschichte der österreich-ungarischen Nord­

pol-Expedition im Jahre 1872-74) und der erfundenen, fiktiven Variation der­

selben Geschichte. Die wirklichkeitsrezipierende Validität der Dokumentatio­

nen (hier: die der Sachverhalte der faktischen Geschichte) wird im Dialog verunsichert. Die Wirklichkeit ist - so im Roman - teilbar, weil die Dokumen­

tation keinen fokussierten Gesichtspunkt hat: zerstreute Erzähleinheiten be­

richten über dasselbe Ereignis. Die einzige und kohrente Erzählung wirkt in ihrer Systemhaftigkeit aber gegen die mehrschichtig dokumentierte Wirklich­

keit. Nach der erzählerischen Erkenntnis kann die Fiktion als ontologischer Fokus der teilbaren Attribute der Wirklichkeit wegen nicht ausgeschlossen werden: Fiktion und Wirklichkeit agieren gemeinsam gegen und für einander in der erfunden-wirklichen Welt. Das Demonstrationsmittel ist Joseph Mazzi- nis Lese- und Lebensstrategie, das sogenannte Gedankenspiel. Dieses, als poetischer Gesichtspunkt von Mazzini, generiert Geschichten, die nach ihrem Maß der Wahrscheinlichkeit überprüfbar sind. Auf die Frage, ob Mazzini die Geschichte der Nordpol-Expedition gelesen oder selbst erfunden hatte, und ob er die Dokumentation als Beweis der >Wirklichkeiterschaffungsfähigkeit<

seines Gedankenspiels nachträglich entdeckt hatte, gibt der Ich-Erzähler kei­

ne klare Antwort. Der Erzähler, der nur als erschaffende Stimme präsent ist, geht den Spuren im Vermächtnis von Mazzini am neuen Fin de siede nach, wie Mazzini dem Abenteuer der Expedition am letzten Fin de siede. So wer­

den eine Lebensgeschichte (die Geschichte Mazzinis als Autor), die Geschich­

te der Nordpol-Expedition auf Grund der Aufzeichnungen von den Teilneh­

mern und der Textsammlung von Mazzini (die Geschichte Mazzinis als Leser) und eine Meta-Geschichte konstruiert, in der die zwei ersten Ebenen als eine Gesamt-Komposition erscheinen. Diese Meta-Geschichte thematisiert das Gedankenspiel als eine erzählerische Poetik, die in der Übergangssituation

von Fiktion und Wirklichkeit wurzelt. Der Erzähler läßt Mazzini, der dem Abenteuer nachfährt und an diesem Ende des Weges aus der Welt geschafft wird, verschwinden, d.h. Mazzini löscht sich aus der referentiellen, äußeren Welt. Mazzini findet seinen Ort und den Ort seiner Geschichte im Packeis oder in der Kristallisation des Inneren. Beides befindet sich in der erfun- den-bestehenden, wirklich-inneren Welt. Im verborgenen Augenblick der Er­

kenntnis (am Ende des Kristallisierungsprozesses des Inneren im Eis) betritt Mazzini ein nur ihm geöffnetes Welt-Bild, das als Übergang zwischen Fiktion und Wirklichkeit funktioniert.

Mazzinis Metamorphisierung setzt einen leeren Platz in seiner Geschichte voraus, der in der Geschichte der Expedition zu finden ist: Ein Seemann wird auf dem Franz-Joseph-Land zurückgelassen, dessen Geschichte unter dem Titel »Ganz bis zum Nordpol« von Mör Jökai am letzten Fin de siede erfunden wurde. Mazzini füllt diesen aufgebotenen leeren Platz (der Wirklichkeit, seiner Fiktion oder des Abenteuerromans von Jökai), er verwandelt sich in die Positi­

on des zurückgelassenen Seemannes (in eine andere Geschichte, die zur Wirklichkeit, zur Fiktion oder zu Jökai gehört, aber letztendlich als Ransmayrs letzte W elt in der Übergangsphase einer >Alten<, schon bekannten und einer

>Neuen<, entdeckt-erfundenen Welt existiert).

Das metamorphische Weltmodell der »Schrecken des Eises und der Finster­

nis« in ihrer grundlegenden Modifikation kann man in der »Letzten Welt« neu lesen. Die »Schrecken des Eises und der Finsternis« verwandeln sich in der

»Letzten Welt« in die Schrecken des Eisens und der Finsternis. Der Weg von Cotta zur inneren Welterschaffung und der Akt der endgültigen Erkenntnis setzen einen anderen Kristallisierungsprozeß in einer neuerschaffenen Raum-Zeit voraus. Die Wiederholung des Grundmodells funktioniert hier als Beschreibung einer wiederholten Reise bis zum jeweiligen Ende der Welt. Die Systemhaftigkeit der zwei Romane kann gebildet werden, wenn wir die Figu­

rationen funktional aufeinander beziehen. Mazzini, der nach seinem G edan­

kenspiel solche Geschichten erfindet, die in der Welt-Ganzheit reale Formen haben, verschwindet hier in der Rolle von Naso, in den Schrecken des Eisens, in Tomi, in der eisernen Stadt. Naso hatte ähnlich wie Mazzini die wahren G e­

schichten der Welt erfunden, und mußte deshalb aus der Welt geschafft wer­

den: Naso erzählte die Welt in seinen M etam orphosen bis zum Ende, er betrat die Geschichte-Ganzheit wie ein geöffnetes Bild. Jetzt ist es Cotta, der gleich­

zeitig als Autor und Leser, in der schon erfundenen Welt, die Naso auch für ihn bis zum Ende erzählte, das für und durch ihn erfundene Bild der Welt er­

kennen muß.

Wie die »Metamorphosen« die ganze Geschichte der Welt enthalten, so wird »Die letzte Welt« die jeweilige letzte Welt von Tomi, Cotta, des Römischen Reiches, der Zeit, des Raumes, der Geschichte, des Autors und des Lesers.

Cotta sucht Naso und seine geheimnisvollen Metam orphoses, wobei die Su­

che ein Nichtfinden ist, da der Ort, an dem er sucht, das wirklich-erfundene Werk selbst ist, die Metam orphoses, die die Ontologie der letzten Welt von ih­

rem Anfang bis zum Ende erzählen. Cotta erlebt in neukodierter, mythischer Verwandlung die Geschichte der allmählichen Erkenntnis, erfüllt die Funktion des letzten Lesers als letzter Autor in der Verwandlung der Zeit, des Raumes, der Geschichte und seiner Figuration. In diesem Zeit-Raum wiederholt und verwandelt sich Cottas äußere Reise in eine innere durch die Zeit, durch die ganze Weltgeschichte vom Anfang der mythischen >Alten< Welt bis zur jeweili­

gen Gegenwart der letzten Welten. In dieser individuellen Zeit des neukristal­

lisierten Inneren (das neukristallisierte Innere heißt hier: das wesentliche Er­

kennen der individuellen Rolle) kann Cotta - oder das jeweilige wahrneh­

mende Individuum - aus den existentiellen Schrecken der äußeren Welt, aus dem Zerfall des Seins befreit werden. Jenseits des Tors, der erfundenen und erkannten Bildsubstanz der Welt löst sich die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit auf. O b Cottas letzter, zweigliedriger Ruf, der die letze Verwand­

lung seiner und der Welt ohne Namen symbolisiert, referentielle Bezüge hat, kann doch beantwortet werden. Nasos, des Autors Weg führt in die Richtung des allmählich emporgehobenen Olympos hinter Tomi - dieser enigmati- schen Richtung folgt Cotta, der Leser und verwandelt sich in Naso, den Autor, und verwandelt so die Metam orphoses in seine Geschichte, in die der »Letzten Welt«. »Die letzte Welt« tritt an die Stelle der verwandelten »Metamorphosen«

von Ovid, wie »Die Schrecken des Eises und der Finsternis« an die Stelle des Romans »Ganz bis zum Nordpol« von Mör Jökai getreten ist, oder wie die nächstletzte Welt »Morbus Kitahara« mit seinem Mitternachtskind Bering an die Stelle der »Mitternachtskinder« - einer Erzählung von Salman Rushdie - treten wird.

Ransmayr schreibt in »Morbus Kitahara« nach seinem oder Mazzinis Ge- dankenspiel die Geschichte der letzten Welten in einem vagen Assoziations­

system weiter. Die europäische Geschichte und traditionelle Kultur als Folie erscheinen hier in einer Dekonzeption. Den globalen Hintergrund der G e­

schehnisse und in diesem Sinne die Kondition der neuerschaffenen Welt bil­

det ein weltweiter Krieg. Der Krieg als ständiger, existenzgefährdeter Zustand relativiert die bestehende Welt und in der Welt die Rest-Möglichkeiten des in­

dividuellen Seins und der menschlichen Verbindungen. Der Roman dialogi­

siert zwischen verschiedenen Teil-Weltkonditionen: zwischen Siegern und Be­

siegten, zwischen der vernichteten und der wiederbelebenden Natur und der Techno-Gesellschaft, zwischen der allmählich verschwindenden Tradition und der zu erobernden Multimedien. Die Oppositionen lösen sich durch die metamorphische Redeweise von Ransmayr unbemerkt auf: es bleibt kein Un­

terschied zwischen Krieg und Frieden, Vergangenheit, Gegenwart und Zu­

kunft, Kämpfer und Opfer, Europa und Brasilien, Moor und Pantano. In die­

sem neukonstruierten Weltzustand verwandelt sich der Anfang ins Ende, das

Ende in den Anfang. Wie die Zeit in der Welt ausgelöscht wird, so verwandelt sich auch der Raum: die verschiedenen Handlungsorte werden übereinander kopiert. In der Ubergangsituation der allmählichen Auslöschung der Traditi­

on, die die lokale Welt des Romans bestimmt (das >Europa<-Bild) und des Raumgewinns der anderen Kultur, die die Welt global neuschreibt (das >Ame- rika<-Bild) stürzt die Ganzheit der Welt ausschließlich auf jenes Individuelle nicht, das Grenzgänger ist, das die Ubergangssituationen erkennt. »Morbus Kitahara« deformiert eine Weltgeschichte, in der Millionen in KZs vernichtet wurden, und andere Millionen auf Kampfplätzen gefallen sind. Die Sieger der neugeschriebenen Historie entscheiden sich für den Rachezug, und so wird die Welt der Besiegten in der Zeit zurückgedrängt. Die drei Hauptfiguren des Romans: Ambras, Bering und Lily werden die Gefangenen einer Historie, die die allmähliche Verdunkelung der Welt beschreibt. Die ständigen Modifika­

tionen des Weltzustandes verunmöglichen die jeweilige Gegenwart, es bleibt in der individuellen Sphäre nur die Sehnsucht nach einer verschwundenen Vergangenheit und nach einer unverwirklichbaren Zukunft: Als die Figuren den Augenblick der Verwirklichung dieser Sehnsüchte erkennen, werden sie wie ihre Vorfahren Mazzini, Naso und Cotta in der Reihe der >Letzten Welten<

mitsamt ihrer Welt aus der Welt geschafft.

Die Komplexität des ransmayrschen Erzählens baut auf eine starke Fiktio- nalisierung der Wirklichkeit, deren Ergebnis die Erfindung eines neuen Über­

gangs zwischen Fiktion und Wirklichkeit ist. Im wiederholten Focus steht im­

mer eine Geschichte aus der globalen Histoire, die aber infolge eines funktionsfähigen Übergangs vom Möglichen gegenüber dem Wahrscheinli­

chen destruiert wird. Die jeweilige Geschichte erzählt eine metamorphisierte Gegenwart, die dem jeweilig bestehenden Zeitraum parallel zuläuft. Den Übergang ins Mögliche dieser Geschichten aktivieren die weißen Flecken der Wirklichkeit. Die fiktionale Geschichte der »Schrecken des Eises und der Fins­

ternis« setzt eine wirkliche Geschichte voraus, in der die Dokumentation die­

ser Geschichte, die beigelegten Bilder und die anderen Textsorten die Wirk­

lichkeit als eine zerstreute, mehrschichtige betonen. Die Fiktion bezeichnet einen gleichrangigen ontologischen Status für diese Romanwelt. In der G e ­ schichte der »Letzten Welt« wird der weiße Fleck der Wirklichkeit (der Grund der Verbannung von Ovid aus Rom nach Tomi) mit einer Erfindung des Er­

zähler ausgelöscht, der seine Erzählung aus verschiedenen autorisierten Er­

zählungen, Erinnerungen, Dokumenten, Träumen und Deutungen in eine an­

dere Ganzheit metamorphisiert.

Inwiefern diese Erfüllung wirkungsvoll ist, zeigt die große Zahl altphilologi­

scher Aufsätze, die die Erfindung von Ransmayr überprüfen, weiterdenken, kontrollieren oder korrigieren wollen. Die Geschichte des »Morbus Kitahara«

und seine totale Welt-Ganzheit schweben am leichtesten zwischen wahrer und möglicher Wirklichkeit. Diese Geschichte konnte die schrecklichsten Ak­

tualisierungen wie statt Stunde Null und Marshall-Plan Stunde Minus und ver­

wirklichter Morgenthau-Plan hervorrufen. Dieser weiße Fleck der Wirklichkeit braucht die stärkste Defiktionalisierung. Weil die Fiktion nicht wahr ist und den Erfahrungen gar nicht entsprechen kann - unlogische Umschreibungen in der Anwesenheit des Übergangs wird der Anspruch erweckt, einen siche­

ren und gleichzeitig übertriebenen Übergang zwischen der eigenen letzten und der jeweilig bestehenden, letzten Welt finden zu können, in dessen Über­

gang aber die poetischen Oppositionen in ihrer aufgelösten Ganzheit nicht mehr schweben.

Ransmayrs fiktive Weltwirklichkeiten sind als Maß der Wirklichkeit doch überprüfbar. Diese Texte (kleine Prosa und Reportagen) trugen aber zu den fiktiven Welterfindungen nicht als weiße Flecken der empirisch wirklichen Welt bei. O b Ransmayr in seinen Reportagen vom Bau der Staumauer von Kaprun erzählt, von Häftlingskolonnen und Zwangsarbeit inmitten österrei­

chischer Idyllen, von einer Wallfahrt zur letzten Kaiserin Europas und dem mühsamen Leben auf den Halligen des Nordfriesischen Wattenmeers - oder ob er den Leser seiner kleinen Prosa in das Labyrinth von Knossos versetzt, auf die Ladefläche eines Lastwagen in Ostjava oder in die erloschene Pracht der indischen Ruinenstadt Fatehpur: stets verbindet er die scheinbare Leich­

tigkeit seines Erzählens mit einem wachen Blick für die Gegenwart und einer seltenen sprachlichen Perfektion. Da die Wirklichkeit infolge ihrer unfüllbaren weißen Flecken bis zur Unendlichkeit teilbar und trennbar ist, verwandelt sich in der ransmayrschen Sprachkunst das untrennbare und unteilbare Erzählen selbst in eine ganze, aber immer letzte Welt. Die Texte der Sammlung »Der Weg nach Surabaya« sind scharfe Exempel für die Funktionsfähigkeit des un­

trennbaren und unteilbaren Erzählens.

2. D ie M e ta m o rp h is a tio n als S tru ktu r in »M orbus K ita h a ra «

Die Metamorphose kann als Grundprinzip der Romanstrukturen von Rans­

mayr betrachtet werden, aber nicht im Sinne einer simplen Wiederholung der Ovidschen »Metamorphosen«. Das strukturierende Grundprinzip verwandel­

te kohärent schon die zerstreute Struktur des ersten Romans »Die Schrecken des Eises und der Finsternis«. Als thematisches Element ist >metamorphosis<

auf natürliche Weise in der Sprache und Bildlichkeit der »Letzten Welt« er­

schienen. Der ovidsche Ruf »Keinem bleibt seine Gestalt« setzt aber weiterhin eine mögliche Metamorphisation des Prätextes voraus, obwohl jener gegen die ständigen Veränderungsprozesse genau den statischen Zustand definiert.

Cotta als Leser der Metam orphoses braucht also nicht Nasos schon fertigge­

schriebenes Buch aufzufinden, er muß Nasos Werk in sein Werk verwandeln, und dadurch auch die Welt und Naso und sich selbst. Oder: Es müssen sich

verwandeln: das Werk, Naso, die Welt, Cotta selbst, damit alles erklärt wer­

den kann. Die Metamorphisation und die Erklärung von Ovid und seines Werks baut auf den Rollenaustausch des Autors und des Lesers. Das Werk M eiam orphoses beginnt zu verwandeln und verwandelt sich in das Werk »Die letzte Welt«, weil in der poetischen Welterfindung von Ransmayr buchstäblich keinem seine Gestalt bleibt. »Die letzte Welt« schreibt sich über die »Metamor­

phosen«, und mit dieser Modifizierung wird eine neue unendliche Geschichte

phosen«, und mit dieser Modifizierung wird eine neue unendliche Geschichte

In document 35 Budapest 2000 (Pldal 75-95)