Harte Bandagen. Vorläufige Anmerkungen zu Elfriede Jelineks »Ein Sportstück«
Ich konnte nicht wissen, von welcher der beiden Seiten die Rufe kamen.
Ich wußte nicht, wer sie waren.
A u f ihre Namen achtete ich nicht und trachtete nicht, sie zu erfahren Elias Canetti
Das »Sportstück« hat längst begonnen, wenn es beginnt. Es tobt und spricht, bevor es sich an die Rampe begibt. Gleich der erste Satz verspottet das land
läufige Pathos des Anfangens. »Endlich Ruhe« sagt Elfi Elektra, der es übertra
gen ist, das Stück zu eröffnen. Ein »Endlich Rede« hätte man sich erwartet.
Stattdessen ein Jelinekscher Schlußsatz, ein Einsatz, der ein abruptes Ende zu bezeichnen scheint. Man erinnere sich des letzten Satzes des Romans »Lust«, welcher lautete: »Und nun rastet eine Weile«.
Doch werden solche Sätze in der beginnlosen Logosphäre der Jelinek- schen Texte immer nur falsche Versprechungen geben. Gleichgültig, ob am Anfang oder am Ende: in jedem Fall ist dieser Satz ein tragikomischer Selbst
betrug. Ruhe ist nirgends. Denn der Sprecherin, die ihren Monolog mit einem Stoßseufzer beginnt, ist weder Atem- noch Ohrenpause gegönnt. Ihre Worte stehen in Widerspruch zu der schrillen Geräuschkulisse, die das Stück von An
fang an umfangen hält. Sinnlos erklingen sie inmitten des Krachs. Denn die mit Vorbehalt gegebenen Regieanweisungen vernichten alle Hoffnung, daß der allgegenwärtige Lärm sportlicher Ereignisse jemals verebben könnte.
»Endlich Ruhe« sagt Elfi Elektra aufatmend, während zwei feindliche und nur durch ein Fanggitter getrennte Fangemeinden und Feindmengen lauthals ge
geneinanderdrängen, eine erregte Doppelmasse, in deren doppeltem Auf
schrei Triumph und Niederlage unentscheidbar verschmelzen und deren auf- und abschwellender Ton im Hintergrund des »Sportstück« immer hörbar bleibt. Schon diese charakteristische »akustische Maske« verweist darauf, daß im folgenden Prozesse der Massenbildung behandelt werden. Nicht zum letzten Mal im »Sportstück« stellen sich Beziehungen zu Elias Canettis Buch »Masse und Macht« her, in diesem besonderen Fall aber auch zu jenen
1 Elias Canetti: Werke. Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921-1931. München: Hanser 1980, S. 240
Kapiteln aus Canettis autobiographischer »Fackel im Ohr«, die einer be
stimmten Tonspur nachgehen: dem Doppelgebrüll aus dem Hütteldorfer Sta
dion in Wien.2
Aber auch sonst herrscht auf der Bühne und im Text großes Wortaufkom
men. Soviel die Figuren auch reden - so müssen sie sich dennoch gegen den invasiven Strom einer anderen Rede behaupten. Die eigentlichen Ereignisse des »Sportstückes« geschehen nicht auf der Bühne und unter der Beteiligung sogenannter Dramenfiguren. Sie geschehen auch nicht im Zuge einer soge
nannten Handlung - denn, so heißt es gleich vorweg - , Handlung »gibt es eh keine«.3 Beliebige Sportereignisse haben ihre Stelle eingenommen, die von einem beliebigen Sportprogramm übertragen und von ausgewählten Sport
botschaftern berichtet werden. Über Kopfhörer sind sie mit dem Kanal ver
bunden, dessen unaufhörlicher Ereignis-, Informations- und Datenstrom al
les Gesagte unterspült und dessen Spitzenmeldungen in eine Handlung hineingetragen werden, die ohnehin keine ist. Das Sportereignis drängt sich jederzeit dazwischen, ihm ist die Machtbefugnis gegeben, die Dar- und Vor
stellung zu unterbrechen, bzw. zu kolonisieren. Mit einem »Wir schalten um«
ist, wie auch sonst bei Elfriede Jelinek, jederzeit zu rechnen, »Leuchtschriften«
werden die theatralische Bildfläche des »Sportstück« jederzeit überschreiben4, die aktuelle Sportmeldung das Existenzrecht des Stücks in Frage stellen. Das
»Match aus der Ferne«5 (Canetti) kann jederzeit auf das »Match aus der N ä he« übergreifen. Die alte Mauerschau aus dem klassischen Drama ist zur Sportschau geworden. Diese Zwischenreden der Sportwelt sind mit den eben
so herkömmlichen wie statischen Begriffen der Montage/Collage nicht mehr zu fassen. So werden nicht etwa die Fertigteile einer vorgeformten Rede in den Text eingebaut. Der Sport liefert mehr als nur ein Spielmaterial, er er
zwingt vielmehr die Synchronisierung zweier Abläufe, der dramatischen Pro
gression mit dem Sportkanal, d.h. einer infiniten Wettkampffolge und ihren springenden Zahlen.
Daß im Hintergrund des »Sportstück« immer die Zeitmesser laufen, daß die Figurenrede sich letztlich an den despotischen Zeit- und Zählordnungen von Stopuhren und Metronomen, von Exerzier- und Turnmeistern bricht, deutet hier das Ende allen subjektiven theatralischen Sprechens an. Zähl- und Meß
vorgänge begleiten es. Metronomische und autoritäre Skandierungen grun
dieren und organisieren die Rede auch dann, wenn diese ihrem eigenen sub- jektivischen mäandernden Rhythmus zu folgen scheint. Wurde etwa das Stück
»Clara S.« mit dem Ticken eines Metronoms eröffnet, dann prägt sich dem
2 Ebda., S. 239ff.
3 Elfriede Jelinek: ein Sportstück. Reinbek: Rowohlt 1998, S. 7 4 Ebda.
5 Canetti, Fackel im Ohr, S. 240
»Sportstück« das >eins und zwei< und der Sport- und Exerzierplätze ein. Sätze wie: »Knochen krachen, Sehnen reißen, Adern platzen, Bänder überdehnen«6 mögen als Beispiel für die obwaltende diktatorische Zeitordnung dienen. Ein charakteristischer Jelinekscher Kalauer legt nahe, daß moderne Führerschaft mit der Herrschaft über die Zeit verbunden ist: »Die Kirche erledigt so etwas ein für allemal mit Jazzmessen. Der Führer erledigt das mit Zeitmessen.«7 In dem anschließenden Amoklauf durchläuft Jelineks Text alle Dimensionen sportlicher Zeitdiktatur. Das »Achtung, fertig, los«8, das die Sportler in Bewe
gung setzt, ersetzt in Zukunft alle dramatische Exposition. Das Startsignal quantifiziert und simplifiziert die Bedingungen menschlichen Auftretens ein für allemal.
Gleichzeitig mit dem Aussprechen des letzten, unbesetzten Wortes »los!« senkt der Startbe- werter rasch die Fahne, worauf der Stafettenlaut und die Zeitnehmung beginnen. Durch
läuft Ihr Sohn mit seinem Stein das Ziel, wird seine Laufzeit mit zwei Stoppuhren gestoppt.
Haut er noch rasch einen Stein auf einen Schädel, wird die Zeitnehmung so lang unterbro
chen, das ist ein Entgegenkommen vom Veranstalter. Gleichzeitig hat der Bub eine mündli
che Meldung zu machen, welche vom Zielbewerter auf Übereinstimmung mit der schriftli
chen überprüft wird. Sie sollte drei, höchstens fünf Worte umfassen und ungefähr lauten: Da bin ich.9
Dieser Sohn, der statt einer Lebenszeit eine Laufzeit durchläuft, ist zuallererst der Gegenstand einer wörtlich verstandenen Zeitabnahme. Von seiner G e
genwart kann erst die Rede sein, nachdem ihm Zeit entwendet ist und zwei chronometrische Abgleichungen durchgeführt worden sind. Bei seiner An
kunft müssen zwei Stopuhren miteinander verglichen und eine schriftliche mit einer mündlichen Meldung abgestimmt werden. Das »Da bin ich« des Sport
lers ist nichts als ein errechneter Mittelwert, der imaginäre Schnittpunkt zweier Zeitmeldungen, während für die Eigenzeit des Ichs keine Bemessungsgrund
lagen existieren. Er ist außerdem der imaginäre Schnittpunkt einer geschrie
benen und einer gesprochenen Formel. Um zu sagen, daß er da sei, gerät er zwischen Schrift und Stimme, in das Niemandsland zwischen zwei Formen der Repräsentation, um dort für immer verloren zu gehen. Aus den Worten
»Da bin ich« wird kein »ich bin« werden. Seine Existenz wird ihm erst im Rah
men einer Zielbewertung verbrieft. Lavierend zwischen Zeitverlust und Zeitab
nahme führt der Sportler das gefährliche Leben einer Zahl, nicht aber einer dramatis personae.
Diese wie alle anderen Reden des »Sportstück« vollziehen über das G esag
te hinaus eine große und umkehrbare Gleichung nach. Sie lautet Sport ist
6 Jelinek, Sportstück, S. 27 1 Ebda., S. 31
8 Ebda.
9 Ebda.
Mord/Mord ist Sport. Diese aggressive Äquivalenzsetzung wird nicht argu
mentiert oder feinsinnig hergeleitet, sie wird unbarmherzig zur Evidenz ge
bracht. Ihr Medium ist die Sprache selbst, die alle ihre Mittel ins Feld führt, um die Sportlichkeit des Mordes und die Mordlichkeit des Sportes zu erweisen. In unzähligen Metaphern und Kalauern errichtet sie den Echoraum einer stück- übergreifenden Entsprechung. Schon durch die anagrammatische Verwandt
schaft der Worte Fangemeinde und Feindm enge'0 wird der Unterschied zwi
schen Leibesübung und kriegerischer Kampfhandlung getilgt. Die gemeinsa
men Lettern buchstabieren ihre Identität.
Angesichts eines solchen medialen Ereignisaufkommens hat das theatrali
sche Ereignis selbst einen fragilen Bestand. Vor dem Hintergrund allseitiger Massenbildungen und einer durch Meßgeräte ausgeübten Zeitdespotie müs
sen die Solisten des Dramas ihre Lage überdenken. Weder Krieg noch Sport gewähren der solistischen Rede Raum. Die Chimärengestalt der Elfi Elektra, die als erste Sportlerin das Wort ergreift, läßt keinen Zweifel daran, daß sie mit ihren beiden Namensteilen, dem mythologischen wie dem autobiogra
phischen, ins Hintertreffen geraten ist:
Endlich Ruhe. Die Flüsse, die das Blut von meinem Vater rot gefärbt hat, sind wieder sauber, oder fängt jetzt gleich ein neuer Krieg mit Mama an? Mir doch egal. Inzwischen zieht längst das Verhalten von Massen meine viel größere Aufmerksamkeit auf sich. So viele Menschen mit persönlichen Tatantrieben und plötzlich, als zerschmetterte der Schlag einer unsichtba
ren Uhr etwas in ihren Schädeln und stellte sie auf eine imaginäre Zeit ein, ticken sie alle im gleichen Takt, ergreifen ihre Sportgeräte Und dreschen aufeinander los [...].”
So muß die Protagonistin der griechischen Tragödie ihre Prämissen überden
ken, als sie sich im modernen Amphitheater wiederfindet. Denn ihr ange
stammtes Metier ist der Einzelkampf im familiären Dreieck: »der Krieg mit Mama«, mit Klytämnestra, die den heimkehrenden Agamemnon in einem tö
tungstechnischen Meister- und »Sportstück« - dem Maschalismos - ermorde
te und dadurch den unversöhnlichen Haß ihrer Tochter auf sich zog. Ihre Kampftechniken erlernte sie unter den Atriden. Ihre Gegner fand sie unter den Blutsverwandten. Ihre Mitspieler trugen Namen und behielten sie für Jahrhunderte. In eine neue Umgebung versetzt, vermerkt sie zuallererst, daß die Zeiten der tragischen Familienfehde, der »persönlichen Tatantriebe« und der mythologischen Eigennamen vorüber sind. Durch die Gleichschaltung von Takt und Rhythmus, durch die Zerschlagung der Eigenzeit der Mitspieler, durch die umfassende Synchronisierung aller Eigenbewegung wird die Sport- und Kampfmasse gebildet. Unter diesen Bedingungen muß sich die antike
10 Ebda., S. 7f.
11 Ebda., S. 8
Heroine in neue dramaturgische Bedingungen einfinden: »Es geht um ein Tö
ten in Haufen«.12 (Elias Canetti) Es geht aber auch darum, daß wir immer
»ein- und dasselbe« sind: »Laufmeter Mensch«. 13
Doch auch die anderen Figuren des »Sportstück« müssen sich mit dem Er
löschen ihrer mythologischen oder sonstigen Signaturen beschäftigen. Nicht von ungefähr agieren die Einzelnen in Gegenwarteines griechischen Chores, eines Chores indessen, der nicht mehr mit der Stimme des Kollektivs, sondern mit der Stimme der sportbesessenen Masse spricht. Während die Helden der griechischen Tragödie dereinst aus dem kollektiven Zusammenhang des Chores heraustraten, während sich die Rede des Einzelnen von der Rede des Chores immer weiter abgrenzte und entfernte, während die Macht des Cho
res in der Geschichte der tragischen Form immer weiter geschwächt wurde, haben sich die Verhältnisse im Massen- und Sportzeitalter längst wieder um
gekehrt. Im »Sportstück« hat er sich das längst verlorene Terrain zurücker
obert. Der alte Chor der Tragödie gewinnt an Masse zurück, was ihm an dis
kursiver Macht verloren ging. So stark sind die in »Sportdressen« gekleideten Mannschaften geworden, daß sie die einzelnen Sprecher in ihre Mitte zurück
zuholen drohen, und umgekehrt: Angesichts der überwältigenden Sportmas
se demonstrieren diese die Hinfälligkeit und Unhaltbarkeit ihrer Position.
»Wovon soll ich solo sprechen, ohne mein bewährtes Team?«M, heißt es. So werden die Trennwände zwischen Figur und Masse durchlässig, der einzelne sinkt in einen übermächtigen Hintergrund ein. Darüberhinaus zeigt das mas
senhafte Wortaufkommen, zeigen die überdehnten Monologe, daß auch die Figurenrede die ihr zugemessenen Redequanten überschreitet. Wortmassen schleifen Grenzen und Kontur der Einzelfigur. Sprechend führt diese ihre ei
gene Auflösung herbei.
Eine einzige Figur wird dem Personal des »Sportstück« entgegengestellt, das mit keiner persönlichen, literarischen oder, mythologischen Geschichte aufwartet und von vornherein jene Undeutlichkeit und Unkenntlichkeit auf
weist, die dem wahren Protagonisten des Massenzeitalters eigen ist. So wird den Figuren zum Training ein sprechender Punch (ingball) zur Verfügung ge
stellt-ein Sportgerät, an dessen Weichteilen weitere Sportgeräte erprobt wer
den: das »Opfer«. Dieses Opfer tritt in Bündelform auf und wird während des Stückes bearbeitet, von einem, von zweien, von einem, vom andren. Ein »un
bestimmter Artikel«'5 insofern, als weder sein Gebrauch noch sein Geschlecht bezeichnet werden und dessen fehlende Form seine weitere Deformierung er
leichtert. Zu beliebiger Nutzung freigegeben, Schlägern und Tretern gleicher
12 Elias Canetti: Werke. Masse und Macht. München: Hanser 1960, S. 77 13 Jelinek, Sportstück, S. 88.
' 4 Ebda., S. 122 ,5 Ebda., S. 162
maßen offeriert, sind seine bestimmten Eigenschaften ohne jedes Interesse, wie denn auch seine vermutliche Menschenähnlichkeit unter einem Tuch ver
borgen bleibt.
Das Bündel wird blutig. In der Folge führt es aber, während es herumgeschleudert wird, normale Tätigkeiten aus [...], d.h. Fetzen davon, so lange man es läßt, es räumt auf, richtet etwas, liest, alltägliche Dinge eben, das Bündel versucht auch fernzusehen etc. Es darf sich nur vorübergehend irritieren lassen, das Menschenbündel, immer wieder dazwischen muß es ganz normal agieren.’6
So nimmt es teil am Perpetuum mobile des »Sportstück«, an seiner Unerbitt
lichkeit, an dem gnadenlosen Immerzu, das es vorantreibt und in eine
»schlechte Unendlichkeit« hineinverlängert. Das Opfer ist eines jener erprob
ten und regenerationsfähigen Jelinekschen Dummies, die sich mit unerbittli
cher Höflichkeit den Schlägern, Mördern, Herrschern anbieten und deren At
tacken in immerwährender Heiterkeit entgegennehmen. Anstatt zu klagen, meldet es sich eifrig zu Wort. Sein unbeirrtes Spiel wird durch ebenjene totale Anästhesie ermöglicht, die die Jelinekschen Figuren in der Regel schmerzun
empfindlich macht. Ihre Leiden tragen sie mit einer Leichtigkeit, die sie den unverwüstlichen Figuren der Comicstrips ähnlich werden läßt. Geläufig spricht das Opfer des »Sportstück« von den ihm zugefügten Verletzungen, stets hat es ein soziologisches Modell bei der Hand, um die verabreichte G e
walt allgemeinverständlich zu machen. Während es sich windet, doziert es aus gesellschaftswissenschaftlichen Broschüren, wobei es sich jederzeit bereit findet, gegen andere Schwache zu agitieren. Die Sprachfläche löst sich dabei vollständig von dem mißhandelten Körper ab. Die Fischsprünge des geschla
genen Opfers und seine versierte Rede gehören jeweils verschiedenen O rd
nungen an. So ist der Schmerzensschrei, der als das authentische Zeichen des Körpers im Schmerz gilt und das Versagen der Rede vor der Grausamkeit an
zeigt, in der Gewaltszenerie des »Sportstück« nicht zu hören. Ebensowenig bildet lautmalerisches Silbenspektakel das Leiden des Opfers ab, wie in der griechischen Tragödie, etwa in Sophokles' »Philoktet«, dessen Schmerzens- laute p a p a i p a p a i p a p a i und apa papa apa papa apa papa von Peter von Matt als die Initialen einer Literaturgeschichte des Schmerzes beschrieben worden sind.17 Für den authentischen Ausdruck des Leidens ist in Jelineks Tex
ten kein Raum. Auch die Opfer sprechen nur die Tätersprache, zumindest aber die der Komplizen.
Diese Schmerzunempfindlichkeit der Jelinekschen Sprecher erklärt sich je
doch aus einem anderen und in den dramatischen Texten Elfriede Jelineks
16 Ebda., S. 16
17 Vgl. Peter v. Matt: Der Schrei in der Dichtung. In: Ders.: Die verdächtige Pracht. Über Dichterund Gedichte. München: Hanser 1998, S. 305-320
immer mehr in den Vordergrund tretenden Grund. Jene, die sprechen, sind tot und nur deshalb im Spiel, weil sie längst »aus dem Spiel« sind. Der Ab
schied von der lebendigen Rede, der situationsgeborenen, handlungsorien
tierten, beseelten, belebten Rede im Dienst eines Ausdrucks wird soweit ge
trieben, das Sprechen erlangt eine solche artifizielle Autonomie, daß es in den Mündern von Leichen am besten aufgehoben ist. Die Figurenrede des
»Sportstück« wie aller anderen Stücke Elfriede Jelineks auch ist Totenrede und eignet jenen, die bereits tausend Tode gestorben sind. Sämtliche Sprecher sprechen explicite-implicite jenen Satz aus, der seit Edgar Allan Poe als der unmögliche Satz schlechthin gilt: »Ich bin tot«.18 Ihre Rede folgt der Prämisse:
»So ist es mir passiert, daß ich jetzt tot bin«. Die eigenen Todesarten, ihr eige
nes Totsein beziehen sie stets in ihre Betrachtungen ein. Ihre beharrliche Rede trotzt und nährt sich aus der Verwesung des Körpers. Sei es, daß der Chor
»den Zerfall [seiner] eigenen Menschenmasse erleben mußte«19 sei daß sich die Frau ein neues schwarzes Samtkleid für die Rue Morgue erwerben möch
te20, sei es, daß sie wie Andy aus der Tiefe des Grabes kommen - immer spre
chen sie aus posthumer Perspektive über sich selbst - wiewohl mit unbeschä
digter konservierter Stimme. Hektor und Achilles sind ihre Tode gestorben, und die namenlose Frau gehört schon deshalb nicht den Lebenden an, weil ihre Rede aus den Versfragmenten der kleistischen Penthesilea gebildet ist: In ihrer Rede zerstückelt und recyclet sie die Rede einer Toten, deren spektakulä
ren Selbstmord sie zu ihrem eigenen macht. »Die Haltestelle befindet sich in der Schlacht, nein, in dem Schacht, den ich mir in meine eigene Brust gegra
ben habe, um mich anschließend hineinzustürzen.«21, so spricht sie in enger Anlehnung an den Schlußmonolog der Kleistischen Penthesilea. Längst hat sie sich beseitigt, wenn sie zu sprechen beginnt. »Es würde mir schon gefallen, mich warm in den Alltag einzubetten, aber noch lieber begebe ich mich in ei
nen ständigen, keineswegs heimlichen Krieg gegen alles, was da lebt. Mein einziger Grund: weil so vieles eben, mich eingeschlossen, nicht mehr lebt.«22 Am eigenen Leib erfährt sie, daß das Zitieren von Texten immer ein Reden mit toten Zungen ist. Aber auch als Erscheinung gehört die Frau dem Kreis der Je- linekschen Zerstückelten zu. Eine Regieanweisung gibt an, daß sich die na
menlose Amazone die abgeschnittenen Brüste wie einen Rucksack auf den Rücken geschnallt hat. Als hätten sich Heinrich von Kleist und die amerikani
sche Künstlerin Cindy Sherman in einer gemeinsamen Penthesilea-Installati
18 Edgar Allan Poe: The Facts in the Case of Mr.Valdemar. In: Ders.: Tales of Mystery and Imagination. London 1975, S. 280-289, hier S. 287
1 Jelinek, Sportstück, S. 29 20 Ebda., S. 24
21 Ebda., S. 107 22 Ebda., S. 112
on versucht, wird der Körper dieser Frau aus Fragmenten zu einer neuen, doch falschen Körpereinheit zusammengesetzt. Als ein Mischkörper gleicht sie nun ihrer eigenen posthumen Rede. Wenn die Brust abgeschnitten und wie ein Buckel an den Rücken geheftet wird, verliert der Freudsche Begriff des Partialobjekts alle seine erotischen Valeurs.
Unter diesen Auspizien zitiert das »Sportstück« alte familiäre Handlungs
und Konfliktstrukturen aus Literatur, Mythologie und Tageszeitung ironisch herbei. Die toten Sprecher breiten noch einmal Schicksal und Herkunft aus, als seien es ihre eigenen. Literarische, allegorische und mythologische Figu
ren aus einer versunkenen dramatischen und epischen Figurenwelt: Elektra, Achill, Hektor, Die Frau, Die alte Frau, bringen auf diese Weise die Fertigteile ihrer Biographie ins Spiel. Insbesondere Sohnes- und Mutterfiguren fordern Redezeit ein, um die Beziehung zwischen Mütterlichkeit und Sportlichkeit un
ter dem Gesichtspunkt des Todes darzulegen. Vom Ende her umkreisen sie ihre Existenzbedingungen, und aufs neue wird klar, daß diese Toten kein Le
ben hinter sich haben. Nicht nur vollziehen sie die stückumgreifende G lei
chung von Sport und Mord - ihr zentrales Thema führt sie auch sonst immer wieder aus dem Leben heraus. So richtet sich ihr vordringliches Interesse auf die vergebliche Zeugung von Kunstkörpern, d.h. von sportlichen Kampfma
schinen, die die Beziehungen von Müttern und Söhnen bis ins innerste Offizie
ren. Gemeinsam laborieren sie am Problem eines gespaltenen bzw. doppel
ten Ursprungs. Die Konkurrenz zwischen dem natürlichen, d.h. über den Mutterleib abgewickelten Geburtsvorgang alten Stils mit dem großen techno
ten Ursprungs. Die Konkurrenz zwischen dem natürlichen, d.h. über den Mutterleib abgewickelten Geburtsvorgang alten Stils mit dem großen techno